Ich habe um zwei Uhr einen Termin bei Barry X. Die Empfangsdame mustert mich argwöhnisch, dann schluckt sie es. Ich bezweifle, daß sie mich von meinem ersten Besuch hier wiedererkennt. Seither sind tausend Leute gekommen und gegangen. Ich verstecke mich hinter einer Zeitschrift auf einem Ledersofa und bewundere die Perserteppiche, den Dielenfußboden und die freiliegenden dicken Balken über meinem Kopf. Lakes Kanzlei befindet sich in einem alten Lagerhaus in der Nähe des Ärzte- und Krankenhausviertels von Memphis.
Angeblich hat er drei Millionen Dollar ausgegeben für die Restaurierung und Ausschmückung dieses Denkmals für sich selbst. Ich habe Fotos davon in zwei verschiedenen Zeitschriften gesehen.
Nur Minuten später werde ich von einer Sekretärin durch ein Labyrinth von Fluren und Treppen in ein Büro in einem der oberen Stockwerke geführt. Darunter liegt eine offene Bibliothek ohne Wände oder andere Abgrenzungen, nur Reihen um Reihen von Büchern. Ein einsamer Gelehrter sitzt an einem langen Tisch, umgeben von Stapeln von Abhandlungen, versunken in eine Flut einander widersprechender Theorien.
Das Büro von Barry X. ist lang und schmal, mit Ziegelsteinwänden und knarrendem Fußboden. Es ist mit Antiquitäten und anderen dekorativen Gegenständen geschmückt. Wir reichen uns die Hand und setzen uns. Er ist schlank und fit, und ich erinnere mich, daß ich in dem Zeitschriftenartikel auch Fotos von der Turnhalle gesehen habe, die Mr. Lake für seine Mitarbeiter eingerichtet hat. Außerdem gibt es hier eine Sauna und ein Dampfbad.
Barry ist sehr beschäftigt, zweifellos muß er gleich zu einer Strategiebesprechung mit seinem Prozeßteam, zur Vorbereitung einer wichtigen Verhandlung. Sein Telefon steht so, daß ich das hektische Blinken der Leuchtanzeigen sehen kann. Seine Hände sind ganz ruhig, aber er bringt es nicht fertig, nicht auf die Uhr zu sehen.
«Erzählen Sie mir von Ihrem Fall«, sagt er nach ein paar einleitenden Worten.»Etwas über einen abgelehnten Versicherungsanspruch. «Er ist schon jetzt argwöhnisch, weil ich Jakkett und Krawatte trage und nicht aussehe wie der Durchschnittsmandant.
«Nun, in Wirklichkeit bin ich wegen eines Jobs hier«, sage ich kühn. Alles, was er tun kann, ist, mich zum Gehen aufzufordern. Was habe ich schon zu verlieren?
Er verzieht das Gesicht und greift nach einem Blatt Papier. Die verdammte Sekretärin hat wieder Mist gebaut.
«Ich habe Ihre Anzeige wegen eines Anwaltsgehilfen im Daily Record gesehen.«
«Sie sind also Anwaltsgehilfe?«fährt er mich an.
«Ich könnte einer sein.«
«Was zum Teufel soll das bedeuten?«
«Ich habe drei Jahre Jura studiert.«
Er mustert mich ungefähr fünf Sekunden, dann schüttelt er den Kopf, schaut auf die Uhr.»Ich bin wirklich sehr beschäftigt. Meine Sekretärin wird Ihre Bewerbung entgegennehmen.«
Ich springe plötzlich auf und beuge mich über seinen Schreibtisch.»Hören Sie, ich mache Ihnen ein Angebot«, sage ich dramatisch, als er verblüfft aufschaut. Dann stürme ich durch meine Standardroutine, wie intelligent und motiviert ich bin und im oberen Drittel meines Jahrgangs, und wie ich einen Job bei Broadnax and Speer hatte und einfach auf die Straße gesetzt wurde. Ich schieße aus allen Rohren. Tinley Britt, mein Haß auf große Firmen. Meine Arbeit ist billig zu haben. Ich tue alles, um nur ins Geschäft zu kommen. Brauche wirklich einen Job, Mister. Ich rede ununterbrochen ungefähr ein oder zwei Minuten lang, dann setze ich mich wieder hin.
Er brütet ein wenig vor sich hin, kaut an einem Fingernagel. Ich kann wirklich nicht sagen, ob er wütend ist oder begeistert.
«Wissen Sie, was mich ankotzt?«sagt er schließlich, offensichtlich alles andere als begeistert.
