»Ja, am Anfang, noch unter den Engländern. Später, während des Krieges, wurden sie ein Teil der regulären Armee. In der Zeit war auch Saul dabei. Nur sehr kurz.«
»Unterrichtet er wieder?« fragte Leslie.
»Natürlich, schon seit langem. Durch seine Verwundung hat er es sehr leicht, Disziplin zu halten. Die Kinder sehen in ihm einen großen Helden.«
Sie drückte ihre Zigarette aus und lächelte ihnen zu, aber ihr Lächeln war ohne Zärtlichkeit.
Am Morgen nach der schiwe fuhren Abe und Michael mit Ruthie nach Idlewild.
»Aber zu Besuch wirst du doch wenigstens kommen?« sagte sie und küßte Abe zum Abschied.
»Wir werden sehen. Vergiß das Datum nicht -vergiß nicht, jahrzeit zu sagen.« Sie klammerte sich an ihn. »Ich komm sicher«, sagte er.
»Es ist ein Jammer«, sagte sie, als sie Michael knapp vor dem Einsteigen umarmte. »Ich kenne dich und deine Familie nicht, und du kennst mich und meine Familie nicht. Dabei hab ich das Gefühl, daß wir einander alle sehr gern haben könnten.« Und sie küßte ihn auf den Mund.
Sie warteten noch, bis das Flugzeug der EL AL ihren Blicken entschwand, und gingen dann zurück zum Wagen.
»Und was jetzt?« fragte Michael, während sie fuhren. »Wie wär's mit Kalifornien? Du bist bei uns jederzeit willkommen, das weißt du.« Abe lächelte. »Denk an deinen sejde. Nein. Aber ... danke.« Michael hielt den Blick auf den Verkehr gerichtet. »Also was dann? Florida?«
Sein Vater seufzte. »Ohne sie ist das nichts. Ich könnte es nicht. Ich werd nach Atlantic City gehen.«
Michael seufzte. »Und was hast du dort?«
»Ich kenne Leute, die sich dorthin zurückgezogen haben. Andere, die sich noch nicht zurückgezogen haben, aber ihren Sommerurlaub dort verbringen. Leute aus der Branche - Leute von meiner Art. Fahr morgen mit mir hin. Hilf mir, etwas zu finden, was mir zusagt.«
»Einverstanden«, sagte Michael.
»Ich hab das Meer gern. Und all den gottverdammten Sand.«
In einem kleinen, aber guten Villenhotel in Ventnos, nur zwei Blocks vom Strand entfernt, mieteten sie für ihn ein Schlafzimmer mit Kitchenette, Wohnzimmer und Bad, alles möbliert. »Es ist zwar teuer«, sagte Abe, »aber-wenn schon.« Er lächelte. »Deine Mutter ist in den letzten vier, fünf Jahren ein bißchen knauserig geworden, hast du das gewußt?«
»Nein.«
»Willst du das Zeug aus der Wohnung haben?« fragte Abe. »Hör zu -«
sagte Michael.
»Ich will es nicht. Kein einziges Stück davon. Wenn du magst, nimm es dir. Die Wohnung soll dann ein Agent verkaufen.« »Okay«, sagte Michael nach einer Weile. »Vielleicht das Messingbett vom sejde.« Er war ärgerlich, ohne zu wissen warum. »Nimm alles. Was du nicht brauchen kannst, gib weg.«
Nach dem Mittagessen machten sie einen langen Spaziergang, sahen eine Zeitlang einer Ramschauktion zu, auf der schnokes zum dreifachen Preis ihres Wertes verkauft wurden, und saßen in Strandstühlen unter der blendenden Nachmittagssonne und betrachteten den Menschenstrom, der auf der Strandpromenade unaufhörlich an ihnen vorüberflutete.
Fünfzehn Meter von ihnen entfernt lieferten einander zwei beiderseits eines Bierstandes postierte Wanderhändler einen Wettstreit in Sexualsymbolik. Der eine, in Hemdsärmeln und mit Strohhut, pries heiße Würstchen an. »DIE GRÖSSTEN FRANKFURTER DER WELT, NUR HIER, WIRKLICH HEISS, EINEN HALBEN METER LANG, JEDER ZENTIMETER EIN GENUSS«, brüllte er.
»BALLONS IN ALLEN FARBEN, GROSS, RUND, PRALL, DICK UND SCHÖN«, antwortete ein kleiner, italienisch aussehender Mann in abgetragenen Hosen und verwaschenem blauem Pullover.
Ein schwitzender Neger schob in einem Rollstuhl eine sehr dicke Dame mit einem nackten Baby im Arm vorbei.
