»Fang nicht wieder damit an.«
»Nein, nein«, sagte der Vater und redete schnell weiter. »Ich wollte dir nur sagen, es war nicht das erstemal während meiner Ehe mit deiner Mutter, daß ich eine andere Frau hatte. Auch nicht das letzte.
Auch nicht das letzte.«
Michael umklammerte die Lehne seines Stuhls. »Warum glaubst du eigentlich, daß du mir das antun mußt?«
»Ich möchte, daß du verstehst«, sagte Abe. »An irgendeinem Punkt hat das alles aufgehört.« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht waren es die Hormone, vielleicht eine Änderung in meiner Lebenseinstellung. Ich kann mich an mindestens ein halbes Dutzend hübscher Gelegenheiten erinnern. Aber ich hab damit aufgehört und mich in deine Mutter verliebt. - Du hast ja nie eine Möglichkeit gehabt, sie zu kennen, wirklich zu kennen. Weder du noch Ruthie.
Aber für mich ist es jetzt noch schlimmer. Sehen Sie das ein, Rabbi?
Können Sie das verstehen, m'lamed, mein gescheiter Sohn? Ich hab sie lange Zeit nicht gehabt, und dann hatte ich sie, aber nur für eine kleine Weile, und jetzt ist sie fort.«
»Pop! « sagte Michael.
»Nimm meine Hand«, sagte sein Vater. Michael zögerte, und Abe langte hinüber und nahm die Hand seines Sohnes in die seine. »Was ist los?« fragte er mit rauher Stimme. »Hast du Angst, sie werden uns für verrückt halten?«
»I c h liebe dich, Pop«, sagte Michael.
Abe drückte seine Hand. » Scha«, sagte er.
Möwen zogen ihre Kreise. Die Menge flutete vorüber. Es gab viele Männer mit Fez darunter, eine ganze Gemeinde von Muslims. Nach und nach verschwand der kleine schwarze Fischdampfer hinter dem Horizont. VIELE BEWERBEN SICH UM DEN TITEL, ABER NUR HIER GIBT ES DIE ECHTEN UND WIRKLICH GRÖSSTEN FRANKFURTER DER WELT.
Das Mädchen auf dem Pferd war anscheinend wieder ins Meer gesprungen, denn sie hörten die Menge in der Ferne leise aufschreien. Ihre Schatten vor ihnen im Sand wurden länger und verschwommener.
Als es Zeit zum Gehen war, zog Abe seinen Sohn zum Bierstand und bestellte, indem er zwei Finger hob. Hinter dem Tisch stand ein junges braunhaariges Mädchen mit gelangweiltem Gesichtsausdruck, ein recht gewöhnliches Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren, leidlich hübsch, aber mit schadhaften Zähnen und unreinem Teint.
Abe sah ihr zu, wie sie die Becher nahm und nach dem Hahn griff.
»Ich heiße Abe.«
»Ja?«
»Und Sie?«
»Sheila.« Sie hatte ein Grübchen in der Wange.
Er prüfte es mit Daumen und Zeigefinger, ging dann zu dem Luftballonverkäufer hinüber und erstand einen knallroten, den er dem Mädchen ans Handgelenk band, so daß er wie ein großes blutunterlaufenes Auge über ihnen schwebte. »Der Bursche da ist mein Sohn. Von ihm laß die Hände, er ist ein verheirateter Mann.«
Gleichgültig nahm sie das Geld und gab heraus. Aber als sie von der Kasse zurückkam, lachte sie und ließ ihre Kurven beim Gehen mehr spielen als zuvor, und der Ballon schwankte über und immer ein Stückchen hinter ihr. Abe schob ihm eine Stange Bier zu. »Für die Fahrt«, sagte er.
Michael begann zu verstehen, daß das Leben aus einer Reihe von Kompromissen bestand. Sein Rabbinat am Tempel Isaiah hatte sich nicht so entwickelt, wie er es hoffte, mit Scharen von Menschen, die zu seinen Füßen saßen, um seinen blendenden modernen Interpretationen talmudischer Weisheit zu lauschen. Seine Frau war jetzt Mutter, und er suchte verstohlen in ihren Augen nach den Augen des Mädchens, das er geheiratet hatte, des Mädchens, das erschauert war, wenn er sie mit dem bestimmten wissenden Blick angesehen hatte. Jetzt stieß sie ihn manchmal nachts mitten in der Liebe von sich, wenn ein dünnes Weinen aus dem Nebenzimmer sie zum Baby rief, und dann lag er im Dunkel und haßte das Kind, das er liebte.
