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Sie spricht nur selten über ihre Kinder und Enkelkinder. Es stehen ein paar Fotografien herum, aber sie sind, der Mode nach zu urteilen, ziemlich alt. Ich bin jetzt seit mehreren Wochen hier und wüßte nicht, daß sie in dieser Zeit auch nur einmal Kontakt mit ihren Angehörigen gehabt hätte.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich ihr abends nicht Gesellschaft leiste, aber ich habe meine Gründe. Sie sieht sich eine alberne Comedy-Serie nach der anderen an, und die kann ich nicht ausstehen. Ich weiß das, weil sie unaufhörlich davon erzählt. Außerdem muß ich für das Anwaltsexamen lernen.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich Abstand halte. Miss Birdie hat ziemlich unmißverständlich angedeutet, daß das Haus gestrichen werden muß und daß sie, wenn sie jemals mit dem Mulchverteilen fertig werden sollte, Zeit haben würde für das nächste Projekt.

Ich habe heute einen Brief an einen Anwalt in Atlanta geschrieben, als Anwaltsgehilfe der Kanzlei von J. Lyman Stone, und um ein paar Auskünfte über den Nachlaß eines gewissen Anthony L. Murdine, den letzten Ehemann von Miss Birdie, gebeten. Meine Nachforschungen gehen nur langsam voran und bringen nicht viel ans Licht.

In ihrem Schlafzimmer geht das Licht aus, und ich schleiche die wacklige Treppe hinunter und dann barfuß und auf Zehenspitzen über den feuchten Rasen zu der zwischen zwei kleinen Bäumen aufgehängten, ausgefransten alten Hängematte. Letzte Nacht habe ich eine Stunde darin geschaukelt, ohne mich zu verletzen. Von der Hängematte aus hat man einen prächtigen Blick durch die Bäume hindurch auf den vollen Mond. Ich schaukele sanft. Es ist eine warme Nacht.

Seit der Van-Landel-Episode heute nachmittag im Krankenhaus bin ich ziemlich deprimiert. Vor knapp drei Jahren habe ich das Jurastudium in der typischen edlen Absicht angefangen, daß ich eines Tages meine Lizenz dazu benutzen würde, im kleinen Rahmen die Gesellschaft zu verbessern, einen ehrenwerten Beruf auszuüben, regiert von einem ethischen Kanon, den einzuhalten sich alle Anwälte bemühen würden. Das habe ich tatsächlich geglaubt. Ich wußte, daß ich die Welt nicht würde verändern können, aber ich träumte davon, in einer auf Hochdruck laufenden Umgebung mit scharfsinnigen Leuten zusammenzuarbeiten, die sich an erhabene Maßstäbe hielten. Ich wollte hart arbeiten, in meinem Beruf vorankommen und auf diese Weise Mandanten anziehen, nicht durch reißerisches Inserieren, sondern durch meinen Ruf. Und im Laufe der Zeit, während meine Fähigkeiten und Honorare wuchsen, würde ich in der Lage sein, auch unpopuläre Fälle und Mandanten anzunehmen, die mir nichts einbrachten. Solche Träume sind bei angehenden Jurastudenten keine Seltenheit.

Zu Ehren der Fakultät muß gesagt werden, daß wir Stunden mit dem Einprägen und Diskutieren ethischer Grundsätze verbrachten. Dieses Thema wurde mit so viel Nachdruck behandelt, daß wir annahmen, die Profession wäre eifrig darauf bedacht, sich an ein starres System von Richtlinien zu halten. Und jetzt bin ich deprimiert von der Wahrheit. Im letzten Monat mußte ich erleben, wie ein Anwalt nach dem anderen Pfeile in meinen Ballon schoß. Jetzt bin ich zu einem Wilderer in Krankenhauscafeterias herabgesunken, für tausend Dollar im Monat. Mir ist speiübel bei dem Gedanken, was aus mir geworden ist, und ich bin benommen von der Geschwindigkeit, mit der ich gefallen bin.

Mein bester Freund im College war Craig Balter. Wir haben zwei Jahre zusammengewohnt. Voriges Jahr war ich bei seiner Hochzeit. Als wir mit dem College anfingen, hatte Craig nur ein Ziel, und das war, an einer High-School Geschichte zu unterrichten. Er war sehr intelligent, und das College fiel ihm leicht. Wir hatten lange Diskussionen darüber, was wir mit unserem Leben anfangen würden. Ich fand, er bliebe unterhalb seiner Fähigkeiten, wenn er unterrichten wollte, und er wurde wütend, wenn ich meinen künftigen Beruf mit seinem verglich. Ich war auf viel Geld und den steilen Aufstieg zum Erfolg aus. Sein Ziel war das Klassenzimmer, in dem sein Gehalt von Faktoren abhing, über die er nicht zu bestimmen hatte.

