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Die Wochen vergingen so schnell, daß Michael erstaunt war, als die Ausschußmitglieder des Tempels mit einem neuen Vertrag bei ihm erschienen und er gewahr wurde, daß ein Jahr vergangen war. Dieser neue Vertrag lautete über zwei Jahre, und er unterschrieb ihn ohne Zögern. Tempel Emeth war sein Tempel. Der Gottesdienst war jeden Freitagabend gut besucht, und Michaels Predigten lösten beim oneg schabat lebhafte Diskussionen aus. Zu Rosch-Haschana und Joni-Kipur mußte er jeweils zwei Gottesdienste abhalten. Während des zweiten am letzten Tag von Jom-Kipur erinnerte er sich plötzlich daran, wie einsam und nutzlos er sich in San Francisco gefühlt hatte.

Er betrieb Eheberatung, aber so wenig wie möglich. Es stellte sich heraus, daß er selbst ein Eheproblem zu bewältigen hatte. Nach ihrer Obersiedlung hatten er und Leslie gefunden, Max sei nun alt genug, einen Bruder oder eine Schwester zu bekommen. Sie verwendeten also keine Schutzmittel mehr, zuversichtlich hoffend, daß der schon einmal vollzogene Zeugungsakt sich mühelos wiederholen ließ. Leslie packte das Pessar in Talkumpuder und legte die kleine Schachtel in die Zedernkiste zu den Reservedecken. So ergaben sie sich zwei- bis dreimal pro Woche mit großen Erwartungen der Liebe, aber nach einem Jahr mußte Michael erleben, daß er jedesmal nachher noch wach lag, während sie ihm den Rücken zukehrte und, auf jedes Nachspiel verzichtend, schon eingeschlafen war. Er hingegen starrte dann ins Dunkel und sah dort die Gesichter seiner ungeborenen Kinder und fragte sich, warum sie so schwer zum Leben zu erwecken waren. Er betete zu Gott um Beistand und ging dann oftmals barfuß ins Zimmer seines Sohnes, wo er beunruhigt die Decke zurechtschob, so daß sie Max bis an das kindliche Kinn reichte. Er sah auf die magere Gestalt hinunter, die so wehrlos vor ihm im Schlaf lag, ledig aller Revolver, ledig auch der Oberzeugung, man könne jedem Übel schon durch einen Schlag in den Magen begegnen. Und abermals betete er um Leben und Glück seines Kindes.

So vergingen viele seiner Nächte.

Die Leute starben, und er übergab sie der wartenden Erde. Er predigte, er betete, die Leute verliebten sich, und er machte ihre Liebe rechtskräftig und segnete sie. Der Sohn des Mathematikprofessors Sidney Landau ging mit der blonden Tochter des schwedischen Leichtathletiktrainers Jensen durch. Und während Mrs. Landau ihren Kummer mit Schlafmitteln betäubte, begab sich Michael mit ihrem Mann noch in der Nacht zu Mr. und Mrs. Jensen und ihrem Geistlichen, einem Lutheraner namens Ralph Jurgen. Am Ende eines unerfreulichen Abends schritten Michael und Professor Landau über das ausgestorbene Universitätsgelände.

»Die machen sich genau solche Sorgen wie wir«, sagte Landau. »Sie haben genau solche Angst.«

»Gewiß.«

»Werden Sie mit den jungen Leuten reden, wenn sie zurückkommen?«

»Das wissen Sie doch.«

»Es wird zu nichts führen. Die Eltern des Mädchens sind fromm.

Sie haben ja den Pastor gesehen.«

»Nur nichts vorwegnehmen, Sidney. Erst abwarten, bis sie zurückkommen. Geben Sie ihnen eine Chance, sich zurechtzufinden.« Und nach einer Weile: »Ich bin recht vertraut mit ihrem Problem.«

»Das kann ich mir denken«, sagte Professor Landau. »Ich hätte mit Ihrem Vater reden sollen, nicht mit Ihnen.«

Michael schwieg. Professor Landau sah ihn an. »Kennen Sie die Geschichte von dem gramgebeugten jüdischen Vater, der zum Rabbi kommt und ihm sein Leid klagt: der Sohn sei mit einer schiksse davongelaufen und habe sich taufen lassen?«

»Kenn ich nicht«, sagte Michael.

