Am nächsten Abend gehe ich wieder in die Cafeteria und lasse mich an demselben Tisch nieder. Ich lausche demselben geschäftigen Geschnatter von denselben eiligen Leuten. Ich besuche die Van Landels und weiche ihren endlosen Fragen aus. Ich halte Ausschau nach anderen Haien, die in diesen trüben Gewässern auf Beute aus sind, und ich ignoriere ein paar mögliche Mandanten, die anscheinend nur darauf warten, daß sich jemand an sie heranmacht. Ich lerne stundenlang. Meine Konzentration läßt nichts zu wünschen übrig, und meine Motivation war nie stärker.
Und ich behalte die Uhr im Auge. Als es auf zehn zugeht, schwindet mein Eifer, und ich fange an, mich umzusehen. Ich versuche, ruhig und lernbegierig zu bleiben, aber ich fahre jedesmal hoch, wenn ein neuer Gast die Cafeteria betritt. An einem Tisch essen zwei Schwestern, an einem anderen sitzt ein einsamer Laborant und liest in einem Buch.
Sie rollt fünf Minuten nach zehn herein, und derselbe ältere Herr schiebt sie behutsam dahin, wo sie sein möchte. Sie entscheidet sich für denselben Tisch wie am Vorabend und lächelt mich an, während er ihren Rollstuhl herummanövriert.
«Orangensaft«, sagt sie. Ihr Haar ist immer noch zurückgerafft, aber wenn ich mich nicht irre, trägt sie eine Spur Wimperntusche und ein bißchen Lidschatten. Sie hat auch einen blaßroten Lippenstift aufgelegt, und die Wirkung ist dramatisch. Gestern abend ist mir nicht bewußt geworden, daß ihr Gesicht völlig ungeschminkt war. Heute abend, mit nur ein bißchen Make-up, ist sie unglaublich schön. Ihre Augen sind klar, strahlend, frei von Traurigkeit.
Er stellt ihren Orangensaft vor sie hin und sagt dasselbe wie gestern abend:»Bitte sehr, Kelly. Eine halbe Stunde, haben Sie gesagt?«
«Machen Sie eine dreiviertel Stunde daraus«, sagt sie.
«Wie Sie möchten«, meint er, dann verzieht er sich.
Sie trinkt den Saft und betrachtet abwesend die Tischplatte. Ich habe heute eine Menge Zeit damit verbracht, an Kelly zu denken, und mich schon zeitig entschieden, wie ich vorgehen will. Ich warte ein paar Minuten, tue so, als wäre sie nicht anwesend, gebe vor, ganz in die Elton Bar Review versunken zu sein, dann stehe ich langsam auf, als wäre es Zeit für eine Kaffeepause.
Ich bleibe an ihrem Tisch stehen und sage:»Heute abend scheint es Ihnen viel besserzugehen.«
Sie hat darauf gewartet, daß ich etwas in dieser Art sage.»Ich fühle mich auch viel besser«, sagt sie und zeigt dieses Lächeln und perfekte Zähne. Ein wundervolles Gesicht, sogar mit dieser scheußlichen Prellung.
«Kann ich Ihnen etwas holen?«
«Ich hätte gern eine Cola. Dieser Saft ist bitter.«
«Gern«, sage ich und gehe davon, völlig hingerissen. Am Automaten fülle ich zwei große Gläser mit Cola, bezahle und stelle sie auf ihren Tisch. Ich betrachte den leeren Stuhl ihr gegenüber, als wäre ich völlig verwirrt.
«Bitte, setzen Sie sich«, sagte sie.
«Sind Sie sicher?«
«Bitte. Ich habe es satt, nur mit Schwestern zu reden.«
Ich lasse mich nieder und stütze den Ellenbogen auf.»Ich heiße Rudy Baylor«, sage ich.»Und Sie sind Kelly Soundso.«
«Kelly Riker. Nett, Sie kennenzulernen.«
«Ganz meinerseits. «Sie ist aus knapp sechs Meter Entfernung ein überaus erfreulicher Anblick, aber jetzt, da ich sie ohne eine Spur von Verlegenheit aus nur einem Meter Entfernung betrachten kann, ist es unmöglich, den Blick von ihr abzuwenden. Ihre Augen sind hellbraun mit einem schelmischen Funkeln. Sie ist wunderschön.
«Tut mir leid, wenn ich Sie gestern abend belästigt habe«, sage ich, begierig, das Gespräch in Gang zu halten. Es gibt eine Menge Dinge, die ich wissen möchte.
«Sie haben mich nicht belästigt. Tut mir leid, daß ich so ein Spektakel geboten habe.«
«Weshalb kommen Sie hierher?«frage ich, als wäre sie eine Fremde und ich hier zu Hause.
