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Es war noch dunkel, als die Militärpolizei ihn vor dem Tempel aussteigen ließ. Michael entdeckte, daß er das Tor unversperrt gelassen und nicht einmal das Licht ausgeschaltet hatte, und er war froh darüber, daß er zurückgekommen war, anstatt geradenwegs nach Hause zu fahren; Rabbi Flagerman hätte sich wahrscheinlich geärgert. Der Ventilator in seinem Büro lief noch immer auf vollen Touren. Die Nachtluft war frisch, und es war ungemütlich kalt im Zimmer. Er stellte den Ventilator ab.

Dann schlief er an seinem Schreibtisch ein, den Kopf auf die Arme gelegt.

Als ihn das Telephon aufschreckte, zeigte die Uhr auf seinem Schreibtisch acht Uhr fünfundfünfzig. Er fühlte sich zerschlagen, und sein Mund war trocken. Draußen schien die Sonne, warm und golden.

Die Luftfeuchtigkeit machte sich schon unangenehm bemerkbar. Er schaltete die Klimaanlage ein, bevor er den Telephonhörer abhob.

Eine Frau war am Apparat. »Kann ich den Rabbiner sprechen?« fragte sie.

Er unterdrückte ein Gähnen und setzte sich auf. »Welchen Rabbiner?« fragte er.

20

Nicht ganz ein Jahr nach seiner Ankunft in Miami flog Michael nach New York, um Rabbi Joshua Greenberg von der Sons of Jacob-Synagoge bei einer Hochzeit zu assistieren: Mimi Steinmetz wurde einem Wirtschaftsprüfer angetraut, den ihr Vater soeben als Juniorpartner in seine Firma genommen hatte. Als die Jungvermählten einander nach der Zeremonie küßten, spürte Michael plötzlich etwas wie Bedauern und Verlangen - nicht nach diesem Mädchen, sondern nach einer zu ihm gehörenden Frau, nach einem Menschen, den er lieben könnte. Er tanzte den kosazke mit der Braut und trank nachher zuviel Champagner.

Rabbi David Sher, einer seiner ehemaligen Lehrer am Institut, arbeitete jetzt in der Amerikanischen Union Jüdischer Gemeinden. Zwei Tage nach der Hochzeit suchte Michael ihn auf. »Kind! « rief Rabbi Sher und rieb sich die Hände. »Sie sind genau der Mann, den ich brauche. Ich habe einen Posten für Sie.«

»Guter Posten?«

»Lausig. Miserabel.«

Hol's der Teufel, dachte Michael, ich habe Miami gründlich satt. »Ich nehme ihn«, sagte er.

Michael hatte den Wanderprediger für eine Absonderlichkeit aus der protestantischen Vergangenheit gehalten.

»Jüdische Hinterwäldler?« fragte er ungläubig.

»Juden in den Ozarks«, sagte Rabbi Sher. »Sechsundsiebzig Familien in den Bergen von Missouri und Arkansas.«

»Es gibt doch Tempel in Missouri und Arkansas.«

»Ja, im Flachland und in den größeren Gemeinden. Aber nicht in der Gegend, von der ich spreche, im Bergland, wo da und dort ein vereinzelter Jude eine Gemischtwarenhandlung oder ein Fischercamp führt.«

»Sie haben von einem lausigen Posten gesprochen. Das klingt aber doch großartig.«

»Sie haben einen Umkreis von achthundert Kilometern zu bereisen. Nie wird's ein Hotel geben, wenn Sie eines suchen, Sie werden sich mit dem einrichten müssen, was Sie vorfinden. Die meisten von Ihren Gemeindemitgliedern werden Sie mit offenen Armen aufnehmen, aber es wird auch solche geben, die Sie wegschicken, und solche, die sich nicht um Sie kümmern. Sie werden dauernd unterwegs sein.«

»Ein transportabler Rabbiner.«

»Ein rabbinischer Vagabund.« Rabbi Sher nahm einen Ordner aus dem Aktenschrank. »Da ist eine Liste der Dinge, die Sie besorgen müssen; Sie können alles der Union verrechnen. Ein Kombiwagen ist für den Posten vorgesehen. Sie werden einen Schlafsack und sonstige Campingausrüstung brauchen. Und wenn Sie Ihren Wagen kaufen, Rabbi«, sagte er mit breitem Grinsen, »dann sorgen Sie dafür, daß man Ihnen extrastarke Stoßdämpfer einbaut.«

Vier Wochen später war er in den Bergen, nach einer zweitägigen Fahrt über zweitausendfünfhundert Kilometer von Miami herauf. Der Kombi war ein Jahr alt, aber er war ein großer, schwerer grüner Oldsmobile, und Michael hatte ihn mit Stoßdämpfern versehen lassen, die stark genug für einen Tankwagen schienen. Bis jetzt waren Rabbi Shers düstere Prophezeiungen nicht eingetroffen; die Straßen waren gut und nach der Karte leicht zu finden, und es war so warm, daß er weiterhin seine Kleidung aus Florida trug und nichts von dem Winterzeug brauchte, das sich hinten im Wagen türmte. Der erste Name auf Michaels Liste war George Lilienthal, Direktor einer Holzfirma mit der Adresse Spring Hollow, Arkansas. Als er ins Vorgebirge kam und die Steigung der Straße fühlbarer wurde, hob sich auch Michaels Stimmung.

Er fuhr langsam und genoß den Rundblick: verwitterte Gehöfte, Blockhäuser mit silbrig glänzenden Wänden, Holzzäune, da und dort ein Bergwerk oder eine Fabrik.

Um vier Uhr nachmittags begann es leicht zu schneien, und Michael fror. Er hielt an einer Tankstelle - einem Bauernhaus mit zwei Benzinsäulen - und zog im Haus Winterkleidung an, während ein runzliger alter Mann seinen Wagen auftankte. Nach den Informationen, die Michael aus dem Büro der Union mitgebracht hatte, sollte Spring Hollow siebenundzwanzig Kilometer von Harrison entfernt sein, auf einer Sandstraße erreichbar. Aber der Alte, den Michael zur Sicherheit fragte, schüttelte den Kopf.

»Nein. Sie fahren die Zweiundsechzig, nach Rogers biegen Sie ab nach Osten, bis Monte Ne, dann sind's noch ein paar Kilometer.

Schotterstraße. Wenn Sie's nicht finden, müssen Sie eben noch einmal fragen.«

Als Michael hinter Rogers von der Autostraße abbog, war der Schotterbelag der Landstraße unter dem Schnee nur mehr zu ahnen. Der Wind kam in Böen, schüttelte den Kombi und pfiff eisig durch die Fensterspalten. Michael gedachte dankbar der Liste des Rabbi Sher: die dort angegebene Kleidung erwies sich als angemessen. Er trug jetzt schwere Stiefel, Cordhosen, Wollhemd, Pullover, Anorak, Handschuhe und eine Kappe mit Ohrenschützern. Der schwere Schneefall setzte mit Einbruch der Dunkelheit ein. Manchmal, wenn Michael um eine Kurve fuhr, fiel der Lichtkegel seiner Scheinwerfer direkt in schwarze Leere. Er wußte nur zu gut, daß er von Bergfahrten bei Nacht nichts verstand.

Zunächst fuhr er an den Straßenrand und parkte, mit der Absicht, das Unwetter abzuwarten. Aber bald wurde es sehr kalt im Wagen. Er startete den Motor und schaltete die Heizung auf den höchsten Grad, dann aber kamen ihm Bedenken, ob die Lüftung auch ausreichte, ob man ihn nicht am nächsten Morgen steifgefroren im Wagen finden würde. (»Der Motor lief noch, meldet der Polizeibericht.«) Oberdies, so kam ihm in den Sinn, war der geparkte Wagen ein gefährliches Hindernis für jedes Fahrzeug, das plötzlich aus Schnee und Dunkelheit auftauchen konnte. So fuhr er sehr langsam weiter, bis er, am Ende einer Steigung angelangt, in der Ferne ein gelbliches Lichtviereck sah, das, wie sich im Näherkommen erwies, das erleuchtete Fenster eines Bauernhauses war. Er parkte den Wagen unter einem großen Baum und klopfte ans Tor. Der Mann, der ihm öffnete, sah immerhin nicht wie Li'l Abner aus. Er trug Jeans und ein dickes braunes Arbeitshemd. Michael schilderte, in welch übler Lage er sich befand, und der Mann bat ihn ins Haus.

»Jane«, rief er, »da ist einer, der ein Bett für die Nacht braucht.« Die Frau kam langsam in den vorderen Raum. Durch die Tür, die sie hinter sich offenließ, sah Michael den Feuerschein, der durch die Sprünge eines mit Töpfen besetzten Küchenherdes drang. In der Stube war es sehr kalt.

An einem Nagel hing eine Laterne.

»Haben Sie Spielkarten bei sich?« Sie hielt sich die ungeknöpfte Jacke über der Brust zu.

»Nein«, sagte Michael. »Bedaure.«

Ihr Mund war streng. »Sie sind hier in einem guten christlichen Haus.

Karten und Whisky dulde ich nicht.«

»In Ordnung, Ma'am.«

Dann saß er in der Küche an einem wackligen, offensichtlich selbstgefertigten Tisch, und die Frau wärmte ihm ein Stew auf. Es schmeckte ungewohnt und kräftig, aber Michael wagte nicht zu fragen, aus welcher Art Fleisch sie es zubereitet hatte. Nach dem Essen nahm der Mann die Laterne vom Nagel und führte Michael in ein stockfinsteres Hinterzimmer.