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Ich verabschiede mich und verspreche, morgen wieder hereinzuschauen. Da ich ins Krankenhaus beordert worden bin, kann ich mich um all meine Mandanten kümmern. Das nennt man Service!

Bei meiner Rückkehr ist die Cafeteria wieder ziemlich voll. Ich setze mich wieder an meinen Tisch in der Ecke. Ich habe meine Bücher dort liegengelassen, und auf einem von ihnen ist deutlich Elton Bar Review zu lesen. Das hat die Aufmerksamkeit einer Gruppe junger Ärzte erregt, die am Nebentisch sitzen und mich argwöhnisch mustern, als ich mich hinsetze. Sie verstummen sofort, also weiß ich, daß sie sich ausführlich über meine Arbeitsunterlagen unterhalten haben. Kurz darauf gehen sie. Ich hole mir noch einen Kaffee und vertiefe mich in die Wunder der Prozeßordnung bei den Bundesgerichten.

Die Zahl der Gäste verringert sich auf eine Handvoll. Ich trinke jetzt koffeinfreien Kaffee und staune, durch wieviel ich mich in den letzten vier Stunden hindurchgewühlt habe. Um Viertel vor zehn ruft Bruiser abermals an. Hört sich an, als säße er in irgendeiner Bar. Er braucht mich morgen früh um neun im Büro, damit wir über einen juristischen Punkt reden können, zu dem er für seinen gegenwärtigen Drogenprozeß einen Schriftsatz braucht. Ich werde dasein, sage ich.

Schrecklich, wenn ich mir vorstellen müßte, daß mein Anwalt sich die Linie zu meiner Verteidigung ausdenkt, während er in einem Oben-ohne-Club sitzt und sich einen Drink nach dem anderen hinter die Binde gießt.

Aber Bruiser ist mein Anwalt.

Um zehn bin ich der einzige Gast in der Cafeteria. Sie hat die ganze Nacht geöffnet, also läßt die Kassiererin mich in Ruhe. Ich bin tief in das Thema Vorverhandlungen versunken, als ich das leise Niesen einer jungen Frau höre. Ich schaue auf, und zwei Tische entfernt sitzt eine Patientin in einem Rollstuhl, die einzige andere Person außer mir in der Cafeteria. Ihr rechtes Bein steckt vom Knie abwärts in Gips und ist waagerecht hoch gelegt, so daß sie mir die Unterseite des weißen Verbandes entgegenstreckt. Er scheint frisch zu sein, nach dem zu urteilen, was ich an diesem Punkt meiner Karriere über Gips weiß.

Sie ist sehr jung und ungeheuer hübsch. Ich kann nicht anders, ich muß sie ein paar Sekunden lang ansehen, bevor ich wieder auf meine Notizen schaue. Dann sehe ich noch einmal ein bißchen länger hin. Ihr Haar ist dunkel und im Nacken locker zusammengerafft. Ihre Augen sind braun und scheinen feucht zu sein. Sie hat ein gutgeschnittenes Gesicht, das trotz einer unübersehbaren Prellung am Unterkiefer hinreißend aussieht. Eine häßliche Prellung wie von einem Faustschlag. Sie trägt das übliche weiße Krankenhausnachthemd, und darunter scheint sie sehr schlank zu sein.

Ein alter Mann in einer rosa Jacke, eine der unzähligen freundlichen Seelen, die in St. Peter's als freiwillige Helfer füngieren, stellt ein Plastikglas mit Orangensaft vor sie auf den Tisch.»Bitte sehr, Kelly«, sagt er wie der perfekte Großvater.

«Danke«, antwortet sie mit einem kurz aufblitzenden Lächeln.

«Eine halbe Stunde, haben Sie gesagt?«fragt er.

Sie nickt und beißt sich auf die Unterlippe.»Eine halbe Stunde«, bestätigt sie.

«Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

«Nein. Danke.«

Er tätschelt ihr die Schulter und verläßt die Cafeteria. Wir sind allein. Ich versuche, nicht zu ihr hinüberzusehen, aber es ist unmöglich. Ich halte den Blick, solange ich es irgendwie aushalten kann, auf meine Unterlagen gesenkt, um dann wieder aufzusehen, bis sie in mein Blickfeld gerät. Ihr Gesicht ist mir nicht direkt zugewandt, ich sehe sie nahezu im Profil. Sie hebt ihr Glas, und ich bemerke die Verbände an beiden Handgelenken. Bisher hat sie mich noch nicht wahrgenommen. Ich habe sogar den Eindruck, daß sie auch dann niemanden sehen würde, wenn der Raum voll wäre. Kelly steckt in ihrer eigenen kleinen Welt.