Dann folgte eine Horde College-Mädchen in Badeanzügen, die mit den untauglichen Mitteln ihrer dürren Teenager-Figuren den rührenden Versuch unternahmen, es dem wollüstigen Hüftenschwingen ihrer angebeteten Hollywood-Stars gleichzutun. Der Salzwind trug das Gemurmel einer fernen Menschenmenge an ihr Ohr, die sich vielleicht einen Kilometer weiter unten auf der Strandpromenade angesammelt hatte, untermischt mit leisen erschrockenen Schreien.
»Das Weib auf dem Pferd ist mitten in den jam hineingeritten«, stellte Abe mit Befriedigung fest. Er atmete tief.
»A m'chaje. Wirklich, ein Vergnügen«, sagte er.
»Bleib hier«, sagte Michael. »Aber wenn's dir langweilig wird, denk dran, daß wir in Kalifornien auch einen Strand haben.« »Ich komm sicher auf Besuch«, sagte Abe und brannte eine Zigarre an. »Aber vergiß nicht, hier kann ich jederzeit, wenn mir danach zumut ist, in den Wagen steigen und ihr Grab besuchen. Das kann ich in Kalifornien nicht.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Wann fährst du zurück?« fragte er.
»Wahrscheinlich morgen«, sagte Michael. »Schließlich hab ich mich um eine Gemeinde zu kümmern. Ich kann nicht für zu lange wegbleiben.«
Nach einer Pause setzte er hinzu: »Das heißt natürlich, wenn du soweit in Ordnung bist.«
»Ich bin schon in Ordnung.«
»Pop, geh nicht zu oft zu ihrem Grab.« Der Vater gab keine Antwort.
»Das hilft doch niemandem. Ich weiß, wovon ich spreche.«
Abe sah ihn lächelnd an. »In welchem Alter müssen Väter eigentlich anfangen, ihren Söhnen zu gehorchen?«
»Überhaupt nicht«, sagte Michael. »Aber ich hab mit dem Tod zu tun, manchmal ein halbes dutzendmal in der Woche. Ich weiß, daß es den Lebenden nichts hilft, sich aufzuopfern. Du kannst die Uhr nicht zurückdrehen.«
»Ist dieses Amt nicht manchmal bedrückend für dich?« Michaels Blick folgte einem schwitzenden Dicken: er trug einen Fez, der zu klein für seinen Kahlkopf schien, und hatte den Arm um eine kleine, frech aussehende Rothaarige gelegt, die kaum älter als sechzehn sein mochte.
Im Gehen blickte sie zu ihm auf. Vielleicht ist er ihr Vater, dachte Michael mit einem schwachen Anflug von Hoffnung. »Manchmal schon«, antwortete er auf die Frage seines Vaters.
»Die Leute kommen zu dir mit Tod und Krankheit. Ein Junge kommt mit dem Gesetz in Konflikt. Ein Mädchen wird hinter der Scheune geschwängert.«
Michael lächelte. »Nicht mehr, Pop. Heute passiert so etwas nicht mehr hinter Scheunen, sondern in Autos.«
Der Vater maß diesem Unterschied kein Gewicht bei. »Wie hilfst du diesen Leuten?«
»Ich tu, was ich kann. Manchmal gelingt es mir, zu helfen, oft gelingt es nicht. Manchmal kann nur die Zeit und Gott helfen.« Abe nickte. »Ich bin froh, daß du das weißt.«
»Aber ich höre immer zu. Das ist immerhin etwas. Ich kann ein Ohr sein, das hört.«
»Ein Ohr, das hört.« Abe blickte hinaus aufs Meer, wo ein Fischdampfer scheinbar reglos stand, ein schwarzer Punkt auf blauem Horizont. »Nimm an, es kommt ein Mann zu dir und erzählt dir, daß er bis zu den Knien im Dreck gelebt hat-was würdest du ihm sagen?«
»Ich müßte mehr von ihm hören«, sagte Michael.
»Nimm an, ein Mann hätte den Großteil seines Lebens wie ein Vieh gelebt«, sagte er langsam. »Wie ein Hund um jeden Dollar gerauft.
Wie ein Kater hergewesen hinter dem Geruch einer Frau. Gerannt wie ein Rennpferd ohne Jockei, noch eine Runde und noch eine und noch eine.
Und nimm an«, fuhr er leise fort, »der Mann wacht eines Morgens auf und entdeckt, daß er alt ist und daß es keinen Menschen gibt, der ihn wirklich liebt.«
»Pop! «
»Ich meine, wirklich, so daß er für diesen andern der wichtigste Mensch auf der Welt wäre.« Michael wußte nichts zu sagen. »Du hast mich einmal in einer Situation gesehen, die für dich recht häßlich war«, sagte sein Vater.