«Was die Handgelenke angeht, ist der Bericht ein bißchen vage. Irgendwann während der Attacke hat er ihre Handgelenke auf den Boden gedrückt und versucht, sie zu vergewaltigen. Aber er war wohl nicht in der Stimmung, in der er zu sein glaubte, vermutlich zuviel Bier. Sie war nackt, als die Polizisten sie fanden, nur mit einem Laken bedeckt. Weglaufen konnte sie nicht, weil ihr Knöchel zersplittert war.«
«Was ist mit ihm geschehen?«
«Verbrachte die Nacht im Gefängnis. Seine Eltern haben Kaution gestellt. Kommt in einer Woche vor Gericht, aber es wird nichts passieren.«
«Weshalb nicht?«
«Höchstwahrscheinlich wird sie die Anklage zurückziehen, sie werden sich küssen und wieder vertragen, und dann wird sie die Luft anhalten, bis er es wieder tut.«
«Woher wissen Sie…«
«Weil es schon einmal passiert ist. Vor acht Monaten bekam die Polizei denselben Anruf, dieselbe Schlägerei, alles dasselbe, nur daß sie mehr Glück hatte. Nur ein paar Prellungen. Offensichtlich war der Schläger nicht zur Hand gewesen. Die Polizisten trennen sie, geben ihnen ein paar gute Ratschläge, schließlich sind sie ja noch halbe Kinder, jung verheiratet, und sie küssen sich und vertragen sich wieder. Dann, vor drei Monaten, kommt der Schläger ins Spiel, und sie verbringt eine Woche in St. Peter's mit gebrochenen Rippen. Die Sache wird der zuständigen Abteilung bei der Polizei von Memphis übergeben, und die drängt auf eine strenge Bestrafung. Aber sie liebt den Jungen und weigert sich, gegen ihn auszusagen. Die ganze Sache wird fallengelassen. Kommt immer wieder vor.«
Ich brauche einen Moment, um das zu verdauen. Ich hatte häuslichen Ärger vermutet, aber nichts so Grauenhaftes. Wie kann ein Mann zu einem Aluminiumschläger greifen und damit auf seine Frau eindreschen?
«Kommt immer wieder vor«, wiederholt Deck, meine Gedanken lesend.
«Sonst noch etwas?«
«Nein. Aber halten Sie Abstand.«
«Danke«, sage ich. Ich fühle mich schwach und benommen.»Danke.«
Er gleitet von seinem Stuhl.»Keine Ursache.«
Natürlich hat Booker wesentlich intensiver für das Anwaltsexamen gelernt als ich. Und er macht sich meinetwegen Sorgen. Das ist typisch für ihn. Für diesen Nachmittag hat er einen Lernmarathon in einem Konferenzraum der Kanzlei Shankle angesetzt.
Ich komme, wie Booker mir eingeschärft hat, genau um zwölf Uhr dort an. Die Büros sind modern, es herrscht Hochbetrieb, und das seltsamste an der Kanzlei ist, daß alle Mitarbeiter schwarz sind. Ich habe in den letzten Monaten eine ganze Menge Kanzleien aufgesucht, und ich kann mich nur an eine schwarze Sekretärin und keinen schwarzen Anwalt erinnern. Hier dagegen ist kein weißes Gesicht zu sehen.
Booker führt mich kurz herum. Obwohl Lunchzeit ist, läuft der Betrieb auf vollen Touren. Computer, Kopierer, Faxgeräte, Telefone, Stimmen — auf den Fluren herrscht beträchtlicher Lärm. Die Sekretärinnen essen an ihren Schreibtischen, die ausnahmslos mit Stapeln von eiliger Arbeit bedeckt sind. Die Anwälte und Anwaltsgehilfen sind recht freundlich, aber sichtlich in Eile. Alle unterliegen einer strengen Kleiderordnung — dunkle Anzüge und weiße Hemden für die Männer, schlichte Kleider für die Frauen, keine grellen Farben, keine Hosen.
Vor meinen Augen rasen Bilder von der Kanzlei von J. Lyman Stone vorbei. Ich verdränge sie.
Booker erklärt, daß Marvin Shankle ein strenges Regiment führt. Er ist immer wie aus dem Ei gepellt, in jeder Hinsicht ein ausgemachter Profi, arbeitet praktisch Tag und Nacht und erwartet von seinen Partnern und Angestellten dasselbe.
Der Konferenzraum liegt in einer stillen Ecke. Ich war für den Lunch zuständig, also packe ich ein paar Sandwiches aus, die ich unterwegs bei Yogi's geholt habe. Kostenlose Sandwiches. Wir unterhalten uns höchstens fünf Minuten über Familie, Fakultät und Freunde. Er stellt ein paar Fragen über meinen Job, aber er weiß, daß er sich zurückhalten muß. Ich habe ihm schon alles erzählt. Fast alles. Ich möchte nicht, daß er etwas über meinen neuen Außenposten in St. Peter's oder meine Aktivitäten dort erfährt.
