Es ist Peter Corsa, Jackie Lemancyzks Anwalt in Cleveland. Ich habe zuletzt nach ihrer Aussage mit ihm gesprochen, ein Gespräch, bei dem ich ihm ausgiebig gedankt habe. Damals hat er mir erzählt, daß er selbst in wenigen Tagen seine Klage einreichen würde.
Corsa gratuliert mir zu dem Urteil, sagt, es hätte große Schlagzeilen in der Sonntagszeitung von Cleveland gemacht.
Und dann erzählt er mir, daß bei Great Benefit merkwürdige Dinge vorgingen. Heute morgen hätte das FBI, in Zusammenarbeit mit dem Generalstaatsanwalt von Ohio und der Versicherungsaufsicht des Staates, die Büros der Gesellschaft durchsucht und angefangen, Unterlagen zu beschlagnahmen. Mit Ausnahme der Computeranalytiker in der Buchhaltung wurden alle Angestellten nach Hause geschickt und angewiesen, für die nächsten beiden Tage ihren Arbeitsplatz zu meiden. Einem gerade erschienenen Zeitungsartikel zufolge ist PinnConn, die Muttergesellschaft, Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen und hat massenhaft Angestellte entlassen.
Dazu kann ich nicht viel sagen. Vor achtzehn Stunden habe ich einen Mann umgebracht, und es fällt mir schwer, mich auf Dinge zu konzentrieren, die damit nichts zu tun haben. Wir plaudern. Ich danke ihm. Er verspricht, mich auf dem laufenden zu halten.
Es kostet mich anderthalb Stunden, bis ich Kelly irgendwo im Labyrinth des Gefängnisses ausfindig gemacht und veranlaßt habe, daß man sie ins Besucherzimmer bringt. Wir sitzen auf beiden Seiten einer Glasscheibe und unterhalten uns über Telefone. Sie sagt mir, daß ich müde aussehe. Ich sage ihr, daß sie großartig aussieht. Sie hat eine Einzelzelle, aber es ist laut, und sie kann nicht schlafen. Sie möchte so schnell wie möglich hier raus. Ich sage ihr, daß ich tue, was ich kann. Ich erzähle ihr von meinem Gespräch mit Morgan Wilson und erkläre ihr, wie eine Kaution funktioniert. Von den Morddrohungen erzähle ich ihr nicht.
Es gibt so vieles, worüber wir reden müßten, aber nicht hier.
Als wir uns voneinander verabschiedet haben und ich das Besucherzimmer verlasse, ruft eine Wärterin in Uniform meinen Namen. Sie fragt, ob ich der Anwalt von Kelly Riker sei, dann gibt sie mir einen Ausdruck.»Das ist unser Telefonregister. In den letzten zwei Stunden hatten wir vier Anrufe wegen dieser Frau.«
«Was für Anrufe?«
«Morddrohungen. Von irgendwelchen Irren.«
Richter Lonnie Shankle trifft; um halb vier in seinem Büro ein. Deck und ich warten auf ihn. Er hat hundert Dinge zu tun, aber Booker hat angerufen und mit der Sekretärin des Richters geflirtet, also sind die Räder geölt. Ich gebe dem Richter einen Packen Papiere, liefere ihm einen Fünf-Minuten-Bericht über den Fall und ende mit der Bitte um eine niedrige Kaution, weil ich, der Anwalt, sie stellen muß. Shankle setzt die Kauhon auf zehntausend Dollar fest. Wir danken ihm und gehen.
Eine halbe Stunde später sind wir alle im Gefängnis. Ich weiß, daß Butch eine Waffe in einem Schulterholster hat, und ich vermute, daß der Kautionssteiler, ein Mann namens Rick, gleichfalls bewaffnet ist. Wir sind auf alles gefaßt.
Ich schreibe Rick einen Scheck über fünfhundert Dollar für die Kaution aus und unterschreibe alle erforderlichen Papiere. Wenn die Anklage gegen sie nicht fallengelassen wird oder wenn sie zu irgendwelchen Gerichtsterminen nicht erscheint, muß Rick entweder die restlichen neuntausendfünfhundert Dollar abschreiben oder sie finden, aufgreifen und ins Gefängnis zurückbefördern. Ich habe ihn überzeugt, daß die Anklage fallengelassen wird.
Es dauert eine Ewigkeit, sie loszueisen, aber endlich sehen wir sie auf uns zukommen, ohne Handschellen, mit einem Lächern. Wir begleiten sie rasch zu meinem Wagen. Ich habe Butch und Deck gebeten, uns ein paar Blocks weit zu folgen, nur sicherheitshalber.
Ich informiere Kelly über die Morddrohungen. Wir vermuten, daß es seine Verwandten und Arbeitskollegen sind. Wir reden wenig, während wir schnell die Innenstadt hinter uns lassen und zu dem Frauenhaus fahren. Ich möchte nicht über den gestrigen Abend reden, und auch sie ist noch nicht dazu bereit.
