Miss Birdies Testament ist unvollständig und noch nicht unterschrieben. In den letzten Tagen war sie deswegen ziemlich gereizt. Ich bin nicht sicher, ob sie es tatsächlich ändern will. Sie sagt, sie hätte nichts mehr von Reverend Kenneth Chandler gehört; deshalb würde sie ihm ihr Vermögen vielleicht doch nicht hinterlassen. Ich habe versucht, sie in diesem Entschluß zu bestärken.
Wir hatten ein paar Unterhaltungen über ihr Geld. Es macht ihr Spaß zu warten, bis ich bis über beide Ohren in Mulch und Blumenerde stecke, während mir der Schweiß von der Nase trieft, der feuchte Torf überall klebt und sie jede meiner Bewegungen genau verfolgt, um dann plötzlich eine völlig abwegige Frage zu stellen wie:»Kann Delberts Frau mein Testament anfechten, wenn ich ihm nichts vermache?«oder:»Weshalb kann ich das Geld nicht einfach gleich weggeben?«
Dann halte ich inne, komme unter den Blumen hervor, wische mir das Gesicht ab und versuche, mir eine intelligente Antwort einfallen zu lassen. In der Regel hat sie bis dahin das Thema gewechselt und will wissen, weshalb die Azaleen da drüben nicht richtig wachsen.
Ich habe das Thema mehrere Male beim Kafee zur Sprache gebracht, aber sie wurde jedesmal nervös und reizbar. Sie hegt einen gesunden Argwohn gegen Anwälte.
Es ist mir gelungen, ein paar Fakten zu verifizieren. Sie war in der Tat ein zweites Mal verheiratet, mit einem Mr. Anthony Murdine. Ihre Ehe dauerte ungefähr fünf Jahre, bis er vor vier Jahren in Atlanta starb. Allem Anschein nach hinterließ Mr. Murdine ein umfangreiches Vermögen, und offensichtlich gab es darüber beträchtliche Streitigkeiten, denn das Gericht in De Kalb County, Georgia, ordnete die Versiegelung der Akte an. Weiter bin ich nicht gekommen. Ich habe vor, mit einigen der Anwälte zu sprechen, die mit dem Nachlaß zu tun hatten.
Miss Birdie möchte mit mir reden, eine richtiggehende Besprechung, damit sie sich wichtig fühlen kann vor ihren Leutchen. Wir sitzen an einem Tisch in der Nähe des Klaviers, weit weg von den anderen, und stecken die Köpfe zusammen. Man könnte meinen, wir hätten uns seit einem Monat nicht mehr gesehen.
«Ich muß wissen, was ich mit Ihrem Testament anfangen soll, Miss Birdie«, sage ich.»Und bevor ich es aufsetzen kann, muß ich ein bißchen mehr über das Geld wissen.«
Sie wirft hektische Blicke um sich, als hörten alle zu. In Wirklichkeit könnten die meisten dieser armen Seelen uns nicht einmal hören, wenn wir uns gegenseitig anschreien würden. Sie beugt sich vor und haucht hinter vorgehaltener Hand:»Nichts davon steckt in Immobilien, okay? Termingeld, Investmentfonds, Kommunalobligationen.«
Ich bin verblüfft, wie sie diese Begriffe herunterrattert, als wären sie ihr bestens vertraut. Das Geld muß tatsächlich vorhanden sein.
«Wer kümmert sich darum?«frage ich. Die Frage ist unnö-tig. Für das Testament spielt es keine Rolle, wer ihr Geld verwaltet. Es ist pure Neugierde, die mich treibt.
«Eine Firma in Atlanta.«
«Eine Anwaltsfirma?«frage ich bestürzt.
«Oh, nein. Anwälten würde ich es nicht anvertrauen. Eine Treuhandgesellschaft. Das ganze Geld wird treuhänderisch verwaltet Ich bekomme die Zinsen, bis ich sterbe, dann kann ich es jemandem hinterlassen. So hat es der Richter bestimmt.«
«Wie hoch ist das Einkommen aus den Zinsen?«frage ich, völlig außer Kontrolle geraten.
«Also, das geht Sie nun wirklich nichts an, Rudy.«
Nein, das tut es nicht. Ich habe einen Klaps auf die Hand bekommen, aber in bester Anwaltstradition versuche ich, mir den Rücken zu decken.»Nun, es könnte wichtig sein. Aus steuerlichen Gründen.«
«Ich habe Sie nicht gebeten, sich um meine Steuern zu kümmern, oder? Dafür habe ich einen Steuerberater. Ich habe Sie lediglich gebeten, mein Testament zu ändern, aber allmählich habe ich doch den Eindruck, daß es Ihnen über den Kopf wächst.«
Bosco kommt ans andere Ende des Tisches und grinst uns an. Er hat kaum noch Zähne im Mund. Sie fordert ihn höflich auf, zu verschwinden und ein paar Minuten Parcheesi zu spielen. Sie geht erstaunlich sanft und freundlich um mit diesen Leuten.
