»Ich hab ein Herz wie ein Stier«, sagte Golden. »Ein Tempel muß rein sein. Ein schmutziger Tempel - so was darf es nicht geben. «
»Dann sollen die einen Tempeldiener anstellen. Oder stellen Sie selbst jemanden an.«
»Die werden noch eine Weile herumkrechzn. Man muß anfangen, an ihrer Statt was zu tun. Die werden sich nie um den Tempel kümmern. Inzwischen werden die Böden sauber sein.« Michael schüttelte den Kopf. »Phil, Phil.« Und er wandte sich auf dem Absatz um und ging hinauf in sein Büro. Dort zog er seine Jacke aus, band die Krawatte ab und krempelte die Hemdsärmel auf.
Dann durchsuchte er mehrere Schränke, bis er noch einen Eimer samt Bürste fand.
»Sie nicht«, protestierte Golden. »Ich brauch keine Hilfe. Sie sind der Rabbi.«
Aber Michael kniete schon und ließ die Bürste im seifigen Wasser kreisen. Seufzend wandte sich Golden wieder seinem eigenen Eimer zu. So arbeiteten sie beide vor sich hin. Das Geräusch der beiden Bürsten klang freundlich. Golden begann mit kurzatmiger Grunzstimme Opernfragmente zu singen.
»Um die Wette bis zum Ende vom Vorraum«, sagte Michael. »Wer verliert, holt Kaffee.«
»Keine Wettrennen«, sagte Phil. »Keine Spielereien. Einfach arbeiten, und das gut.«
Golden erreichte das Ende des Korridors als erster und ging trotzdem um Kaffee. Bald darauf saßen sie in einem leeren Klassenzimmer, in dem sonst Hebräisch unterrichtet wurde, tranken langsam ihren Kaffee und betrachteten einander.
»Diese Hosen«, sagte Michael. »Die dürfen Sie aber die rebezen nicht sehen lassen.«
»Sieht sie höchstens, daß ich endlich was arbeite für mein Geld.«
»Sie arbeiten jeden Tag für Ihr Geld.«
»Nein, Phil, reden Sie mir doch nichts ein.« Er schwenkte den Kaffee in seinem Becher herum und herum und herum. »Ich studiere den Talmud, und das nahezu als Tagesbeschäftigung. Ich sitze Tag für Tag bei den Büchern und suche Gott.«
»So, was ist schlecht dran?«
»Wenn ich Ihn finde, wird meine Gemeinde davon erst zum nächsten lom-Kipur erfahren.«
Golden lachte in sich hinein und seufzte dann. »Ich hab versucht, es Ihnen zu erklären«, sagte er. »Diese Gemeinde ist nun einmal so.«
Er legte die Hand auf Michaels Arm. »Dabei hat man Sie gern. Sie werden es wahrscheinlich nicht glauben, aber die Leute haben Sie wirklich sehr gern. Sie wollen Ihnen einen langfristigen Vertrag anbieten. Mit einer ordentlichen jährlichen Gehaltssteigerung.«
»Wofür?«
»Dafür, daß Sie hier sind. Daß Sie ihr Rabbi sind. Sicher, was die eben darunter verstehen - aber schließlich doch ihr Rabbi. Ist es für einen Rabbiner so schlecht, finanziell gesichert zu sein und den Großteil seiner Zeit dem Studium widmen zu können?«
Er nahm Michael den Kaffeebecher aus der Hand und warf ihn, zusammen mit seinem eigenen, in den Papierkorb. »Lassen Sie mich zu Ihnen sprechen, als wären Sie einer von meinen Söhnen«, sagte er. »Das hier ist kein schlechter Platz. Geben Sie Ruh - und gönnen Sie sich Ruh. Sammeln Sie ein bißchen Wohlstand an. Lassen Sie Ihren Kleinen mit den feinen Pinkeln hier aufwachsen und schicken Sie ihn nach Stanford - und wollen wir hoffen, daß er was Gutes draus macht.«
Michael schwieg.
»In ein paar Jahren wird diese Gemeinde Ihnen einen Wagen kaufen. Später wird sie Ihnen ein Haus kaufen.«
»Mein Gott.«
»Arbeiten wollen Sie?« sagte Golden. »Los, scheuern wir noch ein paar Böden.« Sein Lachen klang wie Trommelschläge. »Ich garantiere Ihnen, wenn ich diesem lausigen Wirtschaftsausschuß erzähle, wer ihnen diesmal die Dreckarbeit gemacht hat, dann haben die morgen einen Tempeldiener angestellt.«
Tags darauf spürte er seine Muskeln als Folge der ungewohnten körperlichen Arbeit. Er hielt vor St. Margaret's, beugte sich über den Absperrzaun und sah den Arbeitern im Stahlhelm zu, die an dem Neubau beschäftigt waren, während er sich durch die Sehnenschmerzen in seinen Oberschenkeln auf eine neue Art mit den Arbeitern aller Welt verbunden fühlte. Pater Campanelli war nicht da. Der Pfarrer erschien jetzt nur mehr selten auf dem Bauplatz; meist blieb er hinter den roten Ziegelmauern seiner alten Kirche, die schon bald dem Abbruch zum Opfer fallen sollten.
