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Kelly ist allein da drinnen, verängstigt, und beantwortet hundert Fragen, wie es passiert ist, und ich sitze hier, plötzlich Mr. Feigling, ducke mich hinter mein Lenkrad und hoffe, daß mich niemand sieht. Warum habe ich sie allein gelassen? Sollte ich losgehen und sie retten? In meinem Kopf herrscht Chaos, mein Blick ist verschwommen, und die hektisch blitzenden roten und blauen Lichter blenden mich.

Er kann nicht tot sein. Schwerverletzt, vielleicht. Aber nicht tot.

Ich denke, ich werde wieder zu ihr in die Wohnung gehen.

Der Schock läßt nach, und jetzt überfällt mich die Angst. Ich wünsche mir, daß sie Cliff auf einer Tragbahre herausbringen und mit ihm davonjagen, ihn ins Krankenhaus bringen, ihn wieder zusammenflicken. Plötzlich will ich ihn am Leben sehen. Mit einem lebendigen Cliff, selbst einem irren, kann ich fertig werden. Komm schon, Cliff. Komm schon, Junge. Steh auf und komm da drüben raus.

Ich habe doch keinen Mann umgebracht.

Die Menge wird größer, und ein Polizist winkt die Leute zurück.

Ich verliere alles Gespür für die Zeit. Ein Leichenwagen trifft ein, und das löst in der Menge aufgeregtes Gemurmel aus. Cliff wird nicht in der Ambulanz fahren. Cliff wird ins Leichenschauhaus gebracht.

Ich öffne die Tür und erbreche mich so leise wie möglich gegen den neben meinem stehenden Wagen. Niemand hört mich. Dann wische ich mir den Mund ab und dränge mich in die Menge.»Nun hat er sie schließlich doch umgebracht«, höre ich jemanden sagen. Polizisten eilen in die Wohnung und wieder heraus. Ich bin fünfzehn Meter entfernt, verborgen in einem Meer von Gesichtern. Die Polizei spannt ein gelbes Band um das gesamte Ende des Gebäudes. Für ein paar Sekunden flammt hinter den Fenstern das Blitzlicht einer Kamera auf.

Wir warten. Ich muß sie sehen, aber es gibt nichts, was ich tun könnte. Ein weiteres Gerücht macht die Runde durch die Menge, und diesmal trifft es zu. Er ist tot. Und sie glauben, daß sie ihn umgebracht hat. Ich höre aufmerksam zu, was gesagt wird, denn wenn jemand gesehen hat, wie ein Fremder nicht lange nach dem Gebrüll und Geschrei die Wohnung verlassen hat, dann muß ich es wissen. Ich bewege mich langsam herum und höre genau hin. Ich erfahre nichts. Dann ziehe ich mich für ein paar Sekunden zurück und erbreche mich abermals hinter ein paar Sträuchern.

An der Haustür bewegt sich etwas. Ein Sanitäter kommt rückwärts heraus und zieht eine Bahre hinter sich her. Der Tote steckt in einem silberfarbenen Plastiksack. Sie rollen ihn den Fußweg entlang zum Leichenwagen, dann bringen sie ihn weg. Minuten später erscheint Kelly, flankiert von zwei Polizisten. Sie sieht winzig und verängstigt aus. Aber wenigstens trägt sie keine Handschellen. Sie hatte Gelegenheit, sich umzuziehen und trägt jetzt Jeans und einen Parka.

Sie verfrachten sie auf den Rücksitz eines Streifenwagens und fahren davon. Ich gehe rasch zu meinem Wagen und mache mich auf den Weg zum Polizeirevier.

Ich informiere den diensthabenden Sergeant, daß ich Anwalt bin, daß meine Mandantin soeben festgenommen wurde und daß ich darauf bestehe, bei ihrem Verhör zugegen zu sein. Ich sage dies mit hinreichendem Nachdruck, und er ruft irgend jemanden an. Ein weiterer Sergeant kommt mich holen, und ich werde in den zweiten Stock gebracht, wo Kelly allein in einem Verhörzimmer sitzt. Ein Detektiv namens Smotherton mustert sie durch ein einseitiges Fenster. Ich gebe ihm eine meiner Karten. Er weigert sich, mir die Hand zu reichen.

«Ihr Burschen seid immer schnell zur Stelle, nicht wahr?«sagt er verächtlich.

«Sie hat mich angerufen, gleich nachdem sie 911 gewählt hatte. Was haben Sie festgestellt?«

Wir betrachten sie beide. Sie sitzt am Ende eines langen Tisches und wischt sich die Augen mit einem Papiertaschentuch.

