Ich nicke und beuge mich jetzt genauso tief über den Tisch wie Deck. Es kann uns niemand hören, aber ein paar Leute starren zu uns herüber, weil wir so konspirativ die Köpfe über unserem Essen zusammenstecken.
«Also, gestern hat David Roy vor dem großen Geschworenengericht ausgesagt. Sieht so aus, als hätte er einen Handel abgeschlossen.«
Damit hat Deck seine Pointe abgeliefert. Er richtet sich steif
auf und verdreht die Augen, als müßte ich mir jetzt alles weitere selber zusammenreimen können.
«Und?«frage ich, immer noch füsternd.
Er runzelt die Stirn und sieht sich mißtrauisch um, dann senkt er wieder den Kopf.»Es ist damit zu rechnen, daß er über Bruiser auspackt. Vielleicht auch über Prince Thomas. Ich habe sogar Gerüchte gehört, daß ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt ist.«
«Ein Mord auf Bestellung?«
«Ja. Leise!«
«Von wem?«Doch bestimmt nicht von meinem Arbeitgeber.
«Raten Sie mal.«
«Doch nicht Bruiser.«
Er zeigt mir ein schmallippiges, zahnloses, schüchternes kleines Lächeln, dann sagt er:»Wäre nicht das erste Mal. «Er beißt ein gewaltiges Stück von seinem Sandwich ab und kaut gemächlich, während er mir zunickt. Ich warte, bis er geschluckt hat.
«Also, was versuchen Sie mir hier beizubringen?«
«Halten Sie sich Ihre Optionen offen.«
«Ich habe keine Optionen.«
«Es könnte sein, daß Sie von hier verschwinden müssen.«
«Ich habe doch gerade erst angefangen.«
«Es könnte brenzlig werden.«
«Was ist mit Ihnen?«
«Kann schon sein, daß ich auch von hier verschwinde.«
«Was ist mit den anderen?«
«Kümmern Sie sich nicht um die, die kümmern sich auch nicht um Sie. Ich bin Ihr einziger Freund hier.«
Diese Worte gehen mir stundenlang nicht aus dem Kopf. Deck weiß mehr, als er zugibt, aber wenn wir noch ein paarmal zusammen essen, werde ich schon alles aus ihm rausholen. Ich habe den starken Verdacht, daß er nach einem warmen Plätzchen sucht, wo er hinkann, wenn die Katastrophe hereinbricht. Die anderen Anwälte in der Kanzlei habe ich zwar kennengelernt — Nicklass, Toxer und Ridge —, aber die halten auf Abstand und legen keinen Wert auf Gespräche. Ihre Türen sind immer geschlossen. Deck mag sie nicht, und über ihre
Gefühle ihm gegenüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Deck zufolge sind Toxer und Ridge Freunde und haben vermutlich vor, bald ihre eigene kleine Kanzlei aufzumachen. Nicklass ist Alkoholiker und ziemlich erledigt.
Schlimmstenfalls würde Bruiser angeklagt, verhaftet und vor Gericht gestellt. Bis zum Prozeß würde noch mindestens ein Jahr vergehen. Vermutlich würde er nach wie vor arbeiten und seine Kanzlei leiten können. Sie können ihn erst aus der Anwaltskammer ausschließen, wenn er verurteilt worden ist.
Reg dich nicht auf, sage ich mir immer wieder.
Und wenn ich auf der Straße lande, dann wäre es schließlich nicht das erste Mal. Bisher bin ich noch immer auf die Füße gefallen.
Ich fahre in die ungefähre Richtung von Miss Birdies Haus und komme an einem städtischen Park vorbei. Im Flutlicht sind mindestens drei Softballspiele im Gange.
Ich halte an einer Telefonzelle neben einer Autowaschanlage an und wähle die Nummer. Nach dem dritten Läuten meldet sie sich.»Hallo?«Ihre Stimme geht mir durch und durch.
«Ist Cliff zu Hause?«frage ich, eine Oktave tiefer. Wenn sie ja sagt, hänge ich einfach auf.
«Nein. Wer ist am Apparat?«
«Rudy«, sage ich mit normaler Stimme. Ich halte den Atem an und mache mich darauf gefaßt, daß jetzt ein Klicken und dann das Freizeichen folgt, gleichzeitig rechne ich aber auch damit, daß sie etwas Sanftes, Sehnsüchtiges zu mir sagt.
Sie schweigt einen Moment, legt aber nicht auf.»Ich hatte Sie gebeten, mich nicht anzurufen«, sagt sie ohne eine Spur von Verärgerung oder Ungeduld im Ton.
«Tut mir leid. Ich konnte nicht anders. Ich mache mir Sorgen um Sie.«
«Wir dürfen das nicht tun.«
«Was dürfen wir nicht?«
«Leben Sie wohl. «Jetzt höre ich das Klicken und das Freizeichen danach.
Ich habe meinen ganzen Mut zusammennehmen müssen, um sie anzurufen, und jetzt wünschte ich, ich hätte es nicht
getan. Manche Leute haben mehr Mut als Verstand. Ich weiß, daß ihr Mann ein hitzköpfger Irrer ist, aber ich weiß nicht, wie weit er gehen würde. Wenn er eifersüchtig veranlagt ist — und da mache ich mir keine Illusionen, denn schließlich ist er ein Prolet, neunzehn und jetzt schon kaputt und noch dazu mit einem schönen Mädchen verheiratet —, dann wacht er vermutlich argwöhnisch über jeden Schritt, den sie tut. Aber würde er so weit gehen, ihr Telefon anzuzapfen?
Der Gedanke ist ziemlich weit hergeholt, aber er hält mich wach.
Ich habe weniger als eine Stunde geschlafen, als mein Telefon klingelt. Nach der Digitaluhr auf meinem Nachttisch ist es kurz vor vier Uhr morgens. Ich taste im Dunkeln nach dem Telefon.
Es ist Deck, der mächtig aufgeregt und in rasendem Tempo in sein Autotelefon spricht. Er ist zu mir unterwegs, keine drei Blocks entfernt. