Ihr Vater war ein wohlhabender Fleischkonservenfabrikant mit eigenen Herden in den Viehzuchtgebieten rund um St. Petersburg. Sie war sehr braungebrannt, trug weiße Shorts mit einer rückenfreien, ärmellosen Bluse und fuhr einen langgestreckten blauen Wagen mit offenem Dach.
Sie sah Michael aus großen Augen an und stellte Fragen über die Bibel, die er ernsthaft beantwortete, obgleich er wußte, daß sie sich über ihn lustig machte. Während er seine Besuche absolvierte, wartete sie geduldig im Wagen, parkte, wenn irgend möglich, im Schatten, aß halb zerschmolzene Schokolade und las ein Groschenheft, dessen Umschlag sexy aussah. Als er fertig war, fuhren sie schweigend zum Tempel zurück. Er betrachtete sie, während sie den Wagen langsam durch die von Menschen wimmelnden Straßen lenkte.
Überall gab es Uniformen. Miami war voll von Veteranen aus Übersee, die in den berühmten Strandhotels stationiert waren, der Ruhe pflegten und auf ihre Entlassung warteten. Sie füllten die Straßen, einzeln, in Gruppen oder in lockeren Zweierreihen, unterwegs zu einem Kurs oder ins Kino.
»Aus dem Weg, Bande«, murrte das Mädchen. Sie wechselte den Gang, stieg aufs Gas und zwang drei Air-Force-Männer, eilig zur Seite zu springen.
»Vorsicht«, sagte Michael sanft verweisend. »Die haben nicht den Krieg heil überstanden, damit sie jetzt von einem Rabbiner auf Gemeindebesuchen über den Haufen gefahren werden.« »Die tun doch nichts anderes, als in der Sonne liegen und pfeifen und blöde Bemerkungen darüber machen, daß sie einen eben im Kino gesehen haben.« Das Mädchen lachte. »Ich habe einen Freund bei der Navy, wissen Sie. Im vorigen Monat war er zu Hause. Der hat nie was anderes getragen als Zivil. Wir haben diese Kerle verrückt gemacht.«
»Wie?«
Sie musterte ihn mit schmal gewordenen Augen. Plötzlich schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein; sie bremste und beugte sich über ihn, um irgend etwas im Handschuhfach zu suchen. Als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie eine halbvolle Ginflasche in der Hand. Etwa zehn Meter von ihnen entfernt bewegte sich eine Zweierreihe von Männern, deren einige das Infanterie-Kampfabzeichen trugen, langsam unter der heißen Sonne. Sie blickten auf, als das Mädchen schrill pfiff. Ehe Michael noch wußte, wie ihm geschah, hatte sie einen Arm um seine Schultern gelegt, während ihre Hand aufreizend die Flasche schwenkte.
»Er ist prima! « rief sie spöttisch zu den marschierenden Männern hinüber. Dann küßte sie Michael auf die Stirn.
Sie gab so heftig Gas, daß Michael in seinen Sitz zurückgeworfen wurde, als der Wagen heulend anzog. Immerhin war ihm die wilde Fahrt noch lieber als die Szene von vorhin. Die Marschlinie der Soldaten hatte sich plötzlich aufgelöst. Einige von ihnen liefen dem blauen Wagen fast bis zur nächsten Straßenecke nach. Das Mädchen schüttelte sich vor Lachen und tat, als höre sie nicht, was die Männer ihr nachriefen.
Michael schwieg, bis sie vor dem Tempel anhielt. »Jetzt sind Sie wohlwütend, ja?«
»Wütend ist nicht ganz das richtige Wort«, sagte er bedachtsam und stieg aus.
»Hey, das ist meine Flasche! «
Er hatte die Flasche aufgehoben, die das Mädchen achtlos unter den Sitz geworfen hatte, hielt sie am Hals.
»Die können Sie sich bei mir abholen, sobald Sie einundzwanzig sind.«
Er stieg die Stufen hinauf und trat ins Haus. Das Telephon läutete. Eine Frau verlangte den Rabbiner zu sprechen, und er gab ihr Rabbi Flagermans Privatnummer.
Hinten in seiner Schreibtischlade lag eine Packung Papierbecher. Er goß einen tüchtigen Schuß aus der Flasche des Mädchens, gut drei Finger hoch, trank in einem Zug aus - und stand dann da mit hängenden Schultern und geschlossenen Augen.
Es war warmes Wasser.
Zwei Abende später rief Toby Goodman an und entschuldigte sich.
Er nahm ihre Entschuldigung an, lehnte aber ihr Angebot ab, ihn tags darauf wieder zu fahren. Wenige Minuten später läutete das Telephon von neuem.
»Rabbi?« Die Stimme klang seltsam rauh.
