Die Musik ist schon jetzt sehr laut. Der Parkplatz füllt sich schnell.
Ich gehe rasch zur Vordertür der Kanzlei und schließe sie auf. Die Büros sind leer. Vermutlich sind alle auf der anderen Straßenseite. Heute nachmittag hatte ich deutlich den Eindruck, daß die Kanzlei von J. Lyman Stone kein Ort für Arbeitstiere ist.
Alle Türen sind zu und vermutlich abgeschlossen. In dieser Gegend traut niemand niemandem. Ich habe unbedingt die Absicht, meine Tür auch immer abzuschließen.
Ich werde ein paar Stunden hierbleiben. Ich muß Booker anrufen und ihn über mein neuestes Abenteuer informieren. Wir haben unsere Vorbereitungen für das Anwaltsexamen vernachlässigt. Drei Jahre lang haben wir es immer wieder geschafft, uns gegenseitig anzutreiben und zu motivieren. Das Anwaltsexamen steht mir bevor wie eine Verabredung mit einem Exekutionskommando.
Kapitel 16
Ich überstehe die Nacht ohne Verhaftung, aber auch ohne viel Schlaf. Irgendwann zwischen fünf und sechs Uhr kapituliere ich vor den verworrenen Gedanken, die mir im Kopf herumwirbeln, und stehe auf. Von den letzten achtundvierzig Stunden habe ich kaum vier geschlafen.
Die Nummer steht im Telefonbuch, und ich wähle sie um fünf Minuten vor sechs. Ich bin bei der zweiten Tasse Kaffee. Es läutet zehnmal, bevor eine verschlafene Stimme» Hallo «sagt.
«Barry Lancaster bitte.«
«Am Apparat.«
«Barry, hier ist Rudy Baylor.«
Er räuspert sich, und ich kann regelrecht sehen, wie er aus dem Bett springt.»Was wollen Sie?«fragt er jetzt mit wesentlich schärferer Stimme.
«Tut mir leid, daß ich Sie so früh störe, aber ich wollte Sie über ein paar Dinge informieren.«
«Zum Beispiel?«
«Zum Beispiel, daß die Blacks gestern ihre Klage gegen Great Benefit eingereicht haben. Ich schicke Ihnen eine Kopie, sobald Sie sich ein neues Büro beschafft haben. Die Blacks haben außerdem eine Kündigung unterschrieben. Sie sind also nicht mehr ihr Anwalt und brauchen sich ihretwegen nicht mehr den Kopf zu zerbrechen.«
«Wie konnten Sie die Klage einreichen?«
«Das geht Sie wirklich nichts an.«
«Meinen Sie?«
«Ich schicke Ihnen eine Kopie der Klage, dann können Sie es selbst herausfinden. Haben Sie eine neue Adresse, oder gilt noch die alte?«
«Unser Postschließfach ist nicht mit verbrannt.«
«Okay. Im übrigen würde ich es zu schätzen wissen, wenn Sie mich aus dieser Brandstiftungsgeschichte draußen ließen.
Ich habe nichts mit dem Brand zu tun, und wenn Sie darauf bestehen, mich da hineinzuziehen, werde ich Sie verklagen, Sie dreckiger Gauner.«
«Ich bin starr vor Angst.«
«Das kann ich mir vorstellen. Hören Sie einfach auf, mit meinem Namen herumzuwerfen. «Ich lege auf, bevor er etwas erwidern kann. Dann beobachte ich fünf Minuten das Telefon, aber er ruft nicht an. Was für ein Feigling.
Es interessiert mich brennend, wie die Zeitungen die Geschichte aufziehen, also dusche ich, ziehe mich an und verschwinde schnell im Schutz der Dunkelheit. Der Verkehr ist noch sehr dünn, während ich nach Süden in Richtung Flughafen fahre, auf Greenway Plaza zu, einen Ort, der anfängt, sich wie zu Hause anzufühlen. Ich parke an derselben Stelle, die ich sieben Stunden zuvor verlassen habe. Der Club Amber ist still und dunkel, der Parkplatz mit Müll und Bierdosen übersät.
In dem schmalen Bauabschnitt neben dem, in dem, wie ich glaube, mein Büro liegt, hat sich eine stämmige Deutsche namens Trudy eingemietet, die hier ein billiges Cafe betreibt. Ich habe sie am Vorabend kennengelernt, als ich auf ein Sandwich hineinging. Sie hat mir erzählt, daß sie um sechs für Kaffee und Doughnuts aufmacht.
Als ich hereinkomme, brüht sie gerade Kaffee auf. Wir unterhalten uns einen Moment, während sie mein Bagel toastet und mir Kaffee einschenkt. An den kleinen Tischen sitzt bereits ein Dutzend Männer, und Trudy hat andere Dinge im Kopf. Zum Beispiel hat der Doughnut-Lieferant sich verspätet.