«Um aus meinem Zimmer herauszukommen. Und Sie?«
«Ich lerne für das Anwaltsexamen, und hier ist es so schön ruhig.«
«Sie wollen also Anwalt werden?«
«Ja. Ich bin vor ein paar Wochen mit dem Studium fertig geworden und habe jetzt einen Job bei einer großen Kanzlei. Sobald ich das Examen bestanden habe, kann ich richtig loslegen.«
Sie trinkt durch den Strohhalm und verzieht beim Verlagern ihres Gewichts leicht die Mundwinkel.»Ziemlich übler Bruch, wie?«sage ich und deute mit einem Kopfnicken auf ihr Bein.
«Es ist der Knöchel. Er ist genagelt worden.«
«Wie ist das passiert?«Eine sehr naheliegende Frage, und ich hatte vermutet, daß ihr die Beantwortung absolut keine Probleme bereiten würde.
Aber das ist nicht der Fall. Sie zögert, und ihre Augen werden sofort wieder feucht.»Ein häuslicher Unfall«, sagt sie, als hätte sie diese vage Erklärung einstudiert.
Was zum Teufel soll das bedeuten? Ein häuslicher Unfall? Ist sie die Treppe hinuntergefallen?
«Oh«, sage ich, als wäre alles völlig klar. Ich mache mir Gedanken über die Handgelenke, weil sie beide verbunden sind und nicht in Gips stecken. Sie scheinen nicht gebrochen oder verstaucht zu sein. Vielleicht Schnittwunden.
«Das ist eine lange Geschichte«, murmelt sie zwischen zwei Schlucken und wendet den Blick ab.
«Seit wann sind Sie schon hier?«frage ich.
«Seit zwei Tagen. Sie wollen erst sehen, ob der Nagel richtig sitzt. Wenn nicht, müssen sie das Ganze wiederholen. «Sie hält inne und spielt mit ihrem Strohhalm.»Ist das hier nicht ein merkwürdiger Ort zum Lernen?«fragt sie.
«Durchaus nicht. Es ist ruhig hier. Es gibt massenhaft Kaffe. Ist die ganze Nacht geöffnet. Sie tragen einen Ehering. «Diese Tatsache hat mich mehr gepeinigt als alles andere.
Sie betrachtet ihn, als wäre sie nicht sicher, ob er noch an ihrem Finger steckt.»Ja«, sagt sie und starrt auf ihren Strohhalm. Es ist ein ganz schlichter Ring, ohne Diamant.
«Und wo ist Ihr Mann?«
«Sie stellen eine Menge Fragen.«
«Ich bin Anwalt, jedenfalls fast. Fragen stellen gehört zur Ausbildung.«
«Und weshalb wollen Sie das wissen?«
«Weil es seltsam ist, daß Sie allein hier im Krankenhaus sind, ganz offensichtlich verletzt, und er ist nicht bei Ihnen.«
«Er war früher am T age hier.«
«Und jetzt ist er zu Hause bei den Kindern?«
«Wir haben keine Kinder. Und Sie?«
«Nein. Keine Frau, keine Kinder.«
«Wie alt sind Sie?«
«Sie stellen eine Menge Fragen«, sage ich mit einem Lächeln. Ihre Augen funkeln.»Fünfundzwanzig. Und wie alt sind Sie?«
Sie denkt eine Sekunde darüber nach.»Neunzehn.«
«Das ist mächtig jung, um schon verheiratet zu sein.«
«Mir blieb nichts anderes übrig.«
«Oh, tut mir leid.«
«Das ist nicht Ihre Schuld. Ich wurde schwanger, als ich knapp achtzehn war, habe kurz darauf geheiratet, hatte eine Woche nach der Hochzeit eine Fehlgeburt, und seither ist es bergab gegangen. Befriedigt das Ihre Neugierde?«
«Nein. Ja. Tut mir leid. Worüber möchten Sie reden?«
«Übers College. Wo haben Sie das College besucht?«
«In Austin Peay. Jurastudium an der Memphis State.«
«Ich wollte immer aufs College gehen, aber es wurde nichts daraus. Stammen Sie aus Memphis?«
«Ich bin hier geboren, aber in Knoxville aufgewachsen. Und woher kommen Sie?«
«Aus einer kleinen Stadt, eine Stunde von hier. Wir sind von dort weg, als ich schwanger wurde. Meiner Familie war das alles nur peinlich. Es war Zeit, zu verschwinden.«
Hier brodelt eine ziemlich unerfreuliche Familienangelegenheit direkt unter der Oberfläche, und ich würde mich gern
heraushalten. Sie hat ihre Schwangerschaft zweimal erwähnt, und beide Male hätte sie es vermeiden können. Aber sie ist einsam, und sie möchte reden.
«Also sind Sie nach Memphis gezogen?«