Es ist mir egal. Ich kann stundenlang dasitzen und zuhören. Mein Geist ist immer noch vom Anwaltsexamen benommen. Es gehört nicht viel dazu, mich zu unterhalten. Und wenn es mir gelingt, die Juristerei zu vergessen, dann ist da immer noch Kelly, mit der sich mein Denken beschäftigen kann. Ich muß mir noch etwas einfallen lassen, wie ich mich mit ihr in Verbindung setzen kann, ohne ihr zu schaden. Aber ich werde es tun. Laßt mir nur ein bißchen Zeit.
Kapitel 21
Das Shelby County Justice Center ist ein modernes, zwölf Stockwerke hohes Gebäude in der Innenstadt. Hier wird nach dem Konzept schnelle Gerechtigkeit vorgegangen. Es gibt Unmengen von Gerichtssälen und Büros für Kanzlisten und Verwaltungspersonal. Das Haus ist zugleich Sitz der Staatsanwaltschaft und des Sheriffs. Es enthält sogar ein Gefängnis.
Das Strafgericht hat zehn Abteilungen, zehn Richter mit verschiedenen Zuständigkeitsbereichen in verschiedenen Gerichtssälen. Auf den mittleren Stockwerken wimmelt es von Anwälten und Polizisten, Angeklagten und deren Angehörigen. Für einen Neuling ist es ein beängstigender Dschungel, aber Deck kennt sich aus. Er hatte schon ein paarmal hier zu tun.
Er deutet auf die Tür von Abteilung Vier und sagt, er wäre in einer Stunde wieder zurück. Ich trete durch die Doppeltür und lasse mich auf einer der hinteren Bänke nieder. Der Fußboden ist mit Teppichboden ausgelegt, die Möblierung ist deprimierend modern. Im vorderen Teil des Saales wimmeln Anwälte wie Ameisen. Rechts befindet sich ein abgegrenzter Bereich, in dem ein Dutzend Häftlinge in orangefarbenen Overalls darauf warten, zum ersten Mal dem Richter vorgeführt zu werden. Eine Anklägerin sucht in einem Stapel Akten nach der für den richtigen Angeklagten.
In der zweiten Reihe von vorn sehe ich Cliff Riker. Neben ihm sitzt sein Anwalt und hantiert mit Papieren. Seine Frau ist nicht im Saal.
Der Richter erscheint, und alle erheben sich. Ein paar Fälle werden abgehandelt, Kautionen bestimmt oder aufgehoben, künftige Verhandlungen angesetzt. Die Anwälte drängen sich um den Richtertisch, dann nicken sie und füstern mit Seinen Ehren.
Cliff s Name wird aufgerufen, und er stolziert selbstbewußt zu einem Podium vor dem Richtertisch. Sein Anwalt hält sich mit den Papieren neben ihm. Die Anklägerin informiert das Gericht, daß die Anklagen gegen Cliff Riker aus Mangel an Beweisen fallengelassen wurden.
«Wo ist das Opfer?«unterbricht der Richter.
«Sie hat es vorgezogen, nicht zu erscheinen«, erwidert die Vertreterin der Anklage.
«Weshalb?«
Weil sie im Rollstuhl sitzt, hätte ich am liebsten geschrien.
Die Anklägerin zuckt die Achseln, als hätte sie keine Ahnung und als wäre ihr das im übrigen völlig gleichgültig. Cliffs Anwalt zuckt ebenfalls die Achseln, als wäre er überrascht, daß die junge Dame nicht hier ist, um ihre Wunden vorzuzeigen.
Die Anklägerin ist eine vielbeschäftigte Person mit Dutzenden von Fällen, die bis Mittag erledigt werden müssen. Sie liefert eine knappe Zusammenfassung der Tatsachen, schildert die Festnahme und fügt hinzu, daß die Tat sich nicht nachweisen lasse, weil das Opfer nicht aussagen will.
«Das ist das zweite Mal«, sagt der Richter und funkelt Cliff an.»Weshalb lassen Sie sich nicht scheiden, bevor Sie Ihre Frau umbringen?«
«Wir bemühen uns, Hilfe zu bekommen, Euer Ehren«, sagt Cliff mit einstudiert kläglicher Stimme.
«Dann sehen Sie zu, daß Sie sie schnell bekommen. Wenn mir noch einmal eine solche Anklage unterkommt, werde ich sie nicht abweisen. Haben Sie mich verstanden?«
«Ja, Sir«, erwidert Cliff, als täte es ihm unendlich leid, soviel Scherereien gemacht zu haben. Die Papiere werden zum Richtertisch hinaufgereicht. Der Richter unterschreibt und schüttelt dabei den Kopf. Klage abgewiesen.