Craig machte seinen Master of Arts und heiratete eine Lehrerin. Jetzt unterrichtet er Geschichte und Sozialkunde in der neunten Klasse. Sie ist schwanger und unterrichtet in der Vorschule. Sie haben ein hübsches Haus auf dem Lande mit ein paar Morgen Land und einem Garten, und sie sind die glücklichsten Menschen, die ich kenne. Zusammen verdienen sie vermutlich ungefähr fünfzigtausend im Jahr.

Aber Craig ist das Geld gleichgültig. Er tut genau das, was er schon immer tun wollte. Ich dagegen habe keine Ahnung, was ich tue. Craigs Job ist überaus befriedigend, weil er es mit jungen Menschen zu tun hat. Er hat feste Vorstellungen vom Sinn und Zweck seiner Arbeit. Ich dagegen werde morgen ins Büro gehen in der Hoffnung, daß ich auf die eine oder andere Weise über einen arglosen Mandanten herfallen kann, dem es sowieso schon ziemlich schlechtgeht. Wenn Anwälte soviel verdienen würden wie Lehrer, müßten neun von zehn juristischen Fakultäten sofort geschlossen werden.

Es kann nicht so bleiben. Aber bevor sich etwas ändern kann, muß ich auf mindestens zwei weitere mögliche Katastrophen gefaßt sein. Erstens könnte ich wegen des Lake-Brandes verhaftet oder sonstwie behelligt werden, und zweitens könnte ich beim Anwaltsexamen durchfallen.

Gedanken an beides halten mich bis in die frühen Morgenstunden in der Hängematte wach.

Bruiser ist zeitig im Büro, rotäugig und verkatert, aber in seiner besten Anwaltskluft — teurer Kammgarnanzug, gestärktes weißes Baumwollhemd, elegante Seidenkrawatte. Seine wehende Mähne scheint heute morgen eine Extrawäsche erhalten zu haben. Sie schimmert vor Sauberkeit.

Er ist auf dem Weg zum Gericht, um bei der Vorverhandlung in einer Drogensache zu plädieren, und er ist ganz Hektik und Aktion. Ich bin vor seinen Schreibtisch zitiert worden, um meine Instruktionen entgegenzunehmen.

«Gute Arbeit bei Van Landel«, sagt er, in eine Flut von Papieren und Akten versunken. Dru hantiert hinter ihm herum, gerade außerhalb seiner Reichweite. Die Haie mustern sie hungrig.»Ich habe vor ein paar Minuten mit der Versicherung gesprochen. Massenhaft Deckung. Die Haftung scheint klar. Wie schwer ist der Junge verletzt?«

Gestern abend habe ich eine nervenaufreibende Stunde mit Dan Van Landel und seiner Frau im Krankenhaus verbracht. Sie hatten Unmengen von Fragen, bei denen es vor allem darum ging, wieviel sie bekommen würden. Ich hatte nur wenige eindeutige Antworten, tischte ihnen aber eine Menge Juristenjargon auf. Bisher bleiben sie bei der Stange.»Ein Bein gebrochen, ein Arm, mehrere Rippen, zahlreiche Schnittwunden. Der Arzt sagt, er wird zehn Tage im Krankenhaus bleiben müssen.«

Das entlockt Bruiser ein Lächeln.»Bleiben Sie dran. Kümmern Sie sich um die Recherchen. Hören Sie auf Deck. Das könnte ein hübscher Vergleich werden.«

Hübsch für Bruiser, aber ich werde keinen Anteil daran haben. Dieser Fall wird für mich kein Honorar abwerfen.

«Die Polizei will Ihre Aussage über den Brand«, wirft er mir an den Kopf, während er nach einer Akte greift.»Habe gestern abend mit ihnen gesprochen. Sie machen es hier, in diesem Büro, in meiner Gegenwart.«

Er sagt das, als wäre es bereits verabredet und ich hätte keine andere Wahl.»Und wenn ich mich weigere?«frage ich.

«Dann werden Sie wahrscheinlich zum Verhör aufs Revier bestellt. Wenn Sie nichts zu verbergen haben, schlage ich vor, daß Sie Ihre Aussage machen. Ich werde dabeisein. Sie können sich mit mir beraten. Reden Sie mit ihnen, danach wird man Sie in Ruhe lassen.«

«Sie glauben also, daß es Brandstiftung war?«

«Sie sind ziemlich sicher.«

«Und was wollen sie von mir wissen?«

«Wo Sie waren, was Sie getan haben, Zeiten, Orte, Alibis und so weiter.«

«Ich kann nicht alles beantworten, aber ich werde die Wahrheit sagen.«

Bruiser lächelt.»Dann wird die Wahrheit dafür sorgen, daß Sie freikommen.«

«Lassen Sie mich das aufschreiben.«