Deck kennt es gut. Wir fahren in seinem verbeulten Kleinbus durch die Stadt, dem einzigen Gegenstand, der ihm bei seiner Scheidung zugesprochen wurde, einer Scheidung infolge von Jahren des Alkoholmißbrauchs. Jetzt ist er trocken, ein stolzes Mitglied der Anonymen Alkoholiker, und mit dem Rauchen hat er auch aufgehört. Aber er spielt gern, gibt er betrübt zu, und die neuen Casinos, die direkt jenseits der Staatsgrenze in Mississippi aus dem Boden schießen, machen ihm zu schaffen.
Seine Ex-Frau und seine beiden Kinder leben nach wie vor in Kalifornien.
Ich bekomme all diese Details in weniger als zehn Minuten geliefert, während ich auf einem Hot dog herumkaue. Deck fährt mit einer Hand, ißt mit der anderen und zuckt, rutscht herum, schneidet Grimassen und redet quer durch halb Mem-phis, wobei ihm ein Klümpchen Hühnersalat am Mundwinkel hängt. Ich bringe es einfach nicht fertig, ihn anzusehen.
Wir parken auf dem für Ärzte reservierten Platz, weil Deck einen Parkschein hat, der ihn als Arzt ausweist. Der Wachmann scheint ihn zu kennen und winkt uns durch.
Deck führt mich geradenwegs zum Auskunftsschalter in der von Menschen wimmelnden Haupthalle. Binnen Sekunden hat er die Zimmernummer von Dan Van Landel, unserem potentiellen Mandanten. Deck geht mit einwärts gerichteten Füßen und einem leichten Hinken, trotzdem habe ich Mühe, mit ihm Schritt zu halten, als er auf den Fahrstuhl zusteuert.»Benehmen Sie sich nicht wie ein Anwalt«, füstert er mir fast unhörbar zu, während wir in einer Gruppe von Schwestern warten.
Wie könnte irgend jemand auf die Idee kommen, Deck für einen Anwalt zu halten? Wir fahren schweigend zum achten Stock hinauf und verlassen zusammen mit einem Haufen anderer Leute den Fahrstuhl. Für Deck scheint das schon Routine zu sein.
Ungeachtet der merkwürdigen Form seines großen Kopfes, seines hinkenden Ganges und all seiner anderen Auffälligkeiten nimmt niemand von uns Notiz. Wir wandern einen belebten Korridor entlang, bis er sich an einem Schwesternzimmer mit einem anderen kreuzt. Deck weiß genau, wie er zu Zimmer 886 kommt. Wir biegen nach links ab, vorbei an Schwestern, Pflegern und einem Arzt, der eine Tabelle studiert. An einer Wand sind fahrbare Betten ohne Decken aufgereiht. Der geflieste Boden ist abgetreten und müßte gewischt werden. Vier Türen weiter auf der linken Seite, und wir betreten, ohne anzuklopfen, das Halbdunkel eines Zweibettzimmers. Im ersten Bett liegt ein Mann, der sich die Decken bis zum Kinn hochgezogen hat. Er sieht sich in dem winzigen, über seinem Bett hängenden Fernseher eine Seifenoper an.
Er mustert uns so entsetzt, als wären wir gekommen, um uns eine Niere von ihm zu holen, und ich hasse mich selbst dafür, daß ich hier bin. Wir haben nicht das Recht, auf eine derart rücksichtslose Art in die Privatsphäre anderer Menschen einzudringen.
Deck dagegen ist die Ruhe selbst. Es ist schwer zu glauben, daß dieser schamlose Hochstapler der kleine Mickerling ist, der vor weniger als einer Stunde in mein Büro geschlichen kam. Da hatte er sich vor seinem eigenen Schatten gefürchtet. Jetzt scheint er keine Spur von Angst zu haben.
Wir tun ein paar Schritte und gehen zu der Öffnung in einer zusammenfaltbaren Trennwand. Deck zögert einen Moment, um zu sehen, ob Dan Van Landel irgendwelchen Besuch hat. Er ist allein, und Deck schiebt sich vorwärts.»Guten Tag, Mr. Van Landel«, sagt er freundlich.
Van Landel ist vermutlich Ende Zwanzig, aber sein Alter ist schwer zu schätzen, weil sein Gesicht verbunden ist. Ein Auge ist fast vollständig zugeschwollen, unter dem anderen ist eine Schnittwunde. Ein Arm ist gebrochen, ein Bein steckt in einem Streckverband.
Er ist wach, also brauchen wir ihn gnädigerweise nicht anzurühren oder anzuschreien. Ich stelle mich ans Fußende des Bettes, in die Nähe des Eingangs, und hoffe inbrünstig, daß kein Arzt, keine Schwester und kein Angehöriger auftaucht und uns hierbei erwischt.
Deck beugt sich über ihn.»Können Sie mich hören, Mr. Van Landel?«fragt er mit dem Mitgefühl eines Priesters.
