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Michael zahlte zum zweitenmal.

Wieder vor Cole's Laden angelangt, parkte er den Wagen und ging hinein. »Gibt's hier ein Münztelephon?«

Es befand sich innen an der Türwand eines Magazins, das nach alten Kartoffeln roch. Er wählte das Amt und gab der Beamtin die Nummer. Obwohl er viel Kleingeld bei sich hatte, reichte es nicht, und er mußte die Dollarnote wechseln, welche ihm Hendrickson aufgedrängt hatte.

Draußen begann es zu schütten; er hörte den Regen auf das Dach trommeln.

»Hallo? Hallo, hier spricht Michael. Nein, gar nichts ist passiert. Ich hatte nur gerade Lust, mit dir zu reden. Wie geht's dir, Mama?«

21

Das Bergland von Arkansas ist von Massachusetts aus auch über ein langes Wochenende nicht erreichbar, während es von Wellesley Campus nach Hartford nur zwei Stunden sind. So kam es, daß Deborah Marcus während ihrer nun schon dreijährigen Freundschaft mit Leslie Rawlings ein halbdutzendmal mit jener nach Connecticut gefahren war. Es war in ihrem vorletzten Semester, auf einer Neujahrsparty in Cambridge. Während Deborah den Mann küßte, den sie liebte, und sich zugleich auf einer anderen Bewußtseinsebene Sorgen darüber machte, ob ihre Eltern wohl mit Mort einverstanden sein würden, kam ihr plötzlich die Idee, Leslie für die Semesterferien nach Mineral Springs einzuladen; sie erwartete sich von der Freundin moralische Unterstützung in dem bevorstehenden Gespräch mit den Eltern.

Fünf Wochen später, an einem Samstagabend, an dem Leslie keine Verabredung hatte, wie eigentlich üblich, war sie allein in dem völlig verlassenen Schlafsaal. Sie trocknete eben in der Duschkabine ihr langes dunkelblondes Haar, als sie bemerkte, daß schon wieder einmal irgend jemand das Klosett verstopft hatte, so daß der Abfluß nicht funktionierte. Über diesen keineswegs seltenen Vorfall ärgerte sie sich so sehr, daß ihr eine Unterbrechung der täglichen Routine plötzlich äußerst wünschenswert erschien. Am nächsten Morgen, während die beiden Mädchen verschlafen in der Sonntagsausgabe des Bostoner Herald blätterten und einander Teile der Zeitung von Bett zu Bett zureichten, teilte Leslie ihrer Zimmergefährtin mit, daß sie mit ihr in die Ozarks fahren werde.

»Wie schön, Leslie! « Deborah rekelte sich, gähnte und lächelte dann strahlend. Sie war ein grobknochiges Mädchen mit etwas zu üppigem Busen, schönem braunem Haar und einem ernsten Gesicht, das häßlich war, solange sie nicht lächelte.

»Wird's eine Passah- feier geben?« fragte Leslie.

»Natürlich, mit allem Drum und Dran. Meine Mutter hat diesmal sogar einen Rabbiner bestellt. Du wirst eine perfekte Jüdin sein, wenn die Ferien vorüber sind.«

Das fehlte mir noch, dachte Leslie. »Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt«, sagte sie und vertiefte sich in die Comics. Mineral Springs trug, wie sich herausstellte, seinen Namen zu Recht: auf einer Bergkuppe sprudelten drei Quellen aus dem Boden, und dort hatte Nathan Marcus, Deborahs Vater, im Anschluß an seinen kleinen Gasthof eine Badeanstalt eingerichtet. Die Heilquellen, deren Wasser nach faulen Eiern und Schwefel rochen und kaum besser schmeckten, sicherten dem Gasthof einen kleinen, aber zuverlässigen Kreis von Stammgästen, zum überwiegenden Teil arthritische jüdische Damen aus den großen Städten des Mittelwestens. Nathan, grauhaarig und gerissen, versicherte seiner städtischen Kundschaft im Brustton der Uberzeugung, das Wasser enthalte Schwefel, Kalk, Eisen und alles mögliche andere und heile sämtliche Leiden von Ischias bis zu Liebestorheiten. Tatsächlich fühlten sich die Damen schon nach einem zehnminutigen Bad beträchtlich erleichtert. Was so schlecht riecht, muß doch einfach gesund sein, sagten sie oft und gern.

»Die Temperatur der Quellen steigt«, sagte Nathan zu dem jungen Rabbiner. Sie saßen in Klappstühlen auf dem Rasen, in Gesellschaft von Deborah und Nathans Frau Sarah. Leslie, mit Jeans und Bluse bekleidet, lag neben ihnen auf einer Decke im Gras und blickte über Wiesen und Wälder, die sich talwärts in Dämmerung verloren.

»Seit wann steigt die Temperatur?« fragte der Rabbiner. Leslie fand, er sehe Henry Fonda ein wenig ähnlich, obwohl er schmaler in den Schultern und überhaupt hagerer war als jener. Überdies hätte er einen Haarschnitt dringend notwendig gehabt. Gestern, bei ihrer ersten Begegnung, als er in Stiefeln und einem zerknitterten Anzug, der augenscheinlich noch nie in einer Putzerei gewesen war, aus seinem schmutzigen Kombiwagen stieg, hatte sie ihn für irgendeinen seltsamen Menschen aus den Bergen gehalten, einen Farmer oder Trapper. Jetzt aber, in einem sauberen Sportanzug, sah er bei weitem annehmbarer, ja sogar interessant aus. Nur seine Haare waren zu lang.

»Seit sechs Jahren steigt sie um ungefähr einen halben Grad im Jahr.

Jetzt steht sie auf siebenunddreißig.«

»Wodurch wird das Wasser eigentlich warm?« fragte Leslie träge, zu den andern aufsehend. Er könnte ein Italiener sein, dachte sie, oder ein Spanier, sogar ein Ire.

»Da gibt es verschiedene Theorien. Es kann sein, daß das Wasser unterirdisch mit Lavagestein oder heißen Gasen in Berührung kommt.

Oder daß es durch eine chemische Reaktion aufgeheizt wird. Oder durch Radioaktivität.«

»Schön wäre es schon, wenn die Temperatur weiter stiege«, sagte Sarah Marcus hoffnungsvoll.

»An wirklich heißen Quellen könnten wir reich werden. Es gibt nichts dergleichen in der ganzen Gegend. Die nächsten sind in der Gegend von Hot Springs, und die gehören dem Staat. Mit heißen Mineralquellen auf unserem Boden könnten wir hier den reinsten Kurort aufziehen. Diese verdammten Weiber wollen doch nur in warmes Wasser steigen, weiß der Teufel, warum. Die Indianer, die Quapaw, haben vor mehr als zweihundert Jahren mit diesen Quellen jede Krankheit behandelt. Angeblich sollen sie in jedem Sommer für ein paar Wochen ihre Zelte hier aufgeschlagen haben.«

»Und was ist schließlich aus ihnen geworden?« fragte seine Tochter unschuldsvoll.

»Größtenteils ausgestorben«, sagte er mit ärgerlichem Blick. »Ich muß die Temperatur messen.« Und damit erhob er sich und ging. Sarah schüttelte sich vor Lachen. »Du sollst deinen Vater nicht so frotzeln«, sagte sie, während sie mit einiger Mühe aufstand. »Die haben uns nicht genug Mazzesmehl geliefert. Wenn wir morgen Mazzesorrieletten essen wollen, dann muß ich jetzt eine Menge Mazzes reiben.«

»Warte, ich helfe dir«, sagte Deborah.

»Aber nein, bleib du nur bei den jungen Leuten. Ich brauche keine Hilfe.«

»Ich möchte mit dir reden.« Deborah erhob sich und zwinkerte Leslie zu. »Auf später.«

Leslie lachte leise vor sich hin, als die beiden gegangen waren. »Die Mutter hätte es gern gesehen, daß Deborah hier bei ihnen bleibt. Ist sie nicht eine gute Ehevermittlerin? Aber Deb ist verlobt, und wahrscheinlich wird sie der Mutter das jetzt erzählen, während sie Mazzesbrösel reiben.«

»Großartig«, sagte er. Er reichte ihr eine Zigarette, nahm selbst eine und griff nach seinem Feuerzeug. »Wer ist der Glückliche?« »Er heißt Mort Beerman, hat Architektur studiert und kommt in ein paar Tagen hierher. Sie werden ihn sicher gern haben.« »Woher wissen Sie das?«

»Er ist wirklich nett. Und er ist Jude. Deb hat mir mehrmals erzählt, daß ihre Eltern sich Sorgen machen und sich schuldbewußt fühlen, weil sie ihre Tochter hier auf dem Land aufwachsen ließen, ohne Kontakt mit jungen jüdischen Männern.« Sie erhob sich von der Decke und rieb sich fröstelnd die Arme. Er zog seine Jacke aus, und sie ließ es zu, daß er sie ihr um die Schultern legte, ohne ihm zu danken. Mit untergeschlagenen Beinen saß sie nun in dem Stuhl neben ihm, in dem zuvor Deborah gesessen hatte. »Es muß schwierig für Sie sein«, sagte Leslie. »Es gibt wohl nicht viele jüdische Mädchen in dieser Gegend.«

Aus der Küche des Gasthofs ertönte ein kurzer Aufschrei, dem ein begeistertes Geschnatter folgte.

»Masel-tow«, sagte Michael, und das Mädchen lachte.