Booker ist so wahnsinnig anwaltlich geworden. Nach der zugestandenen Zeit für Geplauder schaut er auf die Uhr, dann ergeht er sich über den prachtvollen Nachmittag, den er für uns geplant hat. Wir werden sechs Stunden nonstop lernen, mit kurzen Kaffee- und Toilettenpausen, und um achtzehn Uhr müssen wir draußen sein, weil dann jemand anders diesen Raum braucht.
Von Viertel nach zwölf bis halb zwei repetieren wir die Bundeseinkommensteuergesetze. Booker besorgt den größten Teil des Redens, weil er ein besseres Gespür für Steuern hat. Wir arbeiten nach Examensrepetitorien, und das Steuerrecht ist genauso undurchdringlich wie im letzten Herbst.
Um halb zwei erlaubt er mir, auf die Toilette zu gehen und Kaffee zu holen, und dann übernehme ich bis halb drei den Ball und renne damit durch die Bundesvorschriften über die Beweisaufnahme. Ungeheuer aufregend. Bookers hohe Oktanzahl ist ansteckend, und wir nieten das langweilige Zeug nur so durch.
Bei der Zulassungsprüfung durchzufallen ist ein Alptraum für jeden jungen Anwaltsanwärter; aber ich bin mir sicher, daß es für Booker besonders katastrophal wäre. Für mich wäre es offen gestanden nicht das Ende der Welt. Es würde meinem Ego einen schweren Dämpfer versetzen, aber ich würde es verkraften. Ich würde angestrengter lernen und es nach sechs Monaten noch einmal versuchen. Bruiser würde es nicht kümmern, solange ich jeden Monat ein paar Mandanten an Land ziehe. Ein guter Fall mit schweren Verbrennungen, und Bruiser würde nicht einmal von mir erwarten, daß ich einen zweiten Versuch unternehme.
Aber Booker könnte in Schwierigkeiten geraten. Ich vermute, Mr. Marvin Shankle würde ihm das Leben zur Hölle machen, wenn er beim ersten Mal durchfällt. Fällt er zweimal durch, dann ist er vermutlich Geschichte.
Um genau halb drei betritt Marvin Shankle den Konferenzraum, und Booker stellt mich ihm vor. Er ist Anfang Fünfzig, sehr fit und elegant. Sein Haar ist um die Ohren herum leicht angegraut. Er hat eine sanfte Stimme, aber einen durchdringenden Blick. Marvin Shankle entgeht nichts. In Juristenkreisen im Süden ist er eine Legende, und ich fühle mich geehrt, ihn kennenzulernen.
Booker hat einen Vortrag arrangiert. Fast eine Stunde lang hören wir aufmerksam zu, wie Shankle uns mit der Rechtsprechung in Bürgerrechtsfragen im allgemeinen und der Diskriminierung bei der Vergabe von Arbeitsplätzen im besonderen vertraut macht. Wir machen uns Notizen, stellen ein paar Fragen, aber die meiste Zeit hören wir einfach nur zu.
Dann verschwindet er zu einer Konferenz, und wir verbringen die nächste halbe Stunde allein und ackern uns durch Antitrust-Gesetze und Kartellrecht. Um vier folgt eine weitere Lektion.
Unser nächster Redner ist Tyrone Kipler, ein Partner, der in Harvard studiert und sich auf Verfassungsrecht spezialisiert hat. Er geht die Sache sehr langsam an und kommt erst ein bißchen in Fahrt, als Booker in die Bresche springt und ihn mit Fragen zu überschütten beginnt. Ich ertappe mich dabei, wie ich nachts im Gebüsch lauere und mich mit einem überdimensionalen Baseballschläger wie ein Wilder über Cliff Riker hermache. Um mich wach zu halten, wandere ich um den Tisch herum, trinke becherweise Kaffee, versuche mich zu konzentrieren.
Gegen Ende der Stunde ist Kipler angeregt und gesprächig, und wir bombardieren ihn mit Fragen. Er bricht mitten im Satz ab, schaut nervös auf die Uhr und sagt, er müsse jetzt gehen. Irgendwo wartet ein Richter. Wir danken ihm für seine Zeit, und er stürmt davon.
«Wir haben noch eine Stunde«, sagt Booker. Es ist fünf Minuten nach fünf.»Was wollen wir tun?«
«Trinken wir ein Bier.«
«Tut mir leid. Entweder Sachenrecht oder Ethik.«
Ethik könnte mir nicht schaden, aber ich bin müde und nicht in der Stimmung, mich daran erinnern zu lassen, wie schwerwiegend meine Sünden sind.»Dann eben Sachenrecht.«