Die hohen Feiertage kamen, und der Tempel quoll über von Menschen, die sich plötzlich daran erinnerten, daß sie Juden waren, und meinten, es wäre an der Zeit, so viel Reue zu zeigen, daß es wieder für ein Jahr reichte. Der Anblick des von Menschen überfüllten Gotteshauses erregte ihn und erfüllte ihn mit neuer Hoffnung und dem festen Vorsatz, nicht aufzugeben und sie am Ende doch für sich zu gewinnen.
Er entschloß sich zu einem neuen Versuch, solange ihnen der Jom-Kipur-Gottesdienst noch frisch im Gedächtnis war. Einer seiner früheren Lehrer, Dr. Hugo Nachmann, unterrichtete für einige Zeit am Rabbinischen Institut in Los Angeles. Dr. Nachmann war Experte in den Schriftenfunden vom Toten Meer. Michael lud ihn ein, nach San Francisco zu kommen und im Tempel einen Vortrag zu halten.
Zu der Veranstaltung erschienen ganze achtzehn Zuhörer, von denen, wie Michael feststellte, mehr als die Hälfte nicht Mitglieder seiner Gemeinde waren. Zwei entpuppten sich als Journalisten, die Dr.
Nachmann über die archäologischen Aspekte der Pergamentenfunde interviewen wollten.
Dr. Nachmann machte es den Kinds nicht schwer. »Sie wissen doch, das ist nichts Ungewöhnliches«, sagte er. »Die Leute haben einfach an manchen Abenden keine Lust auf einen Vortrag. Ja, wenn Sie zu einer Tanzveranstaltung eingeladen hätten ... ! «
Am nächsten Morgen, als er mit Pater Campanelli an dem Absperrzaun vor der halbfertigen Kirche lehnte, begann Michael spontan darüber zu sprechen. »Immer wieder mache ich es falsch«, sagte er. »Ich kann es anstellen, wie ich will, ich krieg die Leute nicht in den Tempel.«
Der Pfarrer betastete das Mal auf seiner Wange. »So manchen Morgen bin ich dankbar für die Pflichtfeiertage«, sagte er still. Ein paar Wochen später rekelte sich Michael eines Morgens im Bett, etwas niedergeschlagen bei der Vorstellung, wieder einen Tag beginnen zu müssen. Er wußte genug über die Psychologie persönlicher Verluste, um zu erkennen, daß diese Stimmung eine Nachwirkung vom Tod seiner Mutter war, aber dieses Wissen half ihm nicht, wie er da gedankenverloren in seinem Bett lag, in der Wärme seines Weibes Trost suchte und zu einem Sprung in der Schlafzimmerdecke emporstarrte.
Der Tempel Isaiah hatte wenig zu bieten, was ihn aus dem Bett getrieben hätte; nicht einmal einen sauberen Fußboden, dachte er.
Ausgerechnet vor den Feiertagen hatte der Tempeldiener, ein zahnlückiger Mormone, der drei Jahre lang das Haus peinlichst rein gehalten hatte, mitgeteilt, daß er sich nun zu seiner verheirateten Tochter nach Utah zurückziehe, um dort seine Ischias zu pflegen und seinen Geist wieder aufzurichten. Der Wirtschaftsausschuß, der nur selten zusammentrat, hatte sich wenig angestrengt, den Posten neu zu besetzen. Während Phil Golden schäumte und schalt, wurden Silber und Messing stumpf, und die Böden verloren ihren Glanz. Freilich hätte Michael einen Tempeldiener anstellen und sicher sein können, daß dessen Gehalt auf Wunsch des Rabbiners ausbezahlt würde. Aber schließlich war das Sache des Wirtschaftsausschusses. Wenigstens das werden sie für den Tempel tun müssen, dachte Michael erbittert.
»Steh auf«, sagte Leslie und stieß ihn mit der Hüfte an. »Warum?«
Aber siebzig Minuten später parkte er seinen Wagen vor dem Tempel. Zu seiner Verwunderung fand er das Tor unversperrt.
Drinnen hörte er das Kratzen einer Scheuerbürste auf Linoleum und fand, da er dem Geräusch stiegenabwärts folgte, den Mann im farbbespritzten weißen Arbeitszeug kniend den Flurboden säubern.
»Phil«, sagte Michael.
Golden strich sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. »Ich hab vergessen, Zeitungspapier mitzubringen«, sagte er. »Wie Sie noch ein Kind waren, hat Ihre Mutter da auch am Donnerstagnachmittag alle Fußböden aufgewaschen und nachher Zeitungspapier aufgebreitet?«
»Am Freitag«, sagte Michael. »Freitag vormittag.« »Nein, am Freitag vormittag hat sie tscholent gebacken.«
»Aber was treiben Sie denn? Ein gebrechlicher alter mamser wie Sie wird doch nicht Böden reiben! Wollen Sie einen Herzanfall kriegen?«