«Ja klar, Typen wie ich, die die Leute im Vorzimmer anlügen, damit sie hier hereinkommen und sich um einen Job bewerben können. Das genau ist es, was Sie ankotzt. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus. Mich würde es auch ankotzen, aber ich würde darüber hinwegkommen, ich würde sagen, sieh mal, dieser Kerl ist ein angehender Anwalt, aber anstatt ihm vierzigtausend zu zahlen, kann ich ihn anstellen und die Knochenarbeit machen lassen für, sagen wir, vierundzwanzig-tausend.«
«Einundzwanzigtausend.«
«Wäre mir auch recht«, sage ich.»Mit einundzwanzigtausend fange ich morgen noch an. Ich arbeite ein ganzes Jahr lang für einundzwanzigtausend und ich verspreche, zwölf Monate hierzubleiben, ob ich das Anwaltsexamen bestehe oder nicht. Ich werde zwölf Monate lang sechzig, siebzig Stun-den die Woche arbeiten. Kein Urlaub. Sie haben mein Wort. Wo soll ich unterschreiben?«
«Wir verlangen fünf Jahre Erfahrung, bevor wir uns einen Anwaltsgehilfen auch nur ansehen. Hier wird eine Menge verlangt.«
«Ich lerne schnell. Vorigen Sommer habe ich in einer Kanzlei in der Innenstadt gearbeitet, lauter Streitsachen.«
Im Grunde ist das, was ich da tue, nicht ganz fair, und er hat es sich gerade zusammengereimt. Ich bin mit geladenen Rohren hier hereinmarschiert und habe ihn einfach überfallen. Und offensichtlich tue ich so was nicht zum ersten Mal, denn ich habe auf alles, was er sagt, sofort eine Antwort parat.
Nicht, daß er mir leid täte. Wenn er will, kann er mich ja jederzeit rauswerfen.
«Ich werde mit Mr. Lake darüber sprechen«, sagt er scheinbar nachgiebig.»Er hat ziemlich strenge Grundsätze, was Neueinstellungen betrifft. Ich bin nicht befugt, einen Anwaltsgehilfen einzustellen, der unseren Anforderungen nicht entspricht.«
«Klar«, sage ich betrübt. Also wieder ein Tritt in den Hintern. Darin bin ich mittlerweile beinahe Experte. Ich weiß inzwischen, daß Anwälte, ganz gleich, wie beschäftigt sie gerade sein mögen, frisch Graduierten, die keine Arbeit finden können, immer eine gewisse Sympathie entgegenbringen. Eine sehr begrenzte Sympathie.
«Vielleicht sagt er ja, und wenn er das tut, dann haben Sie den Job. «Er sagt das nur, um meinen Sturz ein wenig abzufedern.
«Da ist noch etwas«, sage ich, wieder zum Angriff übergehend.»Ich habe nämlich einen Fall. Einen sehr guten.«
Das macht ihn in höchstem Grade mißtrauisch.»Was für eine Art von Fall?«fragt er.
«Versicherungssache. Böswillige Leistungsverweigerung.«
«Sie sind der Geschädigte?«
«Nein. Ich bin der Anwalt. Ich bin sozusagen darüber gestolpert.«
«Was ist er wert?«
Ich gebe ihm eine zweiseitige Zusammenfassung des Falles
Black, stark überarbeitet und auf sensationell getrimmt. Ich habe jetzt bereits geraume Zeit daran gearbeitet und jedesmal, wenn ein Anwalt sie gelesen und mich abgelehnt hat, neue Finessen hineingebracht.
Barry X. liest sie aufmerksam, mit mehr Konzentration, als ich bisher bei jemandem beobachtet habe. Er liest sie ein zweites Mal, während ich seine alten Ziegelsteinwände bewundere und von einem Büro wie diesem träume.
«Nicht schlecht«, sagt er, als er fertig ist. In seinen Augen funkelt es, und ich glaube, er ist aufgeregter, als er sich anmerken läßt.»Lassen Sie mich raten. Sie wollen einen Job und einen Anteil am Verfahren.«
«Nein. Nur den Job. Der Fall gehört Ihnen. Ich würde gern daran arbeiten, und die Verhandlungen mit den Mandanten sind meine Sache. Aber das Honorar gehört Ihnen.«
«Ein Teil des Honorars. Den größten Teil davon bekommt Mr. Lake«, sagt er mit einem Grinsen.
Na wenn schon. Mir ist es egal, wie sie das Geld aufteilen. Ich will lediglich einen Job. Mir wird beinahe schwindlig bei dem Gedanken, für Jonathan Lake zu arbeiten und in dieser prachtvollen Umgebung.
Ich habe beschlossen, Miss Birdie für mich zu behalten. Sie ist keine besonders attraktive Mandantin, weil sie keinen Pfennig für Anwälte ausgibt. Wahrscheinlich wird sie hundertzwanzig Jahre alt werden, es hat also keinen Sinn, sie als Trumpfkarte auszuspielen. Ich bin sicher, daß es immens tüchtige Anwälte gibt, die ihr alle möglichen Zahlungen entlocken würden, aber das gilt nicht für die Kanzlei Lake. Diese Leute führen Prozesse. Sie sind nicht daran interessiert, Testamente aufzusetzen und Nachlässe zu verwalten.