«Guten Morgen«, sagt er mit dröhnender Stimme.»Was kann ich für Sie tun?«Was für eine netter Kerl.
Sie will etwas sagen, aber ich komme ihr zuvor.»Ich möchte mit Mr. Nunley sprechen«, sage ich.
«Das bin ich«, erwidert er und streckt mir die rechte Hand entgegen.»Rod Nunley.«
«Ich bin Rudy Baylor«, sage ich, ergreife die Hand und schüttele sie.»Ich bin Jurastudent im dritten Jahr an der Memphis State, kurz vor der Graduierung, und ich wollte mit Ihnen über einen Job reden.«
Wir schütteln uns immer noch die Hände, und sein Händedruck wird nicht spürbar schlaffer, als ich von Arbeitssuche spreche.»Ja«, sagt er.»Einen Job, wie?«Er schaut auf die Sekretärin hinunter, als wollte er sagen:»Wie konnten Sie das zulassen?«
«Ja, Sir. Wenn Sie nur zehn Minuten erübrigen könnten. Ich weiß, daß Sie sehr beschäftigt sind.«
«Ja, nun, in ein paar Minuten muß ich eine Zeugenaussage aufnehmen und dann so schnell wie möglich zum Gericht. «Er ist im Begriff, auf dem Absatz kehrtzumachen, schaut erst mich an, dann sie, dann auf die Uhr. Aber im Grunde ist er ein guter Kerl mit einem weichen Kern. Vielleicht hat er eines Tages vor noch nicht allzu langer Zeit selber auf dieser Seite der Schlucht gestanden. Ich bettele mit den Augen und strecke ihm die dünne Mappe mit meinen Unterlagen und meinem Brief entgegen.
«Also gut, kommen Sie rein. Aber nur für eine Minute.«
«Ich melde mich in zehn Minuten«, sagt sie schnell, ein Wiedergutmachungsversuch. Wie alle vielbeschäftigten Anwälte schaut er auf die Uhr, betrachtet sie eine Sekunde, dann weist er sie ernst an:»Ja, maximal zehn Minuten. Und rufen Sie Blanche an und sagen Sie ihr, daß ich ein paar Minuten später komme.«
Sie sind gut aufeinander eingespielt, diese beiden. Sie tun mir den Gefallen, aber sie haben rasch mein schnelles Verschwinden arrangiert.
«Kommen Sie mit, Rudy«, sagt er mit einem Lächeln. Während wir den Flur entlanggehen, klebe ich an seinem Rücken.
Sein Büro ist ein quadratischer Raum mit einer Bücherwand hinter dem Schreibtisch und einer recht hübschen Ego-Wand gegenüber der Tür. Ich überfliege rasch die zahlreichen gerahmten Zertifikate — langjähriges Mitglied des Rotary Clubs, Förderer der Pfadfinder, Anwalt des Monats, ein Foto von Rod mit einem rotgesichtigen Politiker, Mitglied der Handelskammer. Dieser Mann rahmt alles ein.
Ich kann die Uhr ticken hören, nachdem wir uns einander gegenüber an seinem riesigen Schreibtisch niedergelassen haben, der aussieht, als wäre er aus einem Versandhauskatalog ausgewählt worden.»Entschuldigen Sie, daß ich Sie so überfallen habe«, fange ich an,»aber ich brauche wirklich dringend einen Job.«
«Wann graduieren Sie?«fragt er und lehnt sich auf den Ellenbogen vor.
«Nächsten Monat. Ich weiß, daß ich ziemlich spät dran bin, aber dafür gibt es einen guten Grund. «Und dann erzähle ich ihm die Geschichte von meinem Job bei Broadnax and Speer. Als ich zu der Sache mit Tinley Britt komme, mache ich mir seinen vermutlichen Abscheu vor großen Firmen zunutze. Es ist eine natürliche Rivalität, die kleinen Leute wie mein Freund Rod hier, die Feld-Wald-und-Wiesen-Anwälte, gegen die seidenbestrumpften Überflieger in den Hochhäusern der Innenstadt. Ich schwindele ein bißchen, als ich behaupte, daß Tinley Britt mit mir über einen Job reden wollte, dann unterstreiche ich den auf der Hand liegenden Punkt, daß ich einfach außerstande bin, für eine große Firma zu arbeiten. Liegt mir nicht. Dafür liebe ich meine Unabhängigkeit zu sehr. Ich will Leute vertreten, nicht große Gesellschaften.
Das nimmt kaum fünf Minuten in Anspruch.
Er ist ein guter Zuhörer, ein bißchen nervös angesichts der im Hintergrund läutenden Telefone. Er weiß, daß er mich nicht einstellen wird, also hört er einfach zu und wartet, bis meine zehn Minuten um sind.»Was für ein mieser Trick«, sagt er mitfühlend, als ich mit meiner Geschichte fertig bin.
