Ich habe nur ein paar Anmerkungen. Erstens, Great Benefit gibt jetzt zu, ein Unrecht begangen zu haben, und offeriert Zweihunderttausend Dollar als Friedensangebot. Warum? Weil sie jetzt auf ihren Fingernägeln kauen und inbrünstig darum beten, daß ihnen nichts Schlimmeres passiert, als zweihunderttausend Dollar herausrücken zu müssen. Zweitens: Hat Mr. Drummond diese Fehler zugegeben und das Geld angeboten, als er am Montagmorgen vor die Geschworenen getreten ist? Nein, das hat er nicht getan. Er hat zu diesem Zeitpunkt bereits alles gewußt, was er jetzt weiß, also warum hat er Ihnen nicht rundheraus gesagt, daß sein Mandant ein Unrecht begangen hat? Warum nicht? Weil sie gehofft haben, daß man die Wahrheit nicht erfahren würde. Und jetzt, da die
Wahrheit ans Licht gekommen ist, sind sie regelrecht demütig geworden.
Ich ende damit, daß ich die Geschworenen provoziere. Ich sage:»Wenn Sie nichts Besseres zustande bringen als die zweihunderttausend Dollar, dann behalten Sie sie. Wir wollen sie nicht. Sie sind für eine Operation bestimmt, die nie stattfmden wird. Wenn Sie nicht der Ansicht sind, daß Great Benefit bestraft werden muß, dann behalten Sie die zweihunderttausend Dollar, und wir gehen alle nach Hause. «Ich wandere an der Geschworenenbank entlang und sehe jedem einzelnen Geschworenen in die Augen. Sie werden mich nicht im Stich lassen.
«Danke«, sage ich und kehre auf meinen Platz neben meiner Mandantin zurück. Während Richter Kipler ihnen letzte Instruktionen erteilt, befällt mich ein berauschendes Gefühl der Erleichterung. Ich entspanne mich wie nie zuvor. Es gibt keine weiteren Zeugen oder Dokumente oder Schriftsätze, keine weiteren Anhörungen oder einzuhaltenden Termine, keine Bedenken mehr um den einen oder anderen Geschworenen. Ich hole tief Luft und sacke auf meinem Stuhl zusammen. Ich könnte tagelang schlafen.
Diese innerliche Ruhe dauert ungefähr fünf Minuten, bis die Geschworenen aufstehen, um sich zur Beratung zurückzuziehen. Es ist kurz vor halb elf.
Jetzt beginnt das Warten.
Deck und ich gehen in den zweiten Stock des Gerichtsgebäudes und reichen die Riker-Scheidung ein. Dann begeben wir uns in Kiplers Richterzimmer. Der Richter gratuliert mir zu einer guten Leistung, und ich danke ihm zum hundertsten Male. Aber ich habe etwas anderes auf dem Herzen und zeige ihm eine Kopie der Scheidungsklage. Ich erzähle ihm kurz von Kelly Riker und den Schlägen und ihrem verrückten Ehemann und frage ihn, ob er bereit ist, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, die Mr. Riker verbietet, sich Mrs. Riker zu nähern. Kipler haßt Scheidungen, aber ich habe ihn an der Angel. Dies ist praktisch Routine in Mißhandlungsfällen. Er vertraut mir und unterschreibt die Anordnung. Kein Wort über die Geschworenen. Sie sind jetzt seit einer Viertelstunde draußen.
Butch wartet auf dem Flur und bekommt eine Kopie der Scheidungsklage, der von Richter Kipler unterschriebenen einstweiligen Anordnung und der Vorladung. Er hat sich bereit erklärt, sie Cliff an seiner Arbeitsstelle auszuhändigen. Ich bitte ihn abermals, es nach Möglichkeit so zu tun, daß der Junge nicht in Verlegenheit gebracht wird.
Wir warten eine Stunde im Gerichtssaal. Drummond und seine Leute haben sich auf der einen Seite zusammengeschart. Ich, Deck, Cooper Jackson, Hurley und Grunfeld bilden eine Gruppe auf der anderen. Ich stelle mit einiger Belustigung fest, daß die Typen von Great Benefit sich von ihren Anwälten fernhalten; aber vielleicht ist es auch umgekehrt. Underhall, Aldy und Lufkin sitzen mit düsteren Gesichtern in der hintersten Reihe. Sie warten auf ein Erschießungskommando.
