Dave Schoenfeld wurde vor seiner Entlassung noch in den Oberstenrang erhoben und rüstete 1945 ab. Die Armee hatte ihn um seine besten Jahre gebracht. Sein Körper hatte an Spannkraft, sein Schritt an Jugendlichkeit verloren. Sein Haar war schütter und grau und sein Prostataleiden schlimmer geworden, so daß er dauernde Pflege brauchte; die bekam er auch - bezeichnenderweise auf dem Weg über ein Verhältnis mit der attraktivsten Krankenschwester des Stützpunkts.
Zwei Wochen nach seiner Rückkehr ins Zivilleben teilte ihm ein ehemaliger Offizierskamerad mit, das Mädchen habe eine Überdosis Schlafmittel genommen und sei nach einer Magenauspumpung in die Staaten geflogen worden; sie befinde sich im Walter Reed Hospital zur psychiatrischen Beobachtung. Schoenfeld hatte den Brief in den Papierkorb geworfen, zusammen mit einem umfangreichen Bündel unbrauchbarer Bürstenabzüge und Einladungen zu sozialen Ereignissen, an denen er nicht teilzunehmen wünschte.
Cypress war um fast tausend Einwohner gewachsen. Bei seiner Rückkehr besaß die Stadt eine Sägemühle, eine kleine Fabrik, die im Lizenzverfahren Funkgeräte erzeugte, und die Zusage einer mittelgroßen Textilfirma aus Fall River, Massachusetts, demnächst mit Sack, Pack und Webstühlen hierher zu übersiedeln. Und Dave war ein reicher, gutaussehender Junggeselle von achtundvierzig Jahren, der herzlich empfangen wurde von den vielen Frauen, mit denen er in all den Jahren zu tun gehabt hatte, und den vielen Männern, denen sein politischer Einfluß ein oder das andere Mal von Nutzen gewesen war. All das trug dazu bei, daß er sich glücklich fühlte, zu Hause zu sein. Er investierte 119.000 Dollar, um die News und ihre Lohndruckerei von Buchdruck auf Offset umzustellen, ein Verfahren, dessen Vorzüge er beim Militär schätzengelernt hatte. Er änderte den Erscheinungstermin der Zeitung von wöchentlich auf zweimal wöchentlich, um von der zu erwartenden höheren Auflage entsprechend zu profitieren, und stellte einen agilen jungen Mann an, der direkt von der Henry W. Grady School of Journalism kam und den Großteil der redaktionellen Arbeit übernahm; dann zog er sich aus dem Betrieb zurück und widmete sich wieder dem Pokerspiel, zweimal die Woche, mit Richter Boswell, Nance Grant, Sunshine Janes und Sheriff Nate White.
Seit zwanzig Jahren waren diese fünf Männer dem Pokern leidenschaftlich verfallen. Insgesamt kontrollierten sie die Baumwolle, die Erdnüsse, das Gesetz, die Macht und die öffentliche Meinung in Cypress. Ihr stetig sich mehrender Aktienbesitz hatte sie schon längst zu wohlhabenden Männern gemacht.
Sie hießen den heimgekehrten Dave in ihrer Mitte willkommen. »Na, wie hat's dir da droben gefallen in Grön-Land?« fragte der Sheriff, wobei er Grönland betonte, als schriebe man es in zwei Wörtern.
»Es war zum Arschabfrieren«, sagte Dave und mischte die Karten.
Sunshine hob ab. »Genug von dem Eskimo-Kaff, wie? Muß ganz schön nach Lebertran stinken.«
»Meinst du mich?«
Sunshine platzte heraus, und auch die andern grinsten.
»Na, dann wollen wir mal sehen, wie es jetzt mit meinem Glück steht«, sagte Dave und begann zu geben.
Er hatte sehr viel photographiert, und so erhielt er sieben Wochen nach seiner Heimkehr eine Einladung, im Männerverein der Methodisten einen Lichtbildervortrag zu halten. Die Farbdias von den Gletschern und Schneeabstürzen waren ein großer Erfolg, und ebenso seine Geschichten und Anekdoten über das Zusammenleben von Eskimos und amerikanischen Soldaten. Am nächsten Tag rief ihn Ronnie Levitt an und fragte, ob er den Vortrag am Freitagabend anschließend an den oneg schabat in Levitts Wohnung wiederholen wollte. Der Andachtsraum war gedrängt voll mit frommen Juden, die er aber zum Teil nicht kannte, wie er am Freitagabend überrascht feststellte. Trotz Ronnies mangelhafter Stimmführung fielen alle begeistert in die Gesänge ein. Predigt gab es keine, und Daves nachfolgender Vortrag fand höflichen Applaus.
»Wie lang macht ihr das hier schon?« fragte er.
