In der Kanzlei arbeiten vier Anwälte, alle Mitte Dreißig, alle Absolventen der Memphis State. Ich habe gehört, daß sie Studienfreunde waren und für große Firmen in der Stadt arbeiteten, bis sie den ständigen Druck satt hatten und dann hier wieder zusammenkamen, um eine geruhsamere Kanzlei zu eröffnen. Ich habe ihre Anzeige in den Gelben Seiten gesehen, ganzseitig; Gerüchten zufolge kostet so eine Anzeige viertausend im Monat. Sie machen alles, von Scheidungen über Kaufverträge bis hin zu Grundbuchsachen, aber natürlich verkündete der fetteste Druck in ihrer Anzeige ihre Erfahrung auf dem Gebiet von PERSONENSCHÄDEN.
Einerlei, was ein Anwalt wirklich tut — in den allermeisten Fällen wird er behaupten, daß er sich auf dem Gebiet der Personenschäden allerbestens auskennt. Denn für die überwiegende Mehrheit der Anwälte, die keine Mandanten haben, denen sie ihre Arbeit stundenweise berechnen können, besteht die einzige Hoffnung auf großes Geld darin, Leute zu vertreten, die verletzt wurden oder ums Leben gekommen sind. In den meisten Fällen ist es leicht verdientes Geld. Nehmen wir einen Mann, der bei einem Autounfall verletzt wurde; Schuld hat der andere Fahrer, der versichert ist. Der Verletzte liegt eine Woche im Krankenhaus, mit gebrochenem Bein, bekommt keinen Lohn. Wenn der Anwalt es schafft, vor dem Schadensregulierer der Versicherung bei ihm zu sein, kommt es vielleicht zu einem Vergleich über fünfzigtausend Dollar. Der Anwalt verbringt ein bißchen Zeit mit Papierkram, muß aber wahrscheinlich nicht einmal Klage einreichen. Er investiert maximal dreißig Stunden Arbeit und kassiert ein Honorar um die fünfzehntausend. Das sind fünfhundert Dollar pro Stunde.
Großartige Arbeit, wenn man sie bekommen kann. Deshalb schreit fast jeder Anwalt auf den Gelben Seiten nach Unfallopfern. Erfahrung vor Gericht ist nicht erforderlich, neunundneunzig Prozent der Fälle enden mit einem Vergleich. Die einzige Kunst besteht darin, die Leute dazu zu bringen, daß sie einem den Fall übertragen.
Mir ist egal, wie sie inserieren. Mir geht es nur darum, ob ich ihnen eine Stelle abschwatzen kann oder nicht. Ein paar Minuten bleibe ich in meinem Wagen sitzen, während der Regen auf die Windschutzscheibe prasselt. Ich würde mich lieber auspeitschen lassen, als in das Büro zu gehen, die Frau am Empfang anzulächeln, auf sie einzureden wie ein Hausierer und meine neueste Masche auszuprobieren, um an ihr vorbeizukommen und mit einem ihrer Bosse zu sprechen.
Ich kann einfach nicht glauben, was ich hier tue.
Kapitel 11
Unter dem Vorwand, ich hätte ein paar Vorstellungsgespräche bei verschiedenen Anwaltskanzleien, gehe ich nicht zur Abschlußfeier. Vielversprechende Gespräche, versichere ich Booker, aber ihm kann ich nichts vormachen. Booker weiß, daß ich nur von Tür zu Tür gehe und meine Bewerbungsunterlagen über die Stadt verteile wie Konfetti.
Booker ist der einzige Mensch, dem etwas daran liegt, daß ich mich in Talar und Barett werfe und an den Lustbarkeiten teilnehme. Er ist enttäuscht, daß ich nicht dabei bin. Meine Mutter und Hank kampieren irgendwo in Maine und schauen zu, wie die Bäume grün werden. Ich habe vor ungefähr einem Monat mit ihr telefoniert, und sie hat keine Ahnung, wann ich mit dem Studium fertig sein werde.
Ich habe gehört, daß die Zeremonie ziemlich öde ist. Unmengen von Reden von langatmigen alten Richtern, die die Abgänger beschwören, die Juristerei zu lieben, sie als ehrenhafte Profession zu betreiben, die man achten muß wie eine eifersüchtige Geliebte, und das Ansehen wiederherzustellen, dem unsere Vorgänger mit ihren Missetaten so sehr geschadet haben. Ad nauseam. Da sitze ich lieber im Yogi's und sehe zu, wie Prince auf Ziegenrennen wettet.
Booker wird dabeisein, mit seiner ganzen Familie: Charlene und die Kinder, seine Eltern, ihre Eltern, mehrere Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins. Der Kane-Clan wird eine Menge Platz einnehmen. Es wird massenhaft Tränen und Fotos geben. Er war in seiner Familie der erste, der das College besuchte, und die Tatsache, daß er jetzt sein Jurastudium abschließt, macht sie ungeheuer stolz. Ich bin versucht, mich im Publikum zu verstecken, nur um seine Eltern zu beobachten, wenn er sein Diplom erhält. Ich würde wahrscheinlich mit ihnen weinen.