Um zwölf wird Lunch in das Geschworenenzimmer gebracht, und Kipler entläßt uns bis halb zwei. In meinem Magen herrscht ein derartiges Chaos, daß ich unmöglich Essen darin behalten könnte. Auf der Fahrt quer durch die Stadt zu Robins Wohnung rufe ich Kelly über mein Autotelefon an. Kelly ist allein. Sie trägt einen weiten Jogginganzug und geborgte Turnschuhe. Sie konnte weder Kleidung noch Kosmetika mitnehmen. Sie geht unsicher, unter großen Schmerzen. Ich helfe ihr zu meinem Wagen, öffne die Tür, schiebe sie behutsam hinein, hebe ihre Beine an und schwenke sie herum. Sie beißt die Zähne zusammen und beklagt sich nicht. Die Prellungen in ihrem Gesicht und an ihrem Hals sind in der Sonne viel dunkler.
Beim Verlassen der Wohnanlage ertappe ich sie dabei, wie sie sich umsieht, als rechnete sie damit, daß Cliff aus dem Gebüsch springt.»Das haben wir gerade eingereicht«, sage ich und gebe ihr eine Kopie der Scheidungsklage. Sie hält sie vors Gesicht und liest, während wir uns durch den Verkehr schieben.
«Wann bekommt er sie?«fragt sie.
«Wahrscheinlich gerade jetzt.«
«Er wird durchdrehen.«
«Er ist schon durchgedreht.«
«Er wird hinter dir her sein.«
«Das hoffe ich. Aber er wird es nicht tun, weil er ein Feigling ist. Männer, die ihre Frauen schlagen, sind die allerniedrigste Kategorie von Feiglingen. Mach dir keine Sorgen. Ich habe eine Waffe.«
Das Haus ist alt und unterscheidet sich in nichts von den anderen in der Straße. Der Rasen ist tief und breit und dicht beschattet. Die Nachbarn hätten Mühe, irgendeine Bewegung auszumachen. Ich halte am Ende der Zufahrt an und parke hinter zwei anderen Wagen. Ich lasse Kelly im Auto und klopfe an einen Seiteneingang. Über eine Sprechanlage werde ich aufgefordert, mich auszuweisen. Sicherheit hat hier oberste Priorität. An allen Fenstern sind die Vorhänge zugezogen, und den Hintergarten begrenzt ein mindestens zweieinhalb Meter hoher Holzzaun.
Die Tür wird halb geöffnet, und eine kräftig gebaute Frau mustert mich. Ich bin nicht in der Stimmung für Konfrontationen. Ich habe fünf Prozeßtage hinter mir und bin nahe daran, ausfällig zu werden.»Ich möchte zu Betty Norvelle«, sage ich.
«Das bin ich. Wo ist Kelly?«
Ich deute mit einem Kopfnicken auf den Wagen.
«Bringen Sie sie herein.«
Ich könnte sie ohne weiteres tragen, aber die Rückseiten ihrer Beine sind so zerschlagen, daß es für sie leichter ist, selbst zu gehen. Wir manövrieren uns den Fußweg entlang und auf die Veranda. Ich habe das Gefühl, als eskortierte ich eine neunzigjährige Großmutter. Betty lächelt sie an und führt uns in einen kleinen Raum. Es ist eine Art Büro. Wir lassen uns nebeneinander an einem Tisch nieder; Betty sitzt uns gegenüber. Ich habe heute morgen mit ihr gesprochen, und sie will eine Kopie der Scheidungsklage. Sie überfliegt sie schnell. Kelly und ich halten uns bei den Händen.
«Sie sind also ihr Anwalt«, sagt Betty, die memanderliegen-den Hände registrierend.
«Ja. Und außerdem ihr Freund.«
«Wann sollen Sie wieder zum Arzt kommen, Kelly?«
«In einer Woche«, sagt Kelly.
«Sie brauchen im Augenblick also keine medizinische Betreuung?«
«Nein.«
«Medikamente?«
«Nur ein paar Schmerztabletten.«
Sie ist mit dem Papierkram zufrieden. Ich schreibe einen Scheck über zweihundert Dollar aus — eine Kaution und die Gebühr für den ersten Tag.
«Wir sind kein lizensiertes Unternehmen«, erklärt Betty.»Dies ist eine Zuflucht für mißhandelte Frauen, deren Leben in Gefahr ist. Sie gehört einer Frau, die selbst mißhandelt worden ist, und ist eine von mehreren in dieser Gegend. Niemand weiß, daß wir hier sind. Niemand weiß, was wir tun. Und wir möchten, daß es so bleibt. Sind Sie beide bereit, diese Vertraulichkeit zu wahren?«
«Natürlich. «Wir nicken beide, und Betty schiebt uns ein Formular zu, das wir unterschreiben sollen.
«Es ist doch nicht illegal, oder?«fragt Kelly. In Anbetracht der ominösen Begleitumstände ist dies eine naheliegende Frage-
«Im Grunde nicht. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, daß man uns den Laden dichtmacht. Dann ziehen wir einfach woandershin. Wir sind jetzt seit vier Jahren hier, und niemand hat etwas dagegen gehabt. Ihnen ist klar, daß Sie höchstens sieben Tage bleiben können?«