Ich versuche, nicht daran zu denken. Wir haben nicht darüber gesprochen, und ich habe auch nicht die Absicht, dieses
Thema zur Sprache zu bringen. Kein Wort von Cliff, seit ihm die Papiere zugestellt wurden.
Sie hat hier an diesem Zufluchtsort eine andere Frau kennengelernt, eine Mutter von drei Teenagern, die so verängstigt und traumatisiert ist, daß sie kaum imstande war, einen einfachen Satz zu beenden. Sie ist im Nebenzimmer. Im Haus herrscht Totenstille. Kelly hat ihr Zimmer nur einmal verlassen, um auf der Hinterveranda zu sitzen und frische Luft zu schöpfen. Sie hat versucht zu lesen, aber ihr linkes Auge ist noch immer fast gänzlich zugeschwollen, und auf dem rechten kann sie zeitweise nur verschwommen sehen. Der Arzt hat gesagt, es wäre kein permanenter Schaden.
Sie hat ein paarmal geweint, und ich verspreche ihr immer wieder, daß dies die letzten Schläge waren. Es wird nie wieder passieren, und wenn ich den Dreckskerl mit eigenen Händen umbringen muß. Und ich meine es ernst. Ich bin ganz sicher, daß ich, falls er sich ihr noch einmal nähern sollte, ihm das Gehirn wegpusten könnte.
Verhaftet mich. Klagt mich an. Macht mir den Prozeß. Gebt mir zwölf Leute auf den Geschworenenbänken. Ich habe eine Glückssträhne.
Ich erzähle ihr nichts von dem Urteil. Hier, wo ich neben ihr in diesem dunklen, kleinen Zimmer sitze und John Wayne beim Reiten zusehe, scheint Kiplers Gerichtssaal tage- und meilenweit entfernt zu sein.
Und dies hier ist genau der Ort, an dem ich sein möchte.
Wir essen den Rest der Pizza und schmiegen uns eng aneinander. Wir halten uns bei den Händen wie zwei Teenager. Aber ich muß sehr vorsichtig sein, weil sie buchstäblich überall vom Kopf bis zu den Knien verletzt ist.
Der Film geht zu Ende, und es kommen die Zehn-UhrNachrichten. Plötzlich interessiert es mich, ob der Black-Fall erwähnt wird. Nach den obligatorischen Morden und Vergewaltigungen und nach dem ersten Werbeblock verkündet der Moderator ziemlich großspurig:»In einem Gerichtssaal in Memphis wurde heute Geschichte geschrieben. In einem Zivilprozeß hat eine Jury die Great Benefit Life Insurance Company in Cleveland, Ohio, zu einer Rekordgeldstrafe von fünfzig Millionen Dollar verurteilt. Rodney Frate mit den Einzelheiten. «Ich kann nicht anders, ich muß lächeln. Wir sehen Rodney Frate live und vor Kälte zitternd vor dem Shelby County Courthouse stehen, das jetzt natürlich seit etlichen Stunden verlassen ist.»Arnie, vor ungefähr einer Stunde habe ich mit Pauline McGregor gesprochen, der Kanzlistin hier am Gericht, und sie hat mir bestätigt, daß gegen vier Uhr heute nachmittag eine Jury in Abteilung Acht unter dem Vorsitz von Richter Tyrone Kipler mit einem Urteil über zweihunderttausend Dollar Schadenersatz und einer Geldstrafe von fünfzig Millionen in den Saal zurückgekehrt ist. Ich habe auch mit Richter Kipler gesprochen, der sich weigerte, vor die Kamera zu treten. Er sagte, bei diesem Fall wäre es um die böswillige Verweigerung eines Anspruchs durch Great Benefit gegangen. Mehr wollte er nicht sagen, außer daß seines Wissens diese Geldstrafe die höchste ist, die jemals in Tennessee verhängt wurde. Ich habe mit mehreren Prozeßanwälten hier in der Stadt gesprochen, und keiner von ihnen hat je von einer so hohen Summe gehört. Leo F. Drummond, der Anwalt der Beklagten, wollte keinen Kommentar abgeben. Rudy Baylor, der Anwalt der Kläger, war nicht zu erreichen. Zurück zu Ar-nie.«
Arnie geht rasch zu einem Lastwagenunfall auf der Interstate 55 über.
«Du hast gewonnen?«fragt sie. Sie ist nicht verblüfft, nur unsicher.
«Ich habe gewonnen.«
«Fünfzig Millionen Dollar?«
«Ja. Aber noch ist das Geld nicht auf der Bank.«
«Rudy!«
Ich zucke die Achseln, als wäre das bloßer Alltagskram.»Ich hatte Glück«, sage ich.