»Oh, schon lang«, sagte Dick Kramer voll Eifer. »Kürzlich erst haben wir Gebetbücher bestellt. Aber Sie sehen ja, was wir am dringendsten brauchen: einen passenden Versammlungsraum und einen ständigen Rabbiner.«
»Eben. Ich habe auch nicht angenommen, daß einzig ein plötzliches Interesse an Eisbären meine Einladung bewirkt hat«, bemerkte Dave trocken.
»Wir sind jetzt schon fünfzig jüdische Familien in der Stadt«, sagte Ronnie. »Wir brauchen eigentlich nur ein kleines Holzhaus, das billig zu haben ist und das wir zweckentsprechend adaptieren können. Der Rabbiner wird schon nicht soviel kosten. Seinen Beitrag kann hier jeder zahlen.«
»Könnte die Gemeinde genug aufbringen, um alles das zu finanzieren?« fragte Dave, der wohl wußte, daß sie alle miteinander dazu nicht imstande waren, denn sonst wäre er ja gar nicht erst geladen worden.
»Wir würden ein paar Geldgeber brauchen, Leute, die genügend auf den Tisch legen können, daß es für die ersten Jahre reicht«, sagte Ronnie. »Ich könnte einen Teil übernehmen. Wenn Sie sich für die andere Hälfte verpflichten, können wir anfangen.« »Wieviel?«
Levitt hob die Schultern. »Fünf- bis zehntausend.«
Dave tat, als denke er scharf nach. »Ich bin da anderer Meinung«, sagte er schließlich. »Mir gefällt diese Art Gottesdienst recht gut, und ich würde gelegentlich auch gern wiederkommen. Aber man soll nichts überstürzen. Warten wir doch lieber, bis die Gemeinde größer geworden ist, so wird sich dann keiner zurückgesetzt fühlen, weil jeder den gleichen Betrag für den Hauskauf und die Anstellung des Rabbiners bezahlt.«
Dicht gedrängt umstanden sie ihn und trugen, wie sie sich nun zögernd zum Gehen wandten, alle den gleichen Ausdruck der baren Enttäuschung auf den Gesichtern.
Samstagabend gewann Schoenfeld hunderteinunddreißig Dollar beim Pokern. »Wie wird sich die neue Fabrik auf unsere Arbeiterschaft auswirken?« fragte er.
»Überhaupt nicht«, sagte der Richter.
»Laßt sie nur noch ein paar Fabriken hier bauen, dann werdet ihr schon sehen, was die Arbeiter mit uns machen«, sagte Dave. Nance Grant biß die Spitze von einer dicken schwarzen Zigarre ab und spuckte sie auf den Boden. »Es kommt sonst keine. Wir lassen gerade so viel herein, daß wir mit den ungelernten Leuten keine Schwierigkeiten haben.«
Schoenfeld wunderte sich. »Seit wann gibt's bei uns Schwierigkeiten?
Und womit?«
Der Richter legte ihm die gepflegte Hand leicht auf den Arm. »Du warst lange auswärts, Daveyboy. Die verdammte Regierung gibt uns allerhand aufzulösen. Wird uns gar nicht schaden, Freunde um uns zu haben, die uns gegen die Sozialisten beistehen.«
»Auch unsere Spesen werden immer höher«, sagte Nance. »Wäre nur recht und billig, sie zu teilen.«
»Was für Spesen?«
»Na, Billy Joe Raye zum Beispiel, der Prediger. Mit Pech und Schwefel und Handauflegen.«
»Ein Gesundbeter?« fragte Schoenfeld. »Warum für so etwas Geld ausgeben?«
Der Sheriff räusperte sich. »Verdammt will ich sein, wenn er die Leute nicht besser für uns auf Vordermann hält als der billigste Schnaps.«
Schoenfeld lehnte einen von Nances Stumpen dankend ab und zog eine Havanna aus der Brusttasche. »Alles schön und gut«, sagte er, während er den Versammelten den Rauch ins Gesicht blies und die Asche länger wurde. »Aber ein Prediger? Das kann doch kein Haus kosten.«
Der Richter sah ihn überlegen an. »Hunderttausend.« Daves Verblüffung brachte alle zum Lachen.
»Das Zelt für seine Meetings kostet einschließlich Klimaanlage beinahe allein schon so viel«, sagte Sunshine. »Und die Sendegebühren. Und das Fernsehen.«
»Dabei zahlen wir ihm ohnehin nur einen Hungerlohn, gemessen an den Einkünften, die er aus seinen Kollekten bezieht«, sagte Nance.
»Und je stärker diese Stadt ihren Ruf als gottesfürchtige Gemeinde ausbaut, desto billiger kommen wir weg.«
»Verdammt noch mal, da gibt es nichts auszubauen«, sagte der Richter. »Das ist eine gottesfürchtige Gemeinde, wenn doch sogar schon die Juden ihre Gebetsmeetings abhalten.« Keiner erwiderte etwas. »Entschuldige, Dave«, sagte er höflich.