«Ich setze Ihr Testament so auf, wie Sie es haben wollen, Miss Birdie«, sage ich ernst.»Aber Sie müssen sich entscheiden, was Sie wollen.«
Sie setzt sich gerade hin, atmet dramatisch aus und preßt ihr Gebiß zusammen.»Lassen Sie mich darüber nachdenken.«
«Okay. Aber vergessen Sie eines nicht. In Ihrem jetzigen Testament stehen viele Dinge, die Ihnen nicht gefallen. Falls Ihnen etwas zustoßen sollte, dann…«
«Ich weiß, ich weiß«, unterbricht sie mich und fuchtelt mit den Händen.»Sie brauchen mir keinen Vortrag zu halten. Ich habe in den letzten zwanzig Jahren zwanzig Testamente aufgesetzt. Ich weiß Bescheid.«
Bosco weint drüben in der Nähe der Küche, und sie rennt los, um ihn zu trösten. Booker ist Gott sei Dank mit seinen Konsultationen fertig. Sein letzter Mandant ist der alte Mann, mit dem er bei unserem ersten Besuch soviel Zeit verbracht hat. Es ist offensichtlich, daß der alte Bursche nicht sonderlich glücklich ist über Bookers Beurteilung seiner Bredouille, und ich höre, wie Booker bei dem Versuch, endlich wegzukommen, sagt:»Hören Sie, es ist umsonst. Was erwarten Sie eigentlich?«
Wir verabschieden uns von Miss Birdie und verziehen uns eilig. Die juristischen Probleme alter Leute sind nun Geschichte. In ein paar Tagen ist Schluß mit den Vorlesungen und Seminaren.
Nachdem wir drei Jahre lang das Jurastudium gehaßt haben, steht uns nun plötzlich die Befreiung bevor. Ich habe einmal einen Anwalt sagen hören, daß es ein paar Jahre dauert, bis die Qualen und das Elend des Studiums vergessen sind und man, wie bei den meisten Dingen im Leben, nur noch schöne Erinnerungen hat. Er wirkte regelrecht melancholisch, als er von seiner herrlichen Studentenzeit schwärmte.
Ich kann mir den Moment in meinem Leben nicht vorstellen, an dem ich auf die vergangenen drei Jahre zurückblicke und erkläre, daß sie trotz allem schön waren. Vielleicht bin ich eines Tages imstande, ein paar nette kleine Erinnerungen auszugraben an Zeiten, die ich mit Freunden verbracht habe, in denen ich mit Booker unterwegs war oder im Yogi's an der Bar bedient habe, oder an andere Dinge und Ereignisse, die mir im Moment nicht einfallen. Und ich bin sicher, daß Booker und ich lachen werden über diese netten Alten hier in Cypress Gardens und das Vertrauen, das sie in uns gesetzt haben.
Eines Tages mag es spaßig sein.
Ich schlage vor, daß wir bei Yogi's ein Bier trinken. Auf meine Kosten. Es ist zwei Uhr, und es regnet, genau das richtige, um sich an einen Tisch zu setzen und einen Nachmittag zu vertrödeln.
Booker würde wirklich gern mitkommen, aber er muß in einer Stunde im Büro sein. Marvin Shankle hat ihm einen Fall zur Bearbeitung übergeben, der am Montagmorgen vor Gericht verhandelt werden soll. Er wird das ganze Wochenende in der Bibliothek verbringen müssen.
Shankle arbeitet sieben Tage die Woche. Seine Kanzlei hat bei einem großen Teil der Bürgerrechtsprozesse in Memphis Pionierarbeit geleistet, und jetzt zahlt sich das aus. Er beschäftigt zweiundzwanzig Anwälte, ausschließlich Schwarze, die Hälfte davon weiblich, die alle versuchen, das brutale Arbeitspensum zu bewältigen, das Marvin Shankle verlangt. Die Sekretärinnen arbeiten in Schichten, so daß vierundzwanzig Stunden am Tag immer mindestens drei verfügbar sind. Shankle ist Bookers Idol, und ich weiß: Binnen weniger Wochen wird auch er sonntags arbeiten.
Ich komme mir vor wie ein Bankräuber, der in den Vororten herumfährt, die Filialen ausspioniert und sich überlegt, welche am leichtesten zu überfallen ist. Die Kanzlei, nach der ich suche, finde ich in einem modernen, vierstöckigen Gebäude aus Glas und Stein. Sie liegt in Ost-Memphis, an einer vielbefahrenen Straße, die nach Westen in Richtung Innenstadt und zum Fluß verläuft. Hier haben sich die Weißen niedergelassen, die aus anderen Stadtteilen vor den Schwarzen geflüchtet sind.