»Nun.« Er wählte zwei Bücher aus den vielen auf seinem Tisch, eine g'mara und Raschis Kommentar zum Pentateuch. »Jetzt können wir anfangen«, sagte er freundlich.
Fünf Monate lang hielt Michael sein Keuschheitsgelübde. Dann besuchte er mit Maury eine bar-mizwe in Hartford - die bar-mizwe des Sohnes der Schwester von Maurys Schwager - und lernte dort die Schwester des Konfirmanden kennen, ein schlankes, schwarzhaariges Mädchen mit durchsichtiger weißer Haut und schöngeformten, leicht vibrierenden Nasenflügeln. Sie tanzten miteinander, und Michael merkte, daß ihr Haar süß und sauber roch, wie frisch gewaschene Wäsche, die in der Sonne trocknet. Zu zweit verließen sie das Haus und fuhren in Maurys Plymouth ein Stück weit über Wilbur Cross Parkway und dann eine Landstraße hinaus. Michael parkte unter einem riesigen Kastanienbaum, dessen unterste Äste das Wagendach berührten, und sie küßten einander lange, bevor es ohne Vorsatz oder Plan geschah.
Nachher, bei einer gemeinsamen Zigarette, erzählte er ihr, daß er ein sich selbst gegebenes Versprechen gebrochen hatte, das Versprechen, dies nie mehr zu tun, außer mit einem Mädchen, das er liebte. Er hatte erwartet, daß sie lachen werde, aber anscheinend fand sie die Sache eher traurig. »Ist das dein Ernst?« fragte sie. »Wirklich?«
»Wirklich. Und ich liebe dich nicht. Wie sollte ich auch?« fügte er eilig hinzu. »Schließlich kenne ich dich kaum.«
»Ich liebe dich auch nicht. Aber ich mag dich sehr«, sagte sie. »Reicht das nicht?«
Sie fanden beide, dies sei wenigstens das zweitbeste.
In diesem Sommer, dem Sommer nach seinem ersten Universitätsjahr, arbeitete er als Hilfskraft in einem Laboratorium auf dem Campus, wusch Retorten und Eprouvetten, reinigte und verwahrte Mikroskope und bereitete das Material für Experimente vor, deren Zweck und deren Resultate er nie erfuhr. Mindestens dreimal in der Woche studierte er mit Rabbi Gross. Abe fragte ihn eifrig aus, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. »Na, was hört sich vom Einstein?«
Aus Michaels Antworten sprach nur allzu deutlich seine geringe Begeisterung, seine enttäuschte Interesselosigkeit gegenüber der Physik und den Naturwissenschaften im allgemeinen. Manchmal hatte er dabei auch das Gefühl, daß sein Vater ihm etwas sagen wolle, doch Abe hörte jedesmal auf, noch ehe er begonnen hatte, und Michael drängte ihn nicht. Schließlich fuhren sie auf Abes Anregung an einem Sonntagmorgen zwei Wochen vor Beginn des neuen Semesters nach Sheepshead Bay, mieteten dort ein Boot und kauften eine Schuhschachtel voll schon ziemlich verrottet aussehender Meer-Ringelwürmer. Michael ruderte so weit hinaus, wie es seinem Vater nötig schien, dann warfen sie ihre Köder aus, an denen die Flundern nicht einmal knabberten - was Abes Wunsch, zu reden, durchaus entgegenkam.
»Und was wird nächstes Jahr um die Zeit sein?«
Michael öffnete zwei Flaschen Bier und reichte die eine seinem Vater. Das Bier war nicht sehr kalt, und der Schaum quoll über. »Was soll schon sein, Pop - und mit wem?«
»Mit dir natürlich, mit wem sonst.« Er sah Michael an. »Jetzt studierst du drei Jahre lang Physik, lernst genau, wie alles zusammengesetzt ist aus kleinen Teilen, die du nicht sehen kannst. Du wirst noch ein Jahr studieren. Aber du magst es nicht, das merk ich.« Er nahm einen Schluck Bier. »Stimmt's? Oder stimmt's nicht?«
»Stimmt.«
»Also, was wird sein? Medizin? Jus? Du hast die Zeugnisse dazu -
und den Kopf. Und ich hab Geld genug, um einen Doktor oder einen Anwalt aus dir zu machen. Du kannst dir's aussuchen.« »Nein, Pop.« Die Leine in seinen Händen spannte sich unter den verzweifelten Befreiungsversuchen eines Fisches, der angebissen hatte, und Michael holte sie Länge um Länge ein, froh darüber, daß er etwas zu tun hatte.