Um fünf Uhr am Dienstag nachmittag meldet Great Benefit beim Bundesgericht in Cleveland Konkurs an. Peter Corsa ruft im Büro an, während ich Kelly verstecke, und Deck nimmt den Anruf entgegen. Als ich ein paar Minuten später eintreffe, ist Deck leichenblaß.
Wir sitzen, mit den Füßen auf dem Schreibtisch, lange Zeit wortlos in meinem Büro. Totale Stille. Keine Stimmen. Kein Telefon. Keine Verkehrsgeräusche von unten. Wir hatten unsere Diskussion darüber, wieviel Deck von dem Honorar bekommen würde, aufgeschoben, er weiß also nicht, wieviel er verloren hat. Aber wir wissen beide, daß wir von Papiermillionären zu nahezu Insolventen geworden sind. Unsere hochfliegenden Träume von gestern kommen uns albern vor.
Es gibt noch einen Funken Hoffnung. Noch in der vorigen Woche sah die Bilanz von Great Benefit solide genug aus, um eine Jury zu überzeugen, daß die Gesellschaft fünfzig Millionen Dollar entbehren könnte. M. Wilfred Keeley schätzte ihr Barvermögen auf hundert Millionen. Sicherlich steckte ein Teil Wahrheit darin. Ich erinnere mich an die Warnungen von Max Leuberg. Verlassen Sie sich nicht auf die Zahlen einer Versicherungsgesellschaft; die machen ihre Buchführungsregeln selbst.
Aber bestimmt muß doch irgendwo noch eine Million für uns drinstecken.
Im Grunde glaube ich es nicht, und Deck glaubt es auch nicht.
Corsa hat seine Privatnummer hinterlassen, und endlich bringe ich die Kraft auf, ihn anzurufen. Er entschuldigt sich für die schlechte Nachricht, sagt, in Juristen- und Finanzkreisen in Cleveland herrsche heller Aufruhr. Es ist noch zu früh, um Genaues zu erfahren, aber es sieht so aus, als hätte PinnConn beim Spekulieren mit ausländischen Währungen schwere Verluste einstecken müssen. Daraufhin hätten sie angefangen, die riesigen Geldreserven der Tochtergesellschaften, darunter auch die von Great Benefit, anzuzapfen. Die Lage verschlechterte sich, und das Geld wurde von PinnConn einfach abgezogen und nach Europa transferiert. Der größte Teil der Aktien von PinnConn gehört einer Gruppe amerikanischer Finanzpiraten, die in Singapur operieren. Es hört sich an, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen.
Die Sache entwickelt sich rasch zu einem gewaltigen Coup, dessen Aufdeckung Monate dauern kann. Der dortige Bundesanwalt war heute nachmittag im Fernsehen und hat Strafverfolgung angekündigt. Das hilft uns auch nicht weiter.
Corsa wird morgen früh wieder anrufen.
Ich informiere Deck über das Gespräch, und wir wissen beide, daß es hoffnungslos ist. Das Geld ist von Gangstern beiseite geschafft worden, die zu gerissen sind, um sich erwischen zu lassen. Tausende von Versicherungsnehmern, die legitime Ansprüche hatten und schon einmal leer ausgegangen sind, sind abermals angeschmiert. Deck und ich sind angeschmiert. Ebenso Dot und Buddy. Donny Ray ist am meisten angeschmiert. Drummond ist angeschmiert, wenn er seine beachtliche Rechnung für juristische Dienste präsentiert. Ich erwähne das Deck gegenüber, aber es fällt uns schwer, zu lachen.
Die Angestellten und Agenten von Great Benefit sind angeschmiert. Leute wie Jackie Lemancyzk müssen es ausbaden.
Unglück liebt Gesellschaft, aber irgendwie ist mir zumute, als hätte ich mehr verloren als all diese anderen Leute. Die Tatsache, daß auch andere leiden werden, ist nur ein sehr geringer Trost.
Ich denke wieder an Donny Ray. Ich sehe ihn unter dem Baum sitzen und tapfer versuchen, Kraft für seine Aussage zu sammeln. Er hat für die Dieberei von Great Benefit den höchsten Preis gezahlt.
Ich habe den größten Teil des letzten halben Jahres mit der Arbeit an diesem Fall verbracht, und nun ist diese Zeit vergeudet. Die Kanzlei hat, seit wir damit anfingen, im Durchschnitt monatlich ungefähr tausend Dollar Gewinn gemacht, aber wir wurden angespornt von der Hoffnung auf das große Geld aus dem Black-Fall. In unseren Akten stecken nicht genügend Honorare, um die nächsten beiden Monate zu überleben, und ich denke nicht daran, mich auf irgendwelche Leute zu stürzen. Deck hat einen guten Verkehrsunfall, der aber erst spruchreif wird, wenn der Mandant aus ärztlicher Behandlung entlassen worden ist, was in ungefähr sechs Monaten der Fall sein wird. Und es ist bestenfalls ein Zwanzigtausend-Dollar-Vergleich.