Ich beobachte sein Team und die Leute von Great Benefit, und sie sehen alles andere als erfreut aus. Die Fakten sprechen gegen sie. Sie haben eine Klägerjury. Der Richter ist ihnen feindlich gesinnt. Und ihr Star hat nicht nur jede Glaubwürdigkeit bei den Geschworenen verloren, sondern außerdem noch Prügel bezogen.
Kipler entläßt uns, und die Geschworenen gehen nach Hause.
Kapitel 43
Sechs Tage nach der Auswahl der Geschworenen und vier Tage vor Prozeßbeginn nimmt Deck im Büro den Anruf eines Anwalts in Cleveland entgegen, der mit mir sprechen möchte. Ich bin sofort argwöhnisch, weil ich keinen einzigen Anwalt in Cleveland kenne, und ich rede mit dem Mann gerade so lange, bis er seinen Namen genannt hat. Das dauert ungefähr zehn Sekunden, dann lege ich mitten in einem seiner Sätze auf und tue so, als wäre das Gespräch irgendwie unterbrochen worden. Das kommt in letzter Zeit dauernd vor, erkläre ich Deck so laut, daß es im Hörer deutlich zu verstehen ist. Dann nehmen wir die Hörer aller drei Bürotelefone ab, und ich laufe auf die Straße hinunter zu meinem Volvo. Butch hat mein Autotelefon überprüft, und es scheint frei von Wanzen zu sein. Ich lasse mir von der Auskunft die Nummer des Anwalts in Cleveland geben, dann rufe ich ihn an.
Der Anruf erweist sich als überaus wichtig.
Er heißt Peter Corsa. Seine Spezialität ist Arbeitsrecht und jede Art der Diskriminierung von Angestellten, und er vertritt eine junge Frau namens Jackie Lemancyzk. Sie hat den Weg in seine Kanzlei gefunden, nachdem sie von Great Benefit aus völlig unerfindlichen Gründen entlassen worden war, und jetzt haben sie gemeinsam vor, wegen einer Vielzahl von Mißständen Schadenersatz zu verlangen. Im Gegensatz zu dem, was mir erzählt wurde, hat Ms. Lemancyzk Cleveland nicht verlassen. Sie ist in eine andere Wohnung mit einem nicht eingetragenen Telefon umgezogen.
Ich informiere Corsa, daß wir ein Dutzend Anrufe in Cleveland und Umgebung gemacht, aber keine Spur von Jackie Lemancyzk gefunden haben. Und daß einer der großen Bosse, Richard Pellrod, behauptet hat, sie wäre in ihren Heimatort zurückgekehrt.
Stimmt nicht, sagt Corsa. Sie hat sich zwar versteckt, Cleveland aber nie verlassen.
Was nun kommt, ist eine wunderbar saftige Geschichte, und Corsa läßt kein Detail aus.
Seine Mandantin hatte sexuelle Beziehungen zu mehreren ihrer Bosse bei Great Benefit. Er versichert mir, daß sie sehr gut aussieht. Ihre Beförderung und ihr Gehalt hingen davon ab, ob sie sich bereit erklärte, mit bestimmten Leuten ins Bett zu gehen. Eine Zeitlang war sie leitende Schadenssachbearbeiterin, die einzige Frau, die diese Position je erlangt hatte, verlor diesen Posten aber wieder, als sie eine Affäre mit Everett Lufkin, dem Vizepräsidenten der Schadensabteilung, beendete, der offenbar ein widerlicher Typ ist mit einer Vorliebe für abartige Sexpraktiken.
Ich pflichte ihm bei, daß der Mann ein widerlicher Typ ist. Ich habe ihn vier Stunden lang vernommen, und ich werde ihn mir nächste Woche im Zeugenstand vorknöpfen.
Sie werden Great Benefit wegen sexueller Belästigung und anderer strafbarer Handlungen verklagen, aber sie weiß auch über eine Menge schmutziger Wäsche in der Schadensabteilung Bescheid. Sie hat schließlich mit dem Vizepräsidenten der Schadensabteilung geschlafen. Es wird eine Menge Prozesse geben, prophezeit er.
Schließlich stelle ich die große Frage.»Wird sie kommen und aussagen?«
Er weiß es nicht. Vielleicht. Aber sie hat Angst. Das sind niederträchtige Leute mit einer Menge Geld. Im Augenblick macht sie eine Therapie, sie ist sehr labil.
Er erklärt sich einverstanden, daß ich mich am Telefon mit ihr unterhalte, und wir verabreden ein Gespräch am späten Abend am Apparat in meiner Wohnung. Ich erkläre ihm, daß es nicht ratsam ist, mich in meinem Büro anzurufen.
