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Ein Mann in schwarzem Überzieher und eine Frau in grauem Mantel mit Fuchskragen kamen aus dem Verwaltungsgebäude. Leslie hielt ihn auf Grund seiner roten Gesichtsfarbe für einen Trinker, ohne auch nur das geringste über ihn zu wissen. »Das ist offenbar die einzige schneefreie Bank«, sagte die Frau zu ihrem Mann.

»Es ist Platz genug«, sagte Leslie, zur Seite rückend. Der Mann setzte sich ans andere Ende der Bank, die Frau in die Mitte. »Wir besuchen unsere Tochter«, sagte sie. »Eine Überraschung.« Sie musterte Leslie.

»Besuchen Sie auch eines von den Mädchen hier?«

»Nein«, sagte Leslie. »Ich war eben im Museum.« »Wo ist denn das Museum?« fragte der Mann. Sie wies auf das Gebäude.

»Lauter so modernes Zeug?« fragte der Mann. »Arrangements vom Schuttablagerungsplatz und gerahmte Fetzen?«

Noch ehe Leslie antworten konnte, kam ein Mädchen auf sie zugelaufen, ein blühendes dunkelhaariges Ding in Blue jeans und Windjacke. »Was ist los mit euch?« sagte sie und küßte die Frau, die, ebenso wie ihr Mann, aufgestanden war, auf die Wange.

»Wir wollten dich überraschen«, sagte die Frau.

»Das ist euch gelungen.« Sie entfernten sich von der Bank. »Die Sache ist nur die, ich habe Besuch unten im Gasthof, nur bis morgen. Jack Voorsanger, der junge Mann, von dem ich euch geschrieben habe.«

»Hab nie was von einem Jack Voorsanger gehört«, sagte der Mann.

»Können wir denn nicht alle beisammen sein?«

»Aber ja, natürlich können wir das«, sagte das Mädchen herzlich. Sie entfernten sich weiter, das Mädchen hastig redend und die Eltern mit ihr zugeneigten Köpfen lauschend.

Leslie schaute zum Turm auf und erinnerte sich des Glockenspiels, das jedesmal vor dem Gottesdienst und vor und nach dem Abendessen erklungen war. Immer hatte es mit demselben Lied geendet - was war es nur gewesen? Es fiel ihr nicht mehr ein. Sie blieb noch eine Weile sitzen und hoffte, es würde erklingen. Dann stand sie auf, plötzlich eingedenk der Worte jenes Jungen, von dem sie den ersten Kuß ihres Lebens bekommen hatte; ein großer, sehr belesener Junge, Musterschüler aus der Sonntagsschule ihres Vaters; nachdem sie sich bei ihm beklagt hatte, daß sie das Küssen weder besonders unangenehm noch besonders angenehm hatte finden können, hatte er ärgerlich gesagt: »Was hast du dir erwartet? Ein Glockenspiel?«

Sie ging zurück zum Bahnhof, holte ihre Reisetasche und löste eine Karte, und etwa zwanzig Minuten später fuhr der New England States ein und sah fast genauso aus wie damals, als er sie in den Ferien nach Hause gefahren hatte, nur ein bißchen schäbiger, wie alle Züge heutzutage.

Gleich nachdem sie dem Schaffner ihre Karte gegeben hatte, schlief sie ein. Sie schlummerte mit kurzen Unterbrechungen, und als sie das letztemal erwachte, waren es nur noch acht Minuten bis Hartford, und mit einem leichten Triumphgefühl erinnerte sie sich nun auch wieder des Liedes: »The Queen's Change« hatte es geheißen.

Als der Vater auf ihr Läuten die Tür öffnete, sahen sie einander erstaunt an. Er wunderte sich darüber, daß sie da war, und sie wunderte sich über seinen Aufzug. Er trug ein marineblaues Leibchen und zerknitterte schwarze Hosen voll grauweißer Streifen und Klümpchen von irgend etwas, vielleicht von Wachs. Sein weiches weißes Haar war in Unordnung.

»Ach, du bist's«, sagte er. »Komm doch herein. Bist du allein?« »Ja.«

Sie ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer. »Neue Möbel«, sagte sie.

»Hab sie selbst gekauft.« Er nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn in den Schrank. Einen peinlichen Augenblick lang standen sie da und sahen einander an.

»Was machst du denn eigentlich?« fragte sie mit einem neuerlichen verwunderten Blick auf seinen Anzug.