Smotherton grunzt, während er überlegt, was er mir sagen soll.»Fanden ihren Mann tot auf dem Fußboden, Schädelbruch, sieht aus wie von einem Baseballschläger. Sie hat nicht viel gesagt, nur daß sie sich scheiden lassen will, sich in die Wohnung geschlichen hat, um ihre Sachen zu holen, er fand sie, sie kämpften. Er war ziemlich betrunken. Irgendwie bekam sie den Schläger in die Hand, und jetzt ist er im Leichenschauhaus. Sie betreiben ihre Scheidung?«

«Ja. Ich kann Ihnen eine Kopie zugehen lassen. Vorige Woche hat der Richter angeordnet, daß er sich von ihr fernzuhalten hat. Er hat sie seit Jahren immer wieder geschlagen.«

«Wir haben die Verletzungen gesehen. Ich möchte ihr nur ein paar Fragen stellen, okay?«

«Klar. «Wir betreten gemeinsam das Zimmer. Kelly ist überrascht, mich zu sehen, schafft es aber, cool zu bleiben. Wir umarmen uns auf höfliche Anwalt-Mandanten-Manier. Ein weiterer Detektiv in Zivil erscheint, Officer Hamlet, der ein Aufnahmegerät mitbringt. Ich habe keine Einwände. Nachdem er es eingeschaltet hat, ergreife ich die Initiative.»Fürs Protokoll. Ich bin Rudy Baylor, Anwalt von Kelly Riker. Heute ist Montag, der 15. Februar 1993. Wir befinden uns im Polizeipräsidium von Memphis. Ich bin anwesend, weil meine Mandantin mich um ungefähr neunzehn Uhr fünfundvierzig heute abend angerufen hat. Sie hatte gerade 911 gewählt und sagte, sie glaubte, ihr Mann wäre tot.«

Ich nicke Smotherton zu, als wäre er jetzt an der Reihe, und er sieht mich an, als würde er mich am liebsten erwürgen. Polizisten hassen Verteidiger, aber im Augenblick ist mir das völlig egal.

Smotherton beginnt mit einer Reihe von Fragen über Kelly und Cliff — grundlegende Informationen wie Geburtsdaten, Eheschließung, Beschäftigung, Kinder und so weiter. Sie beantwortet sie geduldig, mit einem abwesenden Ausdruck in

den Augen. Die Schwellung ist aus ihrem Gesicht verschwunden, aber ihr linkes Auge ist immer noch schwarz und blau, und die Braue ist noch immer verpflastert. Sie ist völlig verängstigt.

Sie beschreibt die Mißhandlungen so detailliert, daß wir alle drei entsetzt sind. Smotherton schickt Hamlet los, die Unterlagen über Cliff's drei Festnahmen wegen der Mißhandlungen zu holen. Sie redet über Vorfälle, über die es keine Unterlagen gibt, weil sie nie schriftlich festgehalten wurden. Sie erzählt von dem Softballschläger und wie er damit ihren Knöchel gebrochen hat. Er hat sie auch ein paarmal so geschlagen, wenn er ihr gerade nicht die Knochen brechen wollte.

Sie redet über die letzte Attacke, dann über den Entschluß, ihn zu verlassen und sich zu verstecken und die Scheidung einzureichen. Sie ist durch und durch glaubwürdig, weil alles wahr ist. Es sind die kommenden Lügen, die mir Sorgen machen.

«Weshalb sind Sie heute abend in die Wohnung gegangen?«fragt Smotherton.

«Um meine Sachen zu holen. Ich war sicher, daß er nicht dasein würde.«

«Wo haben Sie die letzten Tage verbracht?«

«In einem Haus für mißhandelte Frauen.«

«Wo ist das?«

«Das möchte ich nicht sagen.«

«Hier in Memphis?«

«Ja.«

«Wie sind Sie heute abend zu Ihrer Wohnung gekommen?«

Bei dieser Frage setzt mein Herz einen Schlag aus, aber sie hat bereits darüber nachgedacht.»Mit meinem Wagen«, sagt sie.

«Was für ein Wagen ist das?«

«Ein Volkswagen-Käfer.«

«Wo ist er jetzt?«

«Auf dem Parkplatz vor meiner Wohnung.«

«Können wir ihn uns ansehen?«

«Nicht, bevor ich es getan habe«, sage ich, mich plötzlich erinnernd, daß ich hier der Anwalt bin und nicht etwa ein Mitverschwörer.

Smotherton schüttelt den Kopf. Wenn Blicke töten könnten.

«Wie sind Sie in die Wohnung gekommen?«