Michael schwieg.
Gross lächelte. »Oparin hin oder her«, sagte er leise, »glauben Sie denn wirklich nicht an Gott?«
»Wahrscheinlich bin ich Agnostiker geworden.«
»Was ist das?«
»Einer, der nicht sicher ist, ob es Gott gibt oder nicht.«
»Nein, nein, dann sagen Sie lieber, Sie sind ein Atheist. Denn wie kann ein Mensch je sicher sein, daß es Gott gibt? Nach Ihrer Definition wären wir alle Agnostiker. Glauben Sie denn, ich habe wissenschaftliche Beweise für die Existenz Gottes? Kann ich zurückgehen zum Anfang der Zeit und hören, wie Gott zu Isaak spricht oder die Gebote gibt? Wenn das möglich wäre, dann gäbe es nur eine Religion auf Erden; wir wüßten genau, welche die richtige ist.
Nun ist der Mensch aber so beschaffen, daß er Partei ergreifen muß.
Ein Mensch muß sich entscheiden. Ober Gott wissen wir nichts -
Sie nicht und ich nicht. Aber ich habe mich für Gott entschieden.
Sie haben sich gegen Ihn entschieden.«
»Ich habe mich überhaupt nicht entschieden«, sagte Michael eigensinnig. »Deshalb komme ich ja zu Ihnen. Ich möchte mit Ihnen studieren.«
Rabbi Gross strich mit der Hand über den Bücherstoß auf seinem Tisch. »Da drinnen sind viele große Gedanken enthalten«, sagte er.
»Aber sie geben Ihnen keine Antwort auf Ihre Frage. Sie können Ihnen nicht helfen, Ihre Entscheidung zu finden. Zuerst müssen Sie sich entscheiden. Dann können wir studieren.« »Gleichgültig, wie ich mich entscheide? Nehmen wir einmal an, ich entscheide mich dafür, Gott für ein Märchen zu halten, für eine bobe-majsse?«
»Ganz gleichgültig, wie Sie sich entscheiden.«
Draußen auf dem dunklen Korridor wandte sich Michael nochmals um und sah zurück nach der geschlossenen Tür der schul.
Gottverdammter Kerl, dachte er. Dann lächelte er trotz allem über das Wort, das ihm in den Sinn gekommen war.
Michaels Schwester Ruthie verwandelte sich in jener Zeit so gründlich, daß es ihm nicht länger möglich war, mit ihr zu streiten.
Ihr nächtliches, vom Kissen gedämpftes Weinen wurde zu einem gewohnten Geräusch, fast nicht mehr bemerkt, wie das Summen des Eiskastenmotors. Die Eltern versuchten es mit allen möglichen Angeboten - von Schiurlauben, die sie finanzierten, über psychiatrische Hilfe bis zu, gutaussehenden Söhnen und Neffen von Freunden -, aber das alles half nichts. Schließlich schickte Abe Kind einen Scheck und einen langen Brief nach Tikveh le'Machar, Palästina, und sechs Wochen später betrat Saul Moreh die Werbetextabteilung des Columbia Broadcasting System, mit dem Effekt, daß Ruthie aufsprang, einen Schrei ausstieß und allen Ernstes ohnmächtig wurde. Zur Enttäuschung der Familie stellte sich heraus, daß Saul für sie durchaus ein Fremder war; er war kleiner, als sie ihn sich nach den Bildern vorgestellt hatten, und wirkte sehr britisch mit seiner Briar-Pfeife, seinem Tweedanzug, seinem Akzent und seinen Diplomen von der Londoner Universität.
Aber mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihn und konnten ihn ganz gut leiden. Ruth erwachte aus ihrer Lethargie und blühte auf. Schon am zweiten Tag nach Sauls Ankunft in New York teilten sie der Familie mit, daß sie heiraten wollten. Es kam für sie nicht in Frage, in den Vereinigten Staaten zu bleiben. Deutsche Juden, die die Flucht bewerkstelligen konnten, fanden ihren Weg nach Palästina.
Ein Zionist dürfe erez-jissro'ejl jetzt nicht im Stich lassen, sagte Saul; in drei Wochen würden sie in den kibbuz in der Wüste zurückkehren.
»Eine typisch amerikanische Aufstiegs-Story«, sagte Abe. »Ich arbeite schwer mein Leben lang, ich spare mein Geld, und in meinen mittleren Jahren kaufe ich meiner Tochter einen Bauern.«
Er überließ ihnen die Entscheidung zwischen einer großen Hochzeit oder einer chupe im Familienkreis und dreitausend Dollar als Basis für ihren Hausstand in Palästina. Saul wies das Geld mit sichtbarer Genugtuung zurück. »Was wir brauchen, werden wir vom kibbuz bekommen. Was wir haben, wird dem kibbuz gehören. Also bitte, behalte deine Dollar.« Er hätte die chupe einer formellen Zeremonie vorgezogen, aber Ruthie setzte ihren Willen durch und ließ ihren Vater eine Hochzeit im Waldorf bestellen, im kleinen Kreis, aber hochelegant: ein letztes Schwelgen im Luxus. Der Spaß kostete zweitausendvierhundert Dollar, und Saul fand sich schließlich bereit, die verbleibenden sechshundert für den kibbuz anzunehmen.
Sie wurden zum Grundstock eines umfänglicheren Kapitals, aus Hochzeitsgeschenken stammend, die entweder gleich in Form von Bargeld eintrafen oder nachträglich eingetauscht wurden; denn schließlich sind nur wenige Gschenke brauchbar für ein junges Ehepaar, das im Begriff steht, sein gemeinsames Leben in einer Gemeinschaftssiedlung in der Wüste zu beginnen. Michael schenkte Ruth einen altmodischen Nachttopf und vermehrte den Kibbuz-Fonds um zwanzig Dollar. Bei der Hochzeitsfeier trank er zuviel Champagner und tanzte intensiv mit Mimi Steinmetz, ein Bein zwischen ihre Schenkel schiebend, so daß auf ihren hohen Backenknochen rote Flecken erschienen und ihre Katzenaugen zu funkeln begannen.
Rabbi Joshua Greenberg von der Sons of Jacob-Synagoge zelebrierte die Trauung. Er war ein magerer, gutgekleideter Mann mit wohlgepflegtem Bart, seidenweichem Predigtton und einem R, das er in Augenblicken der Erregung eindrucksvoll rollen ließ, zum Beispiel bei seiner Frage an Ruthie, ob sie willens sei, ihren Gatten zu lieben, zu ehr-r-ren und ihm zu gehorchen. Während der Feierlichkeit entdeckte Michael plötzlich, daß er Rabbi Greenberg mit Rabbi Max Gross verglich. Beide waren orthodoxe Geistliche, aber damit war die Ähnlichkeit auch zu Ende, und das Ausmaß der Unterschiede war nahezu komisch. Rabbi Greenberg stand im Genuß eines Jahresgehalts von dreizehntausend Dollar. Sein Gottesdienst wurde von gutgekleideten Männern aus der Mittelschicht besucht, die, wenn es an der Zeit war, eine Spende für die schul zu geben, zwar murrten, aber zahlten. Er fuhr einen viertürigen Plymouth, den er alle zwei Jahre für einen neuen Wagen in Zahlung gab. Im Sommer verbrachte er mit seiner Frau und ihrer dicken Tochter drei Wochen in einer koscheren Pension in den Catskills und beglich jeweils einen Teil seiner Rechnung durch die Abhaltung von schabat-Gottesdiensten. Wenn er Gäste zu sich lud -
er bewohnte ein Apartment in einem neuen Genossenschaftshaus in Queens -, war der Tisch blütenweiß und mit echtem Silber gedeckt.
Seien wir ehrlich, dachte Michael, während der Rabbi zuerst Ruthie, dann Saul den hochzeitlichen Wein reichte: verglichen mit Rabbi Greenberg ist Rabbi Gross ein Schnorrer.
Und dann zerklirrte das Glas, in ein Tuch gehüllt, damit keine Scherben umherspritzen konnten, unter Sauls rustikalem Absatz, und Ruthie küßte den Fremden, und die Hochzeitsgäste drängten herzu: masel-tow!
Hitler, der inzwischen begonnen hatte, Michaels Volk auszurotten, ruinierte nebenbei auch Michaels Sexualleben. Die Hutindustrie stellte sich auf die Erzeugung von Militärkappen für Armee und Marine um, die Gewerkschaft schloß die Kommunisten aus und stellte keine Streikposten mehr auf, und so fuhr auch Farley nicht mehr nach Danbury, und Edna lud Michael nie wieder in ihre Wohnung ein.
Schließlich, an einem kalten Freitagmorgen, begleitete Michael die beiden auf ihre Bitte zur City Hall - als ihr Trauzeuge. Er schenkte ihnen eine Silbertasse, die über seine Verhältnisse ging, und legte eine Karte bei, auf der zu lesen stand: »Dich gekannt zu haben, war eine der wichtigsten Erfahrungen meines Lebens«. Farley zog die buschigen Brauen hoch und sagte, Michael müsse sie bald zum Dinner besuchen.
Edna errötete und runzelte die Stirn und drückte die Tasse an ihren Busen. Von da an sah Michael die Farleys kaum mehr, auch nicht in der Mensa. Schließlich wurde die Episode in Ednas Bett für ihn wie eine Geschichte, die er irgendwo gelesen hatte, und er war wieder unberührt, ruhelos und voll Verlangen.