»Ach, du meine Güte! « Er wandte sich um und stürzte hinaus in die Küche. Leslie hörte, wie er die Kellertür öffnete und die Stiegen hinunterging. Sie folgte ihm.

Der Keller war warm und trocken, und es war auch hell, denn der Vater hatte alle Lichter eingeschaltet. In einem großen gußeisernen Topf glühte ein Kohlenlager, und darin stand ein kleinerer Topf, in dem eine dickliche Masse kochte und brodelte. »Man muß dabeibleiben«, sagte er. »Wenn man nicht aufpaßt, kann man sich damit das Haus über dem Kopf anzünden. « Er nahm eine Handvoll Kerzenstummel aus einem braunen Papiersack und warf sie in den kleineren Topf. Begierig schaute er zu, wie sie schmolzen, dann fischte er die auftauchenden Dochte mit einer langen Bratgabel heraus.

Senilität? fragte sie sich und beobachtete ihn aufmerksam.

Zweifellos irgendeine Art von Persönlichkeitsveränderung.

»Was machst du denn damit?« fragte sie.

»Alles mögliche. Meine Kerzen mach ich selbst. Abgüsse von allerhand Dingen. Soll ich einen Abguß von deinen Händen machen?«

»Ja. «

Er schien erfreut und nahm das geschmolzene Wachs mit zwei Topfhaltern vom Feuer. Dann holte er einen Tiegel voll Vaseline aus einer Schublade und paßte genau auf, während sie, seinen Anweisungen folgend, Hände und Unterarme mit dem dicklichen Gelee bestrich. Dabei beobachtete er andauernd mit besorgten Seitenblicken den Wachstopf. Schließlich nickte er. »Jetzt tauch die Hände ein. Wenn es einmal zu kühl geworden ist, kannst du's gleich bleibenlassen.«

Mißtrauisch betrachtete sie das heiße Wachs. »Verbrennt man sich da nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Dazu ist ja die Vaseline da. Ich laß dich schon nicht so lange drin bleiben, bis es brennt.«

Sie atmete tief ein und tauchte die Hände in das Wachs, nur für einen Augenblick; dann zog sie die Hände wieder heraus und hielt sie hoch: sie trugen dicke wächserne Handschuhe.

Das Wachs war noch immer heiß, aber Leslie spürte, wie es auskühlte und hart wurde, während die Vaseline zur gleichen Zeit sich erwärmte und schmolz: es war das seltsamste Nebeneinander widerstreitender Empfindungen. Sie war neugierig, wie er die Wachshaut unbeschädigt von ihren Händen ziehen würde, und sie lachte leise vor sich hin. »Das paßt so gar nicht zu dir«, sagte sie, und er lächelte ihr zu.

»Wahrscheinlich hast du recht. Wenn ein Mensch alt wird, braucht er so merkwürdige Beschäftigungen.« Er füllte einen Eimer mit Wasser, wobei er Heiß und Kalt sorgfältig austarierte und die Wassertemperatur im Eimer mit den Fingerspitzen prüfte.

»Das hätten wir machen sollen, als ich ungefähr acht Jahre alt war«, sagte sie, und ihr Blick suchte den seinen. »Damals wäre ich davon begeistert gewesen.«

»Jetzt -« Er steckte ihre Hände ins Wasser und wartete voll Spannung. »Die Temperatur ist das wichtigste. Wenn das Wasser zu kalt ist, bricht das Wachs, wenn es zu heiß ist, schmilzt es.« Das Wasser war warm. Das Wachs wurde elastisch genug, daß es sich über ihrem Handgelenk dehnen ließ, so daß sie die Hände herausziehen konnte. Mit der Linken tat sie es zu hastig, und das Wachs riß.

»Gib doch acht«, sagte er ärgerlich. Sie zog die Rechte sehr langsam heraus, und ein makelloser Wachshandschuh war das Ergebnis.

»Soll ich die Linke noch einmal machen?« fragte er.

Aber sie wehrte ab. »Morgen«, sagte sie, und er nickte.

Sie ließen die Gußform in kaltem Wasser liegen und gingen hinauf.

»Wie lange willst du bleiben?« fragte der Vater auf der Stiege. »Ich weiß noch nicht«, sagte sie. Sie merkte jetzt, daß sie nicht zu Abend gegessen hatte. »Könnte ich eine Tasse Kaffee haben, Vater?«

»Natürlich«, sagte er. »Aber wir müssen ihn selbst machen. Die Frau von drüben kommt zum Abendessenkochen und zum Aufräumen.

