»Was heißt >dieselbe Geschichte<?« fragte Michael, als sie auf der Straße waren. »Ist sie krank gewesen?«
»Ah«, seufzte Abe. »Sie kwetscht herum. Ich kwetsch herum. Unsere Freunde kwetschen herum. Und weißt du, was es ist? Wir werden alt.«
»Älter werden wir alle«, sagte Michael und fühlte sich etwas unbehaglich. »Aber Mama und du, ihr seid doch nicht alt. Ich wette, du stemmst immer noch deine Hanteln im Schlafzimmer.«
»Tu ich«, sagte Abe und schlug demonstrierend auf seinen flachen Bauch.
»War hübsch, daß du hier warst, Pop«, sagte Michael. »Ist mir gar nicht recht, daß du wieder wegfährst. Wir sehen einander viel zu selten.«
»Wir werden einander jetzt öfter sehen«, sagte Abe. »Ich verkaufe das Geschäft.«
Die Mitteilung überraschte Michael mehr, als am Platz gewesen wäre.
»Nein, das ist ja großartig«, sagte er. »Was wirst du anfangen?«
»Reisen. Das Leben genießen. Deiner Mutter ein bißchen Freude machen.« Abe schwieg eine Weile. »Du weißt, unsere Ehe ist erst recht spät wirklich eine Ehe geworden. Wir haben lange gebraucht, bis wir draufgekommen sind, was der eine am anderen hat.« Er hob die Schultern. »Jetzt mächt ich, daß sie noch etwas hat von ihrem Leben. Im Winter Florida. Im Sommer ein paar Wochen bei euch. Alle paar Jahre eine Reise nach Israel, zu Ruthie, wenn uns die verdammten Araber nur lassen.«
»Und wer kauft Kind Foundations?«
»Ich hab in den letzten Jahren Angebote von zwei großen Konfektionsfirmen gehabt und werd an den Meistbietenden verkaufen.«
»Ich freu mich für dich«, sagte Michael. »Das klingt sehr gut.« »Ja, ich hab mir's gut ausgerechnet«, sagte Abe. »Sag nur deiner Mutter noch nichts davon. Es soll eine Überraschung werden. « Am nächsten Morgen gab es eine Diskussion darüber, ob Michael sie zum Zug bringen sollte oder nicht. »Ich kann diese langen Bahnhofsabschiede nicht leiden«, sagte Dorothy. »Gib mir hier einen Kuß, wie es sich für einen guten Sohn gehört, und dann nehmen wir ein Taxi, wie jeder vernünftige Mensch.«
Aber Michael setzte seinen Willen durch. Er fuhr sie zum Bahnhof und kaufte Illustrierte und Zigarren für den Vater und Bonbons für die Mutter. »Oi, ich kann das doch nicht einmal essen«, sagte sie. »Ich muß Diät halten.« Sie gab ihm einen zärtlichen Stoß. »Du geh jetzt nach Hause«, sagte sie, »oder in deinen Tempel. Aber verschwind von hier.«
Er sah sie an und meinte schließlich, es wäre besser, ihr nachzugeben.
»Lebt wohl, ihr beide«, sagte er und küßte die Eltern auf die Wangen.
Dann schritt er schnell davon.
»Warum hast du das gemacht?« fragte Abe ärgerlich. »Er hätte noch gute zehn, fünfzehn Minuten bei uns bleiben können.«
„Weil ich nicht auf einem Bahnhof zu weinen anfangen will, deshalb«, sagte sie und fing an zu weinen.
Als sie dann in den Zug stiegen, hatte sie sich einigermaßen gefaßt. Sie strickte und redete nur wenig bis zum Mittagessen. Auf dem Weg zum Speisewagen stellte Abe fest, daß Oscar Browning, der sommersprossige Schlafwagenschaffner, wieder im Zug war.
»Hallo, Mr. Kind«, sagte Browning. »Das freut mich, daß Sie auch die Rückreise wieder mit uns machen.«
»Wieviel Trinkgeld hast du dem bei der Hinfahrt gegeben?« fragte Dorothy, als sie im nächsten Waggon angelangt waren. »Das übliche.«
»Wieso erinnert er sich dann an dich?«
»Wir haben uns lang miteinander unterhalten. Er ist ein intelligenter Mensch.«
»Ja, sicher«, sagte sie. Dann schloß sie die Augen. Um ihren Mund zeigte sich ein weißer Strich. »Mir ist nischt gut. Übel im Magen. Das macht dieser Zug, er rüttelt so.«
»Ich hab dir gleich gesagt, wir sollten fliegen«, meinte er. Er beobachtete sie gespannt. Nach einer Weile verschwand der weiße Strich, und ihr Gesicht bekam wieder Farbe. »Geht's dir besser?« »Ja.«
Sie lächelte ihm zu und tätschelte seine Hand. Der Kellner kam und stellte die Speisen auf den Tisch, und Dorothy schaute Abe beim Essen zu.