Es ist unmöglich, an etwas anderes zu denken als an den Prozeß. Wenn Deck nicht da ist, wandere ich in meinem Büro herum, führe Selbstgespräche, erkläre den Geschworenen, wie wahrhaft niederträchtig Great Benefit ist, nehme ihre Leute ins Kreuzverhör, verhöre behutsam Dot und Ron und Dr. Kord, trage den Geschworenen ein ziemlich hinreißendes Schlußplädoyer vor. Es fällt mir immer noch schwer, die Geschworenen um eine Geldstrafe von zehn Millionen Dollar zu bitten und dabei keine Miene zu verziehen. Wenn ich fünfzig Jahre alt wäre, Hunderte von Fällen verhandelt hätte und wüßte, was zum Teufel ich tue, dann hätte ich vielleicht das Recht, eine Jury um zehn Millionen zu bitten. Aber bei einem Anfänger, der erst vor neun Monaten sein Studium beendet hat, muß es absurd klingen.
Aber ich bitte sie trotzdem. Ich tue es in meiner Kanzlei, in meinem Wagen und vor allem in meiner Wohnung, oft um zwei Uhr nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Ich rede mit diesen zwölf Gesichtern, denen ich jetzt Namen geben kann, diesen wunderbar fairen Leuten, die mir zuhören und nicken und es nicht abwarten können, in den Gerichtssaal zurückzukehren und Recht zu sprechen.
Ich bin im Begriff, auf Gold zu stoßen, Great Benefit in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung zu vernichten, und ich bemühe mich ununterbrochen, diese Gedanken unter Kontrolle zu halten. Das ist verdammt schwer. Die Fakten, die Jury, der Richter, die besorgten Anwälte auf der anderen Seite. Das macht zusammen eine Menge Geld.
Irgend etwas muß einfach schiefgehen.
Ich unterhalte mich eine Stunde lang mit Jackie Lemancyzk. Manchmal hört sie sich kräftig und eindringlich an, dann wieder kann sie kaum klar denken. Sie hat mit keinem dieser Männer schlafen wollen, sagt sie immer wieder, aber es war die einzige Möglichkeit, voranzukommen. Sie ist geschieden und hat zwei Kinder.
Sie erklärt sich bereit, nach Memphis zu kommen. Ich biete ihr an, ihr den Flug und die anderen Unkosten zu bezahlen, und es gelingt mir, dieses Angebot so klingen zu lassen, als verfügte unsere Kanzlei über unbegrenzte Mittel. Sie verlangt von mir das Versprechen, daß es, falls sie aussagt, für Great Benefit eine absolute Überraschung sein muß.
Sie hat eine Heidenangst vor diesen Leuten. Ich denke, es wäre eine großartige Überraschung.
Das Wochenende vorbringen wir im Büro, mit nur ein paar
Stunden Schlaf in unseren jeweiligen Wohnungen, dann kehren wir wie verlorene Schafe ins Büro zurück und arbeiten weiter.
Meine seltenen Momente der Entspannung verdanke ich Tyrone Kipler. Ich habe ihm insgeheim tausendmal dafür gedankt, daß wir die Geschworenen eine Woche vor dem Prozeß auswählen durften und daß er mir gestattet hat, außerhalb des Protokolls ein paar Worte an sie zu richten. Vorher war die Jury ein großer Teil des Unbekannten, ein Element, vor dem ich ungeheure Angst hatte. Jetzt kenne ich ihre Namen und ihre Gesichter, und ich habe mich mit den Leuten ohne Zuhilfenahme schriftlicher Notizen unterhalten. Sie mögen mich. Und sie verabscheuen meine Gegner.
Trotz all meiner Unerfahrenheit bin ich fest davon überzeugt, daß Richter Kipler mich vor mir selbst retten wird.
Am Sonntag gegen Mitternacht sagen Deck und ich uns gute Nacht. Als ich das Büro verlasse, schneit es leicht. Leichter Schneefall bedeutet in Memphis in der Regel, daß die Schule eine Woche lang ausfällt und alle Regierungsbehörden geschlossen sind. Die Stadt hat nie einen Schneepflug angeschafft.
Ein Teil von mir wünscht sich einen Schneesturm, damit der morgige Tag verschoben wird. Ein anderer Teil will es endlich hinter sich bringen.
Bis ich bei meiner Wohnung angekommen bin, hat es aufgehört zu schneien. Ich trinke zwei warme Dosen Bier und bete um Schlaf.
«Irgendwelche Präliminarien?«fragt Kipler eine angespannte Gruppe in seinem Büro. Ich sitze neben Drummond, und wir schauen beide über den Schreibtisch hinweg Seine Ehren an. Meine Augen sind rot von einer nahezu schlaflosen Nacht, mein Kopf schmerzt, und mein Gehirn denkt an zwanzig Dinge gleichzeitig.