Sieht aus wie ein gebrochener Knöchel. Dazu die Prellung im Gesicht. Deck würde begeistert eine» multiple Verletzung «konstatieren, obwohl keine Schnittwunden zu sehen sind. Die verbundenen Handgelenke sind mir ein Rätsel. Obwohl sie so hübsch ist, gerate ich nicht in Versuchung, meine Anmach-techniken zu praktizieren. Sie macht einen sehr traurigen Eindruck, und ich will nicht zu ihrem Elend beitragen. An ihrem linken Ringfinger steckt ein dünner Ehering. Sie kann nicht älter als achtzehn sein.

Ich versuche, mich für mindestens fünf ununterbrochene Minuten auf die Juristerei zu konzentrieren, aber dann sehe ich, wie sie sich die Augen mit einer Papierserviette abtupft. Ihr Kopf kippt leicht nach rechts, während die Tränen fließen. Sie schnüffelt leise.

Mir wird schnell klar, daß die Tränen nichts mit etwaigen Schmerzen in ihrem gebrochenen Knöchel zu tun haben. Hier geht es nicht um körperliches Leid.

Meine niederträchtige Anwaltsphantasie geht mit mir durch. Vielleicht hat es einen Verkehrsunfall gegeben, bei dem ihr Mann getötet und sie verletzt worden ist. Sie ist zu jung, um Kinder zu haben, und ihre Eltern wohnen weit fort, und nun sitzt sie hier und trauert um ihren toten Mann. Könnte ein grandioser Fall sein.

Ich schüttele diese fürchterlichen Gedanken ab und versuche, mich auf das vor mir liegende Buch zu konzentrieren. Sie schnüffelt und weint leise weiter. Ein paar Gäste kommen und gehen, aber keiner setzt sich zu mir oder zu Kelly. Ich trinke meinen Kaffeebecher aus, erhebe mich von meinem Stuhl und gehe auf dem Weg zum Tresen direkt vor ihr vorbei. Ich sehe sie an, sie sieht mich an, unsere Blicke treffen sich für eine lange Sekunde, und ich falle fast über einen Metallstuhl. Meine Hände sind ein bißchen zittrig, als ich für den Kafee bezahle. Ich hole tief Luft und bleibe an ihrem Tisch stehen.

Sie hebt langsam die schönen, nassen Augen. Ich schlucke schwer und sage:»Hören Sie, ich will mich nicht aufdrängen, aber kann ich irgend etwas für Sie tun? Haben Sie vielleicht Schmerzen?«sage ich und deute mit einem Kopfnicken auf ihren Gipsverband.

«Nein«, sagt sie fast unhörbar. Und dann ein hinreißendes kleines Lächeln.»Trotzdem danke.«

«Okay«, sage ich. Ich schaue auf meinen knapp sechs Meter entfernten lisch.»Ich sitze da drüben und lerne für das Anwaltsexamen, falls Sie etwas brauchen sollten. «Ich zucke die Achseln, als wüßte ich nicht recht, was ich tun soll, aber ich bin eben nur ein netter, besorgter Tölpel, also entschuldigen Sie bitte, wenn ich zu weit gegangen bin. Aber ich sorge mich wirklich um Sie. Und ich stehe zur Verfügung.

«Danke«, sagt sie noch einmal.

Ich sinke auf meinen Stuhl, nachdem ich mich als quasi legitime Person ausgewiesen habe, die dicke Bücher durchackert in der Hoffnung, bald einen noblen Beruf ausüben zu können. Bestimmt hat das einen gewissen Eindruck auf sie gemacht. Ich stürze mich, ihr Leid vergessend, wieder in die Arbeit.

Minuten vergehen. Ich blättere eine Seite um und sehe dabei zu ihr hinüber. Sie sieht mich an, und mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich ignoriere sie völlig, solange ich es aushalten kann, dann schaue ich abermals auf. Sie ist wieder tief in ihr Leid versunken. Sie preßt die Serviette zusammen. Die Tränen strömen ihr über die Wangen.

Mir bricht es das Herz, sie so leiden zu sehen. Ich würde zu gern neben ihr sitzen, vielleicht meinen Arm um sie legen und mit ihr über alles mögliche reden. Wenn sie verheiratet ist, wo zum Teufel steckt dann ihr Mann? Sie schaut in meine Richtung, aber ich glaube nicht, daß sie mich sieht.

Ihr Helfer in der rosa Jacke erscheint pünktlich um halb elf, und sie versucht rasch, sich wieder zu fassen. Er tätschelt ihr sanft den Kopf, sagt ein paar beruhigende Worte, die ich nicht hören kann, und wendet behutsam ihren Rollstuhl. Im Hinausfahren sieht sie mich ganz bewußt an. Und sie bedenkt mich mit einem langen, tränenvollen Lächeln.

Ich bin versucht, ihr in einiger Entfernung zu folgen, um herauszufinden, in welchem Zimmer sie liegt, aber ich beherrsche mich. Später denke ich daran, den Mann in Rosa ausfindig zu machen und Einzelheiten aus ihm herauszuholen. Aber ich tue es nicht. Ich versuche, sie zu vergessen. Sie ist ja nur ein Kind.