Van Landel ist ziemlich festgeschnallt, er kann sich also nicht bewegen. Ich bin sicher, daß er sich gern aufsetzen oder irgendwie anders hinlegen würde, aber er ist uns hilflos ausgeliefert. Ich kann mir nicht vorstellen, was für ein Schock das für ihn sein muß. In dem einen Moment liegt er noch hier und starrt an die Decke, vermutlich immer noch benommen und unter Schmerzen, und den Bruchteil einer Sekunde später blickt er in eines der seltsamsten Gesichter, die er je gesehen hat.
Er blinzelt heftig, um besser zu sehen.»Wer sind Sie?«grunzt er durch zusammengebissene Zähne. Zusammengebissen, weil sie verdrahtet sind.
Das ist nicht fair.
Deck lächelt und zeigt seine vier glänzenden Hauer.»Deck Shiflet, Kanzlei Lyman Stone. «Er sagt dies mit erstaunlicher Selbstsicherheit, als würde von ihm erwartet, daß er hier ist.
«Sie haben doch wohl noch nicht mit irgendeiner Versicherung gesprochen, oder?«
Einfach so hat Deck die bösen Buben abgestempelt. Das sind nicht wir. Das sind die Versicherungstypen. Damit hat er schon mal eine Menge Boden gutgemacht. Jetzt ist er der Vertraute. Wir gegen die ändern.
«Nein«, grunzt Van Landel.
«Gut. Reden Sie nicht mit ihnen. Die wollen Sie nur aufs Kreuz legen«, sagt Deck. Er schiebt sich noch näher heran, erteilt bereits Ratschläge.»Wir haben uns den Unfallbericht angesehen. Klarer Fall von Mißachtung einer roten Ampel. Wir werden in ungefähr einer Stunde hinfahren«, sagt er, wichtigtuerisch auf seine Uhr schauend,»und den Unfallort fotografieren, mit Zeugen reden, Sie wissen schon, alles, was dazugehört. Wir müssen das schnell tun, bevor die Ermittler der Versicherung an die Zeugen herankommen. Es ist schon vorgekommen, daß sie sie bestechen, damit sie falsch aussagen, wissen Sie, und andere solche Mätzchen. Wir müssen schnell handeln, aber dazu müssen wir von Ihnen bevollmächtigt sein. Haben Sie einen Anwalt?«
Ich halte den Atem an. Wenn Van Landel jetzt sagt, daß sein Bruder Anwalt ist, bin ich draußen.
«Nein«, sagt er.
Deck setzt zum Todesstoß an.»Also, wie ich schon sagte, wir müssen schnell handeln. Unsere Kanzlei bearbeitet mehr Verkehrsunfälle als sonst jemand in Memphis, und wir holen gewaltige Vergleichssummen heraus. Die Versicherungen haben Angst vor uns. Und wir verlangen keinen Groschen. Wir nehmen nur das übliche Drittel von dem, was wir herausholen. «Während er das sagt, zieht er langsam einen Vertrag aus der Mitte eines Notizblocks heraus. Es ist ein Kurzvertrag — eine Seite, drei Paragraphen, gerade genug, um ihn an die Angel zu bekommen. Deck schwenkt ihn auf eine Weise vor seinem Gesicht, daß Van Landel ihn nehmen muß. Er hält ihn mit seinem heilen Arm, versucht, ihn zu lesen.
Der arme Kerl. Er hat gerade die schlimmste Nacht seines Lebens hinter sich, ist heilfroh, daß er noch lebt, und jetzt soll er, mit verschwollenen Augen und völlig benommen, ein juristisches Dokument lesen und eine intelligente Entscheidung treffen.
«Können Sie auf meine Frau warten?«fragt er fast flehend.
Sind wir im Begriff, ertappt zu werden? Ich umklammere das Bettgeländer und stoße dabei unabsichtlich gegen ein Kabel am Flaschenzug, wodurch sein Bein mit einem Ruck ein paar Zentimeter höher gezogen wird.»Ahhh!«stöhnt er.
«Tut mir leid«, sage ich schnell und reiße meine Hände zurück. Deck sieht mich an, als würde er mich am liebsten umbringen, dann ist er wieder Herr der Lage.»Wo ist Ihre Frau?«fragt er.
«Ahhh!«stöhnt der arme Kerl abermals.
«Tut mir leid«, wiederhole ich, weil ich nicht anders kann. Meine Nerven sind in Fetzen.
Van Landel mustert mich angstvoll. Ich schiebe beide Hände tief in die Hosentaschen.
«Sie kommt bald wieder«, sagt er, ganz offensichtlich bei jeder Silbe schmerzgepeinigt.
Deck hat für alles eine Antwort.»Ich spreche später mit ihr, in meinem Büro. Ich brauche tonnenweise Informationen von ihr. «Deck schiebt gekonnt seinen Block unter den Vertrag, damit das Unterschreiben leichter geht, und zieht die Kappe von einem Kugelschreiber ab.