Ich hole mir eine Zeitung und sitze an einem Tisch beim Fenster, während die Sonne aufgeht. Auf der Titelseite des Lokalteils ist ein großes Foto von Mr. Lakes Lagerhaus in hellen Flammen. Ein kurzer Artikel liefert eine Geschichte des Gebäudes. Es sei völlig zerstört worden, und Mr. Lake selbst schätze den Verlust auf drei Millionen.»Die Renovierung war eine Liebesaffäre, die sich über fünf Jahre hingezogen hat«, wird er zitiert.»Ich bin untröstlich.«
Weine nur weiter, alter Junge. Ich überfliege den Artikel und kann nirgends das Wort» Brandstiftung «entdecken. Die Polizei hüllt sich in Schweigen — die Untersuchungen dauern an, zu früh für Spekulationen, kein Kommentar. Der übliche Bullenjargon.
Ich hatte zwar nicht damit gerechnet, daß mein Name als möglicher Verdächtiger auftauchen würde, aber ich bin trotzdem erleichtert.
Ich bin in meinem Büro, versuche beschäftigt auszusehen und frage mich, wie in aller Welt ich es schaffen soll, im Laufe der nächsten dreißig Tage tausend Dollar an Honoraren einzubringen, als Bruiser hereingestürmt kommt. Er wirft ein Blatt Papier auf meinen Schreibtisch. Ich greife danach.
«Das ist eine Kopie des Polizeiberichts«, knurrt er, bereits wieder auf dem Weg zur Tür.
«Über mich?«frage ich bestürzt.
«Unsinn. Es ist ein Polizeibericht. Verkehrsunfall gestern abend an der Ecke von Airways und Shelby, nur ein paar Blocks von hier entfernt. Kann sein, daß ein betrunkener Fahrer beteiligt war. Sieht so aus, als wäre er bei Rot über die Kreuzung gefahren. «Er hält inne und funkelt mich an.
«Vertreten wir einen der…«
«Noch nicht! Dazu sind Sie da. Kümmern Sie sich um den Fall. Überprüfen Sie ihn. Ziehen Sie einen Vertrag an Land. Sieht so aus, als könnten da ein paar gute Verletzungen drinstecken.«
Ich bin völlig verwirrt, und er läßt mich so sitzen. Die Tür schlägt zu, und ich kann ihn auf seinem Weg den Flur entlang knurren hören.
Der Unfallbericht steckt voller Informationen: die Namen von Fahrern und Beifahrern, Adressen, Telefonnummern, Verletzungen, Schäden an den Fahrzeugen, Augenzeugenberichte. Da ist eine Zeichnung, wie es sich nach Ansicht der Polizisten zugetragen haben muß, und eine weitere, wie sie die Fahrzeuge vorgefunden haben. Beide Fahrer wurden verletzt und ins Krankenhaus gebracht, und derjenige, der bei Rot über die Kreuzung gefahren ist, hatte vermutlich getrunken.
Interessante Lektüre, aber was soll ich jetzt unternehmen?
Der Unfall ist gestern abend um zehn Minuten nach zehn passiert, und Bruiser hat es irgendwie geschafft, diesen Bericht gleich heute morgen in seine schmuddeligen Hände zu bekommen. Ich lese ihn noch einmal, dann starre ich ihn lange Zeit an.
Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus meinem verwirrten Zustand.»Herein«, sage ich.
Sie knarrt leise, und ein schmächtiger kleiner Mann steckt den Kopf herein.»Rudy?«sagt er mit hoher, nervöser Stimme.
«Ja, kommen Sie herein.«
Er schiebt sich durch den schmalen Spalt und schleicht sich regelrecht zu dem Stuhl auf der anderen Seite meines Schreib-tischs.»Ich bin Deck Shifflet«, sagt er und setzt sich, ohne einen Händedruck oder ein Lächeln zu offerieren.»Bruiser hat gesagt, Sie hätten einen Fall, über den Sie reden möchten. «Er schaut über die Schulter, als hätte vielleicht jemand nach ihm das Zimmer betreten und hörte jetzt zu.
«Nett, Sie kennenzulernen«, sage ich. Es ist schwer zu sagen, ob Deck vierzig ist oder fünfzig. Der größte Teil seines Haars ist verschwunden, und die paar noch vorhandenen Strähnen sind mit viel Öl an seinen breiten Schädel geklatscht. Die Stellen um seine Ohren herum sind dünn und überwiegend grau. Er trägt eine kantige Drahtbrille mit ziemlich dik-ken und schmutzigen Gläsern. Es ist im übrigen schwer zu sagen, ob sein Kopf zu groß oder sein Körper zu schmächtig ist, aber beides paßt nicht zusammen. Seine Stirn ist in zwei runde Hälften unterteilt, die ziemlich genau in der Mitte zusammentreffen, wo eine tiefe Falte sie verbindet und dann zu seiner Nase hinabstürzt.