«Vielleicht ist es gut, daß es so gekommen ist«, sage ich wie ein Opferlamm.»Aber ich bin bereit, mich in die Arbeit zu stürzen. Ich werde im oberen Drittel meines Jahrgangs abschließen. Ich interessiere mich für Immobilienangelegenheiten, und ich habe zwei Seminare über Grundbesitz absolviert. Beide mit guten Noten.«
«Wir haben viel mit Grundstücksangelegenheiten zu tun«, sagt er selbstgefällig, als wäre es die einträglichste Arbeit auf der Welt.»Und mit Prozessen«, sagt er noch selbstgefälliger. In Wirklichkeit sitzt er natürlich fast ausschließlich in seinem Büro, ein Papiertiger. Dabei macht er seine Sache wahrscheinlich recht gut und verdient genug, um sich ein angenehmes Leben leisten zu können. Aber er will, daß ich ihn außerdem für einen tollen Hecht im Gerichtssaal halte, mit allen Wassern gewaschen. Er sagt das, weil es einfach das ist, was Anwälte immer tun, es ist Teil der Routine. Ich kenne noch nicht viele Anwälte, aber einer, der mir nicht einreden wollte, daß er seine Gegner im Gerichtssaal jederzeit zu Kleinholz verarbeiten kann, muß mir erst noch begegnen.
Meine Zeit läuft ab.»Ich habe mir mein Studium selbst erarbeitet. Die ganzen sieben Jahre. Kein Pfennig von zu Hause.«
«Was für Arbeit?«
«Alles mögliche. Im Augenblick arbeite ich bei Yogi's, bediene an den Tischen, stehe an der Bar.«
«Sie sind Barmann?«
«Ja, Sir. Unter anderem.«
Er hat mein Resümee in die Hand genommen.»Sie sind ledig«, sagt er langsam. Das steht da, schwarz auf weiß.
«Ja, Sir.«
«Irgendeine ernsthafte Romanze?«
Das geht ihn wirklich nichts an, aber mir bleibt keine andere Wahl.»Nein, Sir.«
«Sie sind doch nicht schwul, oder?«
«Nein, natürlich nicht«, und es folgt ein kurzer Augenblick gemeinsamer, heterosexueller Belustigung. Zwei normale weiße Männer.
Er lehnt sich zurück, und sein Gesicht ist plötzlich ernst, als wendete er sich jetzt äußerst wichtigen Geschäften zu.»Wir haben seit mehreren Jahren keinen neuen Anwalt mehr eingestellt. Nur aus Neugierde — was zahlen die großen Firmen in der Innenstadt ihren Anfängern heutzutage?«
Seine Frage hat einen Grund. Ganz gleich, was ich antworte, er wird sich schockiert und fassungslos geben über derart exorbitante Gehälter in den Hochhäusern. Und damit schafft er die Basis für jedes weitere Gespräch über Geld.
Lügen hat keinen Zweck. Er ist vermutlich ziemlich gut über die Gehaltsskala informiert. Anwälte lieben Klatsch.
«Wie Sie wissen, hält sich Tinley Britt viel darauf zugute, daß sie die höchsten Gehälter zahlen. Ich habe gehört, es wären bis zu fünfzigtausend.«
Sein Kopf gerät in Bewegung, noch bevor ich ausgeredet habe.»Kaum zu glauben«, sagt er fassungslos.»Kaum zu glauben.«
«Ich wäre nicht so teuer«, verkünde ich rasch. Ich habe beschlossen, mich billig an jeden zu verkaufen, der bereit ist, mir ein Angebot zu machen. Meine Unkosten sind niedrig, und wenn ich erst einmal einen Fuß in der Tür habe, werde ich ein paar Jahre hart arbeiten, und dann läuft mir vielleicht etwas anderes über den Weg.
«An wieviel hatten Sie gedacht?«fragte er, als könnte seine tüchtige kleine Kanzlei mit den großen Firmen mithalten.
«Ich würde für die Hälfte arbeiten. Fünfundzwanzigtausend. Achtzig Stunden die Woche. Ich grabe sämtliche Karteileichen aus, kümmere mich um den ganzen unerfreulichen Kram, und Sie und Mr. Ross und Mr. Perry können mir all die Fälle geben, von denen Sie wünschen, Sie hätten sie nie übernommen. Keine sechs Monate, und ich hätte sie erledigt. Das verspreche ich Ihnen. Ich würde im Laufe der ersten zwölf Monate mein Geld mehr als verdienen, und wenn nicht, dann gehe ich wieder.«
Rods Lippen öffnen sich tatsächlich, und ich kann seine Zähne sehen. Seine Augen tanzen bei der Vorstellung, den Mist aus seinem Büro schaufeln und bei jemand anderem abladen zu können. Ein lautes Summen kommt aus seinem Telefon, gefolgt von ihrer Stimme:»Mr. Nunley, Ihre eidesstattliche Erklärung. Sie werden erwartet.«