»Jetzt krieg ich Hunger«, sagte sie.
»Magst du ein Steak?« fragte er erleichtert. »Oder etwas von dem da?«
»Nein«, sagte sie. »Bestell mir bitte eine Portion Erdbeeren.« Er bestellte, und während sie gebracht wurden, aß er seinen Rinderbraten auf.
»Immer fällt mir dieser Einkaufskorb und die Seilrolle ein, wenn ich dich Erdbeeren essen sehe«, sagte er.
»Weißt du's noch, Abe?« sagte sie. »Du hast mir den Hof gemacht, und wir sind immer mit dieser Helen Cohen ausgegangen, die nebenan wohnte, und mit ihrem Freund, wie hat er nur geheißen?«
»Pulda. Hermann Pulda.«
»Richtig, Pulda. Herky haben sie ihn genannt. Später sind sie dann auseinandergegangen, und er ins Fleischgeschäft. Sixteenth Avenue und Fifty-Fourth Avenue. Nicht koscher. Aber damals habt ihr beide uns jeden Abend einen Korb voll Obst gebracht, nicht nur Erdbeeren, auch Kirschen, Pfirsiche, Birnen, Ananas, jeden Abend was anderes.
Ihr habt gepfiffen, und wir haben den Korb an diesem Seil vom Fenster im dritten Stock hinuntergelassen. Oi, hab ich Herzklopfen gehabt.«
»Das war von deinem Schlafzimmerfenster.«
»Manchmal auch von Helens Fenster. Sie war so hübsch, daß einem die Sprache wegblieb, damals.«
»Aber nein, sie konnte sich doch mit dir nicht vergleichen. Nicht einmal heute.«
»Ach, heute! Schau mich doch nur an.« Sie seufzte. »Es kommt einem vor, als wär es gestern gewesen, aber schau mich doch an: graue Haare und schon das vierte Enkelkind.«
»Schön.« Unter dem Tisch legte er seine Hand auf ihre Schenkel.
»Du bist eine sehr schöne Frau.«
»Hör doch auf«, sagte sie, aber er merkte wohl, daß sie keineswegs ärgerlich war, und kniff sie noch einmal, bevor er seine Hand zurückzog.
Nach Tisch spielten sie Gin-Rummy, bis sie zu gähnen begann.
»Weißt du, was ich möchte?« sagte sie. »Ein Schläfchen machen. «
»Tu's doch«, sagte er.
Sie streifte die Schuhe ab und streckte sich auf dem Sitz aus. »Wart einen Augenblick«, sagte er. »Ich werd Oscar sagen, daß er dir das Bett machen soll.«
»Das brauch ich nicht«, sagte sie. »Dann mußt du ihm wieder ein Trinkgeld geben.«
»Ich geb ihm auf jeden Fall ein Trinkgeld«, sagte er ungeduldig. Sie nahm zwei Bufferin-Tabletten, während Oscar die Koje für sie zurechtmachte, und dann zog sie Kleid und Mieder aus, schlüpfte unter die Decken und schlief, bis zum letzten Abendessen gerufen wurde. Abe weckte sie so sanft, wie er nur irgend konnte. Nach dem Schlaf war sie ausgeruht und hungrig. Sie bestellte Brathuhn und Apfelkuchen und Kaffee zum Abendessen, aber in der Nacht war sie unruhig und drehte sich hin und her, so daß auch er nicht schlafen konnte.
»Was ist denn los?« fragte er.
»Ich sollte nichts Gebratenes essen. Jetzt hab ich Sodbrennen«, sagte sie. Er stand auf und gab ihr ein Alka-Seltzer. Gegen Morgen wurde es besser. Sie gingen zeitig in den Speisewagen und tranken Juice und schwarzen Kaffee. Dann kehrten sie in ihr Abteil zurück, und Dorothy nahm ihre Strickerei wieder auf, die an einem riesigen blauen Garnknäuel hing.
»Was machst du jetzt?« fragte er. »Einen Strampelanzug für Max.«
Er versuchte zu lesen, während sie strickte, aber er war nie ein großer Leser gewesen, und jetzt war er des Lesens müde. Nach einer Weile unternahm er einen Spaziergang durch den hin und her schwingenden Zug und machte schließlich im Vorraum zu den Herrenwaschräumen halt, wo Oscar Browning Handtücher stapelte und kleine Seifenstücke abzählte.
»Jetzt müssen wir doch bald nach Chicago kommen, nicht wahr?«
fragte er und nahm neben dem Schaffner Platz.
»Noch zwei Stunden ungefähr, Mr. Kind.«
»Dort hab ich eine Menge Kundschaften gehabt«, sagte er. »Marshai Field, Carson, Pirie and Scott. Goldblatt. Imponierende Stadt.«