»>Rabbi<, sagt der Mann, >Rabbi, was soll ich tun, mein Sohn ist geworden ein goj.<

Der Rabbi schüttelt das Haupt. >Wem sagst du das? Ich hab auch einen Sohn gehabt, und er hat genommen eine schiksse und ist geworden ein goj.<

>Und was hast du getan?< Antwortet der Rabbi: >Ich bin gegangen in den Tempel und hab gebetet. Und plötzlich ist da eine gewaltige Stimme. <

>Und was hat Er gesagt, Rabbi?<

>Was willst du? Ich hab auch einen Sohn gehabt ...<«

Sie lachten beide, aber es klang nicht froh. An seiner Straßenecke angelangt, war Professor Landau sichtlich erleichtert, sich verabschieden zu können. »Gute Nacht, Rabbi.«

»Gute Nacht, Sidney. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen.«

Im Weggehen hörte Michael ihn leise vor sich hinweinen. So vergingen viele seiner Tage.

38

Michael stand auf dem gekiesten Bahnsteig, und während er Max an der Hand hielt, sahen die beiden der Einfahrt des Vier-Uhr-Zwei-Zuges aus Philadelphia zu. Als die Lokomotive vorbeidonnerte, verstärkte Max seinen Griff.

»Erschrocken?« fragte Michael. »Es zischt so schrecklich.«

»Wenn du erst größer bist, erschrickst du nicht mehr«, sagte Michael gegen jede Überzeugung.

»Nein, dann nicht mehr«, sagte der Junge, ließ aber die Hand seines Vaters nicht los.

Leslie wirkte müde, als sie aus dem Waggon stieg und ihnen entgegenkam. Nachdem sie die beiden mit einem Kuß begrüßt hatte, stiegen sie in den grünen Tudor Ford, der den blauen Plymouth schon lange ersetzte. »Na, wie war es?« fragte Michael.

Sie hob die Schultern. »Dr. Reisman ist ja sehr nett. Er hat mich gründlich untersucht, hat alle Befunde studiert und hat dann gemeint, es müßte einfach klappen, wenn wir beide zusammenkommen. Und dann hat er mir Mut gemacht und mir zugeredet, ich sollte es nur weiter versuchen, und dann habe ich seiner Ordinationshilfe unsere Adresse gegeben, damit sie dir die große Rechnung schicken kann.«

»Ausgezeichnet.«

»Und außerdem hat er mir einiges gesagt, was wir machen sollen.«

»Was denn?«

»Das werden wir später üben«, sagte sie, während sie Max an sich zog und ihn zärtlich umarmte. »Dich haben wir doch wenigstens, Gott sei Dank«, murmelte sie, das Gesicht im Haar ihres Jungen vergraben.

Und dann: »Du, Michael, machen wir doch ein paar Tage Urlaub.«

Genau das, was auch ich will, schoß es ihm durch den Kopf. »Wir könnten Vater in Atlantic City besuchen«, sagte er.

»Dort waren wir doch erst. Nein, ich wüßte was Besseres. Wir nehmen uns einen Babysitter und ziehen los, wir beide ganz allein!

Fahren auf zwei, drei Tage in die Poconos hinauf.«

»Wann?«

»Warum nicht gleich morgen?«

Aber am Abend, Max wurde eben von Leslie gebadet, läutete das Telephon, und Michael führte ein längeres Gespräch mit Felix Sommers, dem Vorsitzenden des Bauausschusses. Sie waren soeben von einer Informationsreise zurückgekommen.

»Haben Sie auch den neuen Tempel in Pittsburgh besichtigt?«

fragte Michael.

»Ein sehr schöner Tempel«, sagte Professor Sommers. »Nicht gerade das, was wir uns vorstellen, aber wirklich sehr, sehr schön. übrigens, der dortige Rabbiner kennt Sie und läßt Sie grüßen. Rabbi Levy.«

»joe Levy. Netter Kerl. -Übrigens, Felix, wie viele Tempel haben wir uns jetzt schon angesehen?«