Michael konnte ihm das nicht übelnehmen. Die neue Kirche hatte ein häßliches Betondach und Wände aus getönten Glasplatten, die stark abgeschrägt nach innen verliefen, so daß das Gebäude von dieser Seite wie ein riesiger, nach unten sich verjüngender Kegelstumpf aus Eiscreme aussah. Ein Korridor aus Aluminium und Glas führte zu einem Rundbau, der so geistlich wie ein Industriekraftwerk wirkte. Auf dem Dach dieses Bauwerks waren Arbeiter damit beschäftigt, ein glänzendes Aluminiumkreuz aufzurichten.
»Wie schaut's aus?« rief einer der Männer vom Dach.
Ein neben Michael stehender Mann schob seinen Stahlhelm aus der Stirn und visierte Kreuz und Dach. »Gut«, brüllte er.
Gut, dachte Michael.
Jetzt konnte wenigstens jedermann das Ding von einem Würstchenstand unterscheiden.
Er wandte sich ab und wußte, daß er nicht wiederkommen würde -
aus demselben Grund, der den Pfarrer veranlaßt hatte, nicht länger zuzusehen. Es war ein geschmacklos errechnetes Haus der Andacht.
Und jedenfalls gab es nichts weiter zu sehen; es war zu Ende. Zu Ende war auch Michael mit seinen Studien über Tempelarchitektur.
Er hatte einen Text niedergeschrieben, der, wie ihm schien, ein vernünftiges Grundkonzept für den Bau eines modernen Gotteshauses enthielt. Da die ehemalige St.-Jeremiah-Kirche den bescheidenen Ansprüchen der Gemeinde vom Tempel Isaiah mit Leichtigkeit genügen konnte, wußte Michael mit dem Resultat seiner Studien nichts Besseres anzufangen, als es zu publizieren. Er schrieb einen Artikel, den er dem Blatt der Zentralkonferenz Amerikanischer Rabbiner einreichte und der dort auch erschien. Er schickte je eine Nummer der Zeitung an seinen Vater in Atlantic City und an Ruthie und Saul in Israel, dann packte er all seine Notizen in einen Pappkarton, führte ihn nach Hause und verstaute ihn auf dem winzigen Dachboden in der Kommode aus der elterlichen Wohnung, die zu verkaufen er und Leslie sich nicht hatten entschließen können.
Nun, da diese Arbeit abgeschlossen war, hatte er noch mehr unausgefüllte Zeit als zuvor. Eines Nachmittags kam er um halb drei Uhr nach Hause. Leslie war eben damit beschäftigt, ihre Einkaufsliste zusammenzustellen.
»Post ist gekommen«, sagte sie.
Es war der neue Vertrag, den Phil Golden ihm angekündigt hatte.
Bei seiner Durchsicht stellte Michael fest, daß er äußerst großzügig war, über fünf Jahre lautete und eine beträchtliche Steigerung seines Einkommens mit dem Beginn jedes neuen Jahres vorsah. Michael wußte, daß er nach Ablauf der fünf Jahre einen Vertrag auf Lebensdauer bekommen würde.
Er legte das Schriftstück achtlos auf den Tisch, und Leslie las es, ohne einen Kommentar abzugeben.
»Es ist so gut wie eine Jahresrente«, sagte er. »Vielleicht fange ich an, ein Buch zu schreiben. Zeit hab ich ja genug.«
Sie nickte und beschäftigte sich wieder mit ihrer Einkaufsliste. Er unterschrieb den Vertrag nicht, sondern verwahrte ihn vorläufig im obersten Fach seines Schlafzimmerschranks unter der Schachtel mit den Manschettenknöpfen.
Er kam zurück in die Küche, setzte sich zu Leslie an den Tisch, rauchte und sah ihr zu.
»Ich werde die Einkäufe für dich besorgen«, sagte er.
»Das kann ich doch machen. Du hast sicher etwas anderes zu tun.«
»Ich habe gar nichts zu tun.«
Sie musterte ihn mit einem schnellen Blick und setzte zu einer Antwort an, besann sich aber dann anders.
»Gut«, sagte sie.
Ein paar Tage später kam der Brief:
23 Park Lane Wyndham, Pennsylvania 3. Oktober 1953