Als Michael Rabbi Flagermans Nummer sagte, kam ein Ton wie das Keuchen eines müden Hundes aus dem Telephon.
Er begann zu lächeln. »Sie glauben doch nicht, daß Sie mich frotzeln können, Toby«, sagte er.
»Ich bin drauf und dran, mich umzubringen.« Es war die Stimme eines Mannes.
»Wo sind Sie?« fragte Michael.
Der Mann nannte eine nur halb verständliche Adresse, Michael bat ihn, sie zu wiederholen. Er kannte die Straße, sie war nur ein paar Häuserblocks vom Tempel entfernt.
»Tun Sie jetzt gar nichts, bitte. Ich komme sofort.« Er lief aus dem Haus, stand auf den Marmorstufen und betete, während er vorbeifahrende Taxis aufzuhalten versuchte. Als er endlich ein leeres gefunden hatte, saß er auf der Kante seines Sitzes und überlegte, was er einem Mann sagen konnte, der Angst hatte, weiterzuleben. Aber als das Taxi hielt, war sein Hirn immer noch leer wie zuvor. Er drückte dem Fahrer einen Schein in die Hand und lief, ohne auf das Wechselgeld zu warten, über einen ausgedörrten, versandeten Rasen auf den Bungalow zu, drei Stufen hinauf zu einer überdachten Veranda.
Auf der Tafel über der Glocke stand: Harry Lefcowitz. Das Tor war offen, der Windfang unversperrt.
»Mr. Lefcowitz?« rief Michael leise. Es kam keine Antwort. Michael trat ein. Im Wohnzimmer roch es nach Fäulnis. Offene Flaschen und halbvolle Biergläser standen auf den Fensterbrettern. In einer Glasschüssel auf dem Tisch verfaulten ein paar Bananen. Die Aschenbecher waren voll mit Zigarrenresten. Ein Armeehemd hing über einer Sessellehne; Sergeantslitzen auf den Ärmeln.
„Mr. Lefcowitz?« Hinter einer der Türen, die aus dem Wohnzimmer führten, hörte Michael ein leises Geräusch. Er öffnete. Ein kleiner, schmächtiger Mann in Khakiunterhosen und Leibchen saß auf dem Bett. Seine Füße waren nackt. Der dünne Schnurrbart verlor sich beinahe in den Bartstoppeln auf dem unrasierten Gesicht. Die Augen waren gerötet und traurig. In der Hand hielt er eine kleine schwarze Pistole.
»Sie kommen von der Polizei«, sagte er.
»Nein. Ich bin der Rabbiner. Sie haben mich angerufen, erinnern Sie sich nicht?«
»Flagerman sind Sie nicht.« Es gab ein lautes Klicken, als der Mann die Pistole entsicherte.
Michael stöhnte innerlich, als ihm klarwurde, daß sich bestätigt hatte, was er ohnedies schon wußte: seine Unfähigkeit als Rabbiner. Er hatte die Polizei nicht verständigt. Er hatte nicht einmal eine Nachricht in seinem Büro zurückgelassen, niemand wußte, wo er zu finden war.
»Ich bin Rabbi Flagermans Assistent. Ich möchte Ihnen helfen.«
Der Pistolenlauf hob sich langsam, bis er direkt auf Michaels Gesicht gerichtet war. Die runde Öffnung an seinem Ende wirkte geradezu obszön. Der Mann spielte mit der Waffe, sicherte und entsicherte sie wieder. »Scher dich zum Teufel«, sagte er.
Michael setzte sich auf das Bett; er zitterte nur ganz wenig. Draußen war es dunkel.
»Und was wäre das schon für eine Lösung, Mr. Lefcowitz?«
Die Augen des Mannes wurden schmal. »Du glaubst, ich werd es schon nicht tun, du Held. Glaubst vielleicht, das macht mir was aus, nach dem, was ich gesehen hab? Ich schieß dich über den Haufen, und dann erschieß ich mich.« Er sah Michael an und lachte. »Du weißt nicht, was ich weiß. Es würde gar keinen Unterschied machen.
Die Welt geht trotzdem weiter.«
Michael neigte sich ihm zu, streckte die Hand aus: es war eine Geste des Mitleids, aber der andere empfand sie als Drohung. Er drückte die Mündung seiner Pistole in Michaels Wange. Der Druck schmerzte.
»Weißt du, woher ich diese Pistole hab? Hab sie einem toten Deutschen abgenommen. Der Kopf war ihm halb weggeschossen.
Ich kann mit dir dasselbe machen.«
Michael sagte nichts. Nach ein paar Minuten nahm der Mann den Pistolenlauf von seiner Wange. Mit den Fingerspitzen fühlte Michael die kleine kreisrunde Vertiefung, die auf seiner Haut zurückgeblieben war.