Für das Frühstück sorge ich selbst, und mittags esse ich auswärts.« Er saß auf dem Küchenstuhl und sah ihr zu, während sie Kaffee und Toast zubereitete. »Hast du Streit gehabt mit deinem Mann?«

»Nein, nicht den geringsten«, sagte sie. »Aber du hast irgendwelche Sorgen.«

Sie fand es unendlich rührend, daß er sie hinlänglich verstand, um das zu bemerken; sie hatte es nicht für möglich gehalten. Schon wollte sie ihm das sagen, da sprach er wieder - »Zu mir kommen Tag für Tag Leute, die Sorgen haben.« - und sie war froh, daß sie nichts gesagt hatte.

Er tat Saccharin in den Kaffee, den sie ihm hingestellt hatte, und kostete. »Möchtest du mit mir darüber sprechen?«

»Ich glaube nicht«, sagte sie. »Wie du willst.«

Sie fühlte einen ersten Anflug von Zorn in sich aufsteigen. »Vielleicht möchtest du nach meinem Mann und meinen Kindern fragen. Sie sind schließlich deine Enkel.«

»Wie geht's deiner Familie?«

»Gut.«

Ein paar Minuten lang sprachen sie nichts, bis sie mit dem Kaffee und dem Toast fertig waren und für Hände und Mund keine Beschäftigung mehr hatten.

Dann versuchte sie es nochmals. »Ich muß Max und Rachel zeigen, wie man Wachshände macht«, sagte sie. »Besser wär's noch, wenn ich sie herbringen könnte, und du zeigst es ihnen.« »Gut«, sagte er mit wenig Begeisterung. »Wann habe ich sie zum letztenmal gesehen?

Vor zwei Jahren?«

»Vor achtzehn Monaten. Im vorigen Sommer. Der letzte Besuch war kein schönes Erlebnis für sie, Vater. Sie lieben ihren Großvater Abe sehr, und sie könnten dich genauso lieben, wenn du ihnen die Möglichkeit geben wolltest. Es hat sie sehr erschüttert, euch beide miteinander sprechen zu hören.«

»Dieser Mensch!« sagte ihr Vater eigensinnig. »Ich verstehe noch immer nicht, wie du auf die Idee kommen konntest, ich hätte irgendein Interesse daran, ihn bei mir zu Gast zu haben. Wir haben nichts gemeinsam. Nichts.«

Sie schwieg und erinnerte sich eines grauenhaften Nachmittags, an dem jeder verstört und zutiefst verletzt gewesen war.

»Kann ich in meinem alten Zimmer schlafen?« fragte sie ihren Vater schließlich.

»Nein, nein«, wehrte er ab. »Das ist voll mit Schachteln und allerhand Kram. Geh ins Gästezimmer. Wir sehen darauf, daß dort immer frisch bezogen ist.«

»Gästezimmer?«

»Zweite Tür links, wenn du die Stiege hinaufkommst.« Tante Sallys Zimmer.

»Im Wäscheschrank findest du frische Handtücher«, sagte der Vater.

»Danke.«

»Brauchst du ... hm ... geistlichen Beistand?« Handtücher und geistlicher Beistand dankend abgelehnt, dachte sie.

»Nein, danke, Vater.«

»Es ist niemals zu spät. Niemals und für nichts - durch Jesus. Ganz gleich, wie weit und wie lange wir in die Irre gegangen sind.«

Sie sagte nichts und machte nur eine kleine bittende Geste - so verhalten, daß er sie vielleicht gar nicht bemerkt hatte.

»Auch jetzt noch, nach so langer Zeit. Es ist mir gleichgültig, wie lange du mit ihm verheiratet gewesen bist. Das Mädchen, das in diesem Haus aufgewachsen ist, kann Christus nicht verleugnen - das kann ich nicht glauben.«

»Gute Nacht, Vater«, sagte sie erschöpft. Sie stand auf, trug ihre Reisetasche hinauf, schaltete das Licht ein und verschloß die Zimmertür hinter sich. Sie lehnte dann lange mit dem Rücken an der Tür, ins Zimmer blickend, das sie so gut in Erinnerung hatte aus vielen Nächten, in denen sie sich im Bett ihrer Tante verkrochen hatte und eingeschlafen war, an den ausgetrockneten, altjüngferlichen Körper geschmiegt. Sie wußte noch genau, wie der Körper der Tante sich angefühlt hatte, ja selbst den Geruch wußte sie noch - eine Mischung von Körpergeruch und abgestandenem Rosenduft, wahrscheinlich von einer parfümierten Seife, die Tante Sally im geheimen verwendet hatte.