Auch diesmal wurde die Stimme des Opfers nicht gehört. Kelly sitzt zu Hause mit einem gebrochenen Knöchel, aber das ist nicht der Grund für ihr Fernbleiben. Sie versteckt sich, weil sie nicht wieder geschlagen werden will. Ich frage mich, welchen Preis sie für das Fallenlassen der Anklage gezahlt hat.
Cliff gibt seinem Anwalt die Hand und stolziert den Gang entlang, an meiner Bank vorbei und zur Tür hinaus. Er kann tun, was immer er will, und braucht sich nicht vor Strafverfolgung zu fürchten, weil niemand da ist, der ihr helfen könnte.
Es liegt eine frustrierende Logik in dieser Fließbandjustiz. Da drüben sitzen gar nicht so weit entfernt Vergewaltiger, Mörder und Drogendealer in ihren orangefarbenen Overalls und mit Handschellen. Das System läßt kaum genug Zeit, um sich diese Verbrecher vorzunehmen und wenigstens ein gewisses Maß an Gerechtigkeit walten zu lassen. Wie kann man da erwarten, daß sich noch jemand um die Rechte einer einzigen mißhandelten Frau kümmert?
Vorige Woche, während ich noch mitten im Examen steckte, hat Deck ein bißchen herumtelefoniert. Er hat die neue Adresse und die Telefonnummer der Rikers herausgefunden. Sie sind in eine neue Wohnanlage im Südosten von Memphis gezogen. Zwei Zimmer, vierhundert im Monat. Cliff arbeitet bei einer nicht gewerkschaftlich organisierten Spedition ganz in der Nähe von unserem Büro. Deck vermutet, daß er ungefähr sieben Dollar pro Stunde verdient. Sein Rechtsbeistand war irgendein Feld-Wald-und-Wiesen-Anwalt, wie es sie in dieser Stadt zu Abertausenden gibt.
Ich habe Deck die Wahrheit über Kelly erzählt. Er meinte, es wäre wichtig, daß er Bescheid wüßte, denn wenn Cliff mir mit einer Schrotflinte den Kopf wegpusten sollte, dann gäbe es immer noch ihn, Deck, und er würde schon erzählen, wie es dazu gekommen ist.
Und dann hat Deck noch gesagt, ich sollte sie besser vergessen. Sie bringt nichts als Ärger.
Auf meinem Schreibtisch liegt ein Zettel, daß ich mich umgehend bei Bruiser melden soll. Er sitzt allein hinter seinem ausladenden Schreibtisch und spricht in das Telefon auf der rechten Seite. Links von ihm steht ein zweiter Apparat, drei weitere sind über das Büro verteilt. Dazu eins im Wagen und eins in der Aktentasche. Und das, das er mir gegeben hat, damit ich rund um die Uhr erreichbar bin.
Er bedeutet mir, mich zu setzen, verdreht seine rotgeränderten Augen, als hätte er da einen besonders penetranten Schwachkopf an der Strippe, und grunzt irgend etwas Zustimmendes in den Hörer. Die Haie schlafen entweder oder haben sich hinter Felsbrocken versteckt. Der Filter des Aquariums summt und gurgelt.
Deck hat mir zugefüstert, daß die Kanzlei Bruiser zwischen dreihundert- und fünfhunderttausend im Jahr einbringt. Das ist schwer zu glauben, wenn man sich in diesem schäbigen Zimmer umsieht. Vier Anwälte sind ständig für ihn auf Achse, um Verletzungsfälle an Land zu ziehen. (Und jetzt hat er mich noch dazu.) Deck konnte aus dem Stegreif fünf Fälle aufzählen, die Bruiser im letzten Jahr jeweils hundert- bis hundertfünfzigtausend eingebracht haben. Er scheffelt Geld mit Drogensachen und hat sich in der Rauschgiftbranche den Ruf eines Anwalts erworben, auf den man sich verlassen kann. Aber Deck zufolge sahnt Bruiser mit seinen Beteiligungen erst richtig ab. Er ist — niemand weiß, in welchem Ausmaß, und die Bundesbehörden können es ihm offenbar trotz verzweifelter Versuche nicht einmal nachweisen — in das Pornogeschäft in Memphis und Nashville verwickelt. Die Branche operiert vorwiegend mit Bargeld, also weiß niemand, wieviel er einstreicht.
Er ist dreimal geschieden, erzählte Deck, als wir bei Trudy's ein fettiges Sandwich aßen, und er hat drei halbwüchsige Kinder, die, wie nicht anders zu erwarten, bei ihren jeweiligen Müttern leben; er umgibt sich gern mit jungen Bartänzerinnen, trinkt und wettet zuviel und wird nie, einerlei, wieviel Bares er mit seinen dicken Händen zu packen kriegt, genug Geld haben, um zufrieden zu sein.