»Keine Ursache«, sagte Schoenfeld leichthin.
Aber noch am selben Abend rief er Ronnie Levitt an. »Die Geschichte mit dem Tempel geht mir nicht aus dem Kopf«, sagte er.
»Ich glaube, wir sollten uns noch einmal zusammensetzen und die Sache besprechen, meinen Sie nicht?«
Sie machten ein kleines Gebäude in gutem Zustand ausfindig und kauften es. Dave und Ronnie steckten je fünftausend Dollar in den Kauf des Hauses und der zwei Morgen großen Grundparzelle. Es war vereinbart, daß die jüdische Gemeinde eine Summe aufbringen werde, die für die Renovierungsarbeiten und das Gehalt des Rabbiners reichte.
Zögernd schlug Ronnie Levitt vor, den Tempel Sinai zu nennen.
zögernd stimmte Dave zu. Es wurde kein Einspruch erhoben. »Ich fahre nächsten Monat nach New York zu Besprechungen mit meinen dortigen Zeitungsleuten«, sagte Schoenfeld. »Dabei werde ich sehen, ob ich einen Rabbiner auftreiben kann.«
Vor seiner Reise korrespondierte er mit einem Menschen namens Sher, und in New York rief er dann die Union of American Hebrew Congregations an und lud den Rabbiner für den nächsten Tag zum Mittagessen ein. Erst nach dem Gespräch fiel ihm ein, daß jener als Geistlicher vielleicht nur koscher essen dürfe. Aber als sie im Büro der Union zusammentrafen, machte Rabbi Sher keinerlei diesbezügliche Andeutungen. Unten im Taxi beugte sich Dave zum Fahrer vor und sagte nur: »Voisin.« Er warf einen raschen Blick auf Rabbi Sher, aber dessen Gesicht blieb gelassen.
Im Restaurant bestellte er Hummercrêpes. Der Rabbi bestellte Huhn saute echalote, und Dave erzählte ihm grinsend, daß er sich schon Vorwürfe gemacht hatte, nicht in ein jüdisches Restaurant gegangen zu sein.
»Ich esse alles außer Muscheln und Schnecken«, sagte Sher. »Ist das Vorschrift?«
»Durchaus nicht, eine Sache der Erziehung. Jeder reformierte Rabbiner hält das, wie er will.« Während des Essens sprachen sie über den neuen Tempel.
»Wie hoch würde uns ein eigener Rabbiner kommen?« fragte Schoenfeld.
Rabbi Sher lächelte vor sich hin. Dann nannte er einen Namen, der zwei Dritteln der Juden Amerikas vertraut war. »Für ihn zahlen sie fünfzigtausend im Jahr, oder mehr. Für einen jungen Absolventen der Rabbinerschule sechstausend. Für einen älteren Rabbiner, den man in keiner Gemeinde behalten hat, auch sechs. Und für einen guten mit einigen Jahren Erfahrung auf dem Bukkel vielleicht zehn.«
»Vergessen wir den ersten. Können Sie mir aus Kategorie zwei bis vier ein bis zwei Namen nennen?«
Mit Sorgfalt brach der Rabbiner sein knuspriges Brötchen. »Ich kenne da jemand sehr guten. Er war kurze Zeit Hilfsrabbiner in einer großen Gemeinde in Florida und hat dann eine sehr weit verstreute Gemeinde in Arkansas betreut. Er ist jung, energisch, eine gute Erscheinung und ein gescheiter Mann.«
»Wo ist er jetzt?«
»Hier in New York. Er gibt Kindern Hebräischunterricht.«
Schoenfeld blickte ihn scharf an. »Hauptberuflich?«
»Ja.«
»Wieso?«
»Es ist nicht ganz leicht für ihn, eine Gemeinde zu finden. Vor einigen Monaten hat er ein bekehrtes Christenmädchen geheiratet. «
»Eine Katholikin?« »Ich glaube nicht.« »Diese Heirat wird bei uns keinen Menschen stören«, überlegte Schoenfeld. »Wir Leben mit unseren Christen in recht gutem Einvernehmen. Und solange dem Mann das Wasser bis zum Hals steht, könnten wir ihn doch für siebentausend kriegen - oder meinen Sie nicht?«
Irgend etwas, Schoenfeld wußte keinen Namen dafür, huschte über die Züge des Rabbiners. »Das müssen Sie schon mit ihm selbst ausmachen«, gab Sher höflich zurück.
Schoenfeld brachte ein in Leder gebundenes Notizbuch zum Vorschein und griff nach seiner Feder. »Wie heißt er?«
»Rabbi Michael Kind.«