Sie zog ihr Nachthemd an und fragte sich, ob man wohl noch immer das Gas anzünden mußte, wenn man genügend heißes Wasser für das Bad haben wollte, aber sie war zu müde, um es auszuprobieren. Sie hörte, wie er die Stiegen heraufkam, hörte sein zögerndes Klopfen.

»Du läufst davon, wenn ich mit dir zu sprechen versuche.«

»Ich bin müde«, sagte sie, ohne zu öffnen.

»Kannst du behaupten, daß du dich wirklich als zu ihnen gehörig fühlst?« fragte er.

Sie schwieg.

»Bist du Jüdin, Leslie?« Aber sie gab keine Antwort. »Kannst du mir sagen, daß du Jüdin bist?«

Geh weg, dachte sie, auf dem Bett sitzend, in dem ihre Tante gestorben war.

Nach einer Weile hörte sie, wie er in sein Zimmer ging, und sie langte nach der Schnur, um das Licht zu löschen. Doch statt gleich ins Bett zu gehen, saß sie noch lange beim Fenster auf dem Fußboden, preßte die Brust ans Fensterbrett und das Gesicht an die kalte Scheibe, wie sie es in der Kindheit getan hatte, und schaute durch das Dunkel des Glases hinunter auf die Straße, die einmal zu ihrem Gefängnis gehört hatte.

Als sie einander am Morgen beim Frühstück begegneten, taten beide, als wäre am vergangenen Abend nichts geschehen. Sie briet für ihn Schinken mit Eiern, und er aß mit Appetit, ja beinahe mit Gier. Als sie ihm Kaffee eingoß, sagte er mit einem kleinen Räuspern: »Leider habe ich heute vormittag in der Kirche eine Besprechung nach der anderen.«

»Dann ist es wohl besser, wenn ich mich gleich jetzt von dir verabschiede, Vater«, sagte sie. »Ich habe mich entschlossen, mit einem frühen Zug zu fahren.«

»Ja? Nun gut«, sagte er.

Bevor er aus dem Haus ging, kam er noch einmal in ihr Zimmer und überreichte ihr zwei gelbe Kerzen. »Ein kleines Geschenk«, sagte er.

Nachdem er gegangen war, rief sie telephonisch ein Taxi herbei und ließ sich zum Bahnhof fahren. Dort kaufte sie eine Taschenbuchauswahl von Robert Frost und las darin zwanzig Minuten lang. Fünf Minuten vor Einfahrt des Zuges hob sie ihre Reisetasche auf die Warteraumbank, öffnete sie und nahm die gelben Kerzen heraus, um Platz für das Buch zu schaffen; dabei zerbrach ihr die eine in der Hand, das gelbe Wachs bröckelte ab und ließ den Fehler sichtbar werden: einen uneingeschmolzenen weißen Wachskern im Innern der Kerze. Angewidert säuberte sie die Reisetasche, so gut sie konnte, von den Wachskrümeln und warf diese zusammen mit der zerbrochenen Kerze in den Abfallkorb. Im Zug begann sie darüber nachzudenken, was sie mit der verbleibenden anfangen könnte; schließlich, während sie Stamford durchfuhren, holte sie die Kerze aus ihrer Tasche und ließ sie in den Spalt zwischen Armlehne und Waggonwand unter dem Fenster fallen. Danach war ihr etwas wohler, ohne daß sie genau wußte, warum.

Nun näherten sie sich allmählich New York, und Leslie sah die Bilder am Fenster vorüberziehen wie eine TV-Sendung für Stadtplanung. Aus dem Schnee neben den Gleisen stieg Nebel in grauen Schwaden, und sie dachte an viele Morgen in San Francisco, da sie, aus dem Fenster blickend, die Erde wüst und leer gesehen hatte, und Finsternis war über dem Antlitz der Tiefe gelegen, und der Geist Gottes war aufgestiegen über dem Antlitz der Erde und dem Antlitz des Wassers, aufgestiegen als perlmutterfarbener Nebel.