«Aber du bist doch gerade erst mit dem Studium fertig geworden?«
Was soll ich sagen?» So schwierig war das nicht. Wir hatten eine großartige Jury, und die Tatsachen haben sich einfach ergeben.«
«Ja, einfach so, als passierte das jeden Tag.«
«Schön war's.«
Sie nimmt die Fernbedienung und dämpft die Lautstärke. Sie will weiter darüber reden.»Deine Bescheidenheit funktioniert nicht. Sie ist nur gespielt.«
«Du hast recht. Im Augenblick bin ich der beste Anwalt der Welt.«
«Schon besser«, sagt sie und versucht zu lächeln. Ich habe mich schon beinahe an die Verletzungen in ihrem Gesicht gewöhnt. Ich starre sie nicht mehr so an, wie ich es heute nachmittag im Wagen getan habe. Ich kann es kaum abwarten, daß eine Woche vergeht und sie wieder so hinreißend aussieht wie vorher.
Ich schwöre, ich könnte ihn umbringen.
«Wieviel davon bekommst du?«fragt sie.
«Du kommst gleich zur Sache, ja?«
«Ich bin nur neugierig«, sagt sie mit einer Stimme, die fast kindlich klingt. Im Geiste sind wir jetzt ein Liebespaar, und dazu gehört, daß man kichert und gurrt.
«Ein Drittel, aber bis dahin ist es noch ein langer Weg.«
Sie will sich zu mir umdrehen, aber das verursacht ihr derartige Schmerzen, daß sie fast aufstöhnt. Ich helfe ihr, sich auf den Bauch zu legen. Sie kämpft gegen Tränen an, und ihr Körper ist verspannt. Wegen der Prellungen kann sie nicht auf dem Rücken schlafen.
Ich streiche ihr übers Haar und flüstere in ihr Ohr, bis die Gegensprechanlage uns unterbricht. Es ist Betty Norvelle unten. Meine Zeit ist um.
Kelly drückt meine Hand ganz fest, als ich sie auf die verletzte Wange küsse und ihr verspreche, morgen wiederzukommen. Sie fleht mich an, nicht zu gehen.
Die Vorteile, meinen ersten Prozeß mit einem derartigen Urteil abgeschlossen zu haben, liegen auf der Hand. Der einzige Nachteil, den ich in den letzten paar Stunden erkennen konnte, ist der, daß es von nun an nur noch abwärtsgehen kann. Jeder künftige Mandant wird die gleiche Zauberei erwarten. Doch darüber zerbreche ich mir später den Kopf. Ich sitze am Samstag vormittag allein in meinem Büro und warte auf einen Reporter und seinen Fotografen, als das Telefon läutet.»Hier ist Cliff Riker«, sagt eine rauhe Stimme, und ich drücke sofort auf den Knopf des Aufnahmegeräts.
«Was wollen Sie?«
«Wo ist meine Frau?«
«Sie haben Glück, daß sie nicht im Leichenschauhaus ist.«
«Ich werde Ihnen den Arsch aufreißen, Sie Großmaul.«
«Reden Sie ruhig weiter, mein Junge. Das Band läuft.«
Er legt rasch auf, und ich starre das Telefon an. Es ist ein billiges Modell, das die Kanzlei in einem K-Markt gekauft hat, aber es ist sauber.
Ich rufe Butch zu Hause an und informiere ihn über mein kurzes Gespräch mit Mr. Riker. Butch hat wegen der gestrigen Auseinandersetzung, als er ihm die Papiere überbrachte, noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Cliff hat ihm unflätige Beschimpfungen an den Kopf geworfen und sogar seine Mutter beleidigt. Nur die Anwesenheit zweier Kollegen von Cliff auf dem nahe gelegenen Parkplatz hatte Butch daran gehindert, über ihn herzufallen. Butch hat mir gestern abend gesagt, wenn es zu irgendwelchen Drohungen käme, würde er gern eingreifen. Er hat einen Freund, der Rocky heißt und stundenweise als Rausschmeißer arbeitet, und zusammen sind sie ein beeindruckendes Paar, hat Butch mir versichert. Er muß mir versprechen, daß er dem Jungen nur Angst einjagt, ihn aber nicht verletzt. Butch sagt mir, er hätte vor, Cliff irgendwo allein aufzuspüren, das Telefongespräch zu erwähnen, ihm zu sagen, daß sie meine Leibwächter wären und daß auch nur eine einzige Drohung schwerwiegende Folgen hätte. Dabei würde ich gern zuschauen. Ich bin entschlossen, nicht in Angst zu leben.
Das ist Butchs Vorstellung von einem netten Zeitvertreib.
Der Reporter von der Memphis Press kommt um elf. Wir unterhalten uns, während der Fotograf einen ganzen Film ver-knipst. Er will alles über den Fall und den Prozeß wissen, und ich sage ihm, was er hören will. Das ist jetzt öffentliche Information. Ich sage nette Dinge über Drummond, wundervolle Dinge über Kipler, grandiose Dinge über die Geschworenen.