Ich weiß nicht, ob Sara Plankmores Angehörige an den Festivitäten teilnehmen werden, aber dieses Risiko gehe ich nicht ein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, sie sehen zu müssen, wie sie in die Kameras lächelt, während ihr Verlobter, S. Todd Wilcox, sie in die Arme nimmt. Sie wird einen weiten Talar tragen, so daß man nicht feststellen kann, ob es schon zu sehen ist. Aber ich würde trotzdem darauf starren. Selbst wenn ich mir alle Mühe gäbe, würde ich es nicht schaffen, meinen Blick von ihrem Bauch abzuwenden.
Es ist das beste, wenn ich der Zeremonie fernbleibe. Madeline Skinner hat mir vor zwei Tagen gestanden, daß sämtliche anderen Studienabgänger einen Job gefunden haben. Viele mußten sich mit weniger begnügen, als sie eigentlich wollten. Mindestens fünfzehn haben sich selbständig gemacht, kleine Büros eröffnet und sich einsatzbereit erklärt. Sie haben sich Geld von Eltern und Onkeln geliehen und kleine Zimmer mit billigen Möbeln gemietet. Madeline hat die Statistik. Sie weiß von jedem, wo er abgeblieben ist. Nicht auszudenken, daß ich dasitze in meinem schwarzen Talar und Barett, mitten zwischen hundertzwanzig Kommilitonen, die allesamt wissen, daß ich, Rudy Baylor, als einziger bisher noch keinen Job gefunden habe. Ich könnte ebensogut einen rosa Talar mit Neonbeleuchtung am Barett tragen. Vergessen wir's.
Mein Diplom habe ich gestern abgeholt.
Die Abschlußzeremonie beginnt um zwei Uhr, und genau zu dieser Zeit betrete ich die Kanzlei von Jonathan Lake. Das wird ein Wiederholungsauftritt, mein erster. Ich war bereits vor einem Monat hier und habe der Empfangsdame bescheiden meine Mappe ausgehändigt. Dieser Besuch wird anders verlaufen. Jetzt habe ich einen Plan.
Ich habe ein paar Recherchen angestellt über die Kanzlei Lake, wie sie allgemein genannt wird. Da Mr. Lake nichts davon hält, sein Geld mit anderen Leuten zu teilen, hat er keine Partner. Er beschäftigt zwölf Anwälte, von denen sieben Prozeßanwälte sind und die anderen fünf jüngere Feld-Wald-und-Wiesen-Anwälte. Die sieben Prozeßanwälte sind Advokaten mit reicher Gerichtserfahrung. Jeder von ihnen hat eine Sekretärin und einen Anwaltsgehilfen, und sogar der Anwaltsgehilfe hat eine Sekretärin. Das wird als Prozeßteam bezeichnet. Jedes Prozeßteam arbeitet unabhängig von den anderen, und Jonathan Lake erscheint nur gelegentlich auf der Bildfläche und gibt seinen Senf dazu. Er nimmt sich die Fälle, die er haben will, in der Regel die mit der vielversprechendsten Aussicht auf aufsehenerregende Urteile. Er klagt besonders gern gegen Gynäkologen wegen Entbindungsfehlern und hat erst kürzlich bei einem Asbest-Prozeß ein Vermögen verdient.
Jeder Prozeßanwalt ist für seine Mitarbeiter zuständig, kann einstellen und entlassen und muß außerdem zusehen, daß er ständig neue Fälle an Land zieht. Ich habe gehört, daß fast achtzig Prozent der Arbeit der Kanzlei auf Hinweisen von anderen Anwälten, Journalisten und Grundstücksmaklern basiert, die gelegentlich über einen verletzten Kunden stolpern. Das Einkommen der Prozeßanwälte in dieser Firma hängt unter anderem davon ab, wie viele neue Fälle sie anschleppen.
Barry X. Lancaster ist ein aufgehender junger Stern in der Kanzlei, ein frisch gesalbter Prozeßanwalt, der vorige Weihnachten einem Arzt in Arkansas zwei Millionen abgeknöpft hat. Er ist vierunddreißig, geschieden, lebt in seinem Büro, hat an der Memphis State Jura studiert. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Außerdem sucht er einen Anwaltsgehilfen. Ich habe die Anzeige in The Daily Record gesehen. Wenn ich schon nicht als Anwalt anfangen kann — was spricht dagegen, daß ich es erst mal als Anwaltsgehilfe versuche? Später einmal, wenn ich erst ein erfolgreicher Mann bin und selber eine große Kanzlei besitze, wird das eine prächtige Story abgeben: Der junge Rudy konnte keinen anständigen Job bekommen, also hat er im Postzimmer von Jonathan Lake angefangen. Und seht ihn euch jetzt an.