»Michael, du bist inzwischen älter geworden. Vielleicht verstehst du gewisse Dinge jetzt besser. Hast du mir vergeben?«
Zum Teufel damit, dachte er wütend. »Was denn?«
»Du weißt ganz genau, wovon ich rede. Von dem Mädchen.« Michael wollte wegschauen, aber da war nichts als das Wasser, das die Sonne widerspiegelte und seinen Augen weh tat. »Denk nicht mehr daran.
Es hilft doch niemandem, solche Dinge wieder auszugraben.«
»Nein. Ich muß eine Antwort haben. Hast du mir vergeben?«
»Ich hab dir vergeben. Und jetzt - gib Ruh.«
»Hör zu. Hör mir zu.« Erleichterung klang aus der Stimme seines Vaters, Erregung und aufsteigende Hoffnung. »Das zeigt doch, wie nah wir beide einander wirklich sind, daß wir imstand waren, auch so etwas zu überstehen. Schau - wir haben ein Geschäft in der Familie, von dem wir immer gut gelebt haben. Ein wirklich gutes Geschäft.«
An der Angel hing ein Fisch von Tellergröße. Er schlug um sich, als Michael ihn ins Boot holte; aus der umgestürzten Bierflasche ergoß sich schaumige Flüssigkeit über Michaels Leinenschuhe.
»Früher einmal hab ich geglaubt, ich könnte es selbst schaffen«, sagte Abe. »Aber ich bin noch aus der alten Schule, ich kenn mich im großen Geschäft nicht aus. Ich muß das zugeben. Aber du - du könntest für ein Jahr nach Harvard gehen, Betriebswirtschaft studieren, dann kommst du zurück mit all den neuen Methoden, und Kind Foundations könnte führend in der Branche werden. Davon hab ich immer geträumt.«
Michael setzte den Fuß im bierdurchnäßten Leinenschuh auf die flache, braungesprenkelte Flunder, um sie am Hin- und Herschlagen zu hindern, und spürte ihr aufgeregtes Zucken durch die dünne Gummisohle. Der Angelhaken war tief eingedrungen. Der Fisch lag mit seiner weißen, blinden Seite nach unten, die zwei schwarzen Glotzaugen sahen Michael an, noch glänzend und nicht erstarrt.
»Es tut mir leid, Pop«, sagte Michael schnell, »bitte, hör auf.«
Vorsichtig versuchte er, den Fisch von der Angel zu lösen, hoffte, es möge nicht weh tun, und spürte doch, wie der Widerhaken am Fleisch riß, als er ihn herauszog.»Ich will Rabbiner werden«, sagte er.
Der Emanuel-Tempel in Miami Beach war ein großes Ziegelbauwerk mit weißen Säulen und breiten weißen Marmorstufen davor. Im Laufe der Jahre waren die Kristalle im Marmor von den Füßen vieler Gläubiger so blank poliert worden, daß die Stufen nun im starken Licht der Sonne von Florida glänzten. Drinnen im Tempelgebäude gab es eine beinahe geräuschlose Klimaanlage, der Gottesdienst wurde in einem Raum mit fast endlos erscheinenden Reihen roter Plüschsessel abgehalten, es gab einen schalldichten Tanzsaal, eine komplette Küche, eine nicht komplette Judaica-Bibliothek und auch für den Hilfsrabbiner ein kleines, aber teppichbelegtes Büro.
Michael saß unglücklich hinter dem polierten Schreibtisch, der nur um weniges kleiner war als jener in dem größeren Büro am anderen Ende des Flurs, wo Rabbi Joshua L. Flagerman residierte. Unmutig blickte er auf, als das Telephon läutete. »Hallo?«
»Kann ich den Rabbi sprechen?«
»Rabbi Flagerman?« Er zögerte einen Augenblick. »Er ist nicht hier«, sagte er schließlich und gab dem Frager die Privatnummer des Rabbi. Der Mann dankte und legte ab.
Seit drei Wochen war Michael nun auf diesem Posten - gerade lange genug, um sich davon zu überzeugen, daß es ein Fehler gewesen war, Rabbiner zu werden. Die fünf Jahre Studium am Jewish Institute of Religion hatten ihn in die Irre geführt. An der Rabbinatsschule war er ein blendender Student gewesen. »Ein Edelstein unter dem Schotter der Reformierten«, hatte Max Gross einmal bitter bemerkt.
Gross machte kein Hehl daraus, daß er Michaels Entschluß, Rabbiner bei den Reformierten zu werden, als Verrat empfand. Ihre geistige Beziehung blieb zwar bestehen, wurde aber nie so innig, wie sie hätte werden können, hätte Michael sich der Orthodoxie zugewandt. Dem Jüngeren fiel es schwer, seine Wahl zu erklären. Er wußte nur, daß die Welt sich schnell veränderte, und Reform schien ihm der beste Weg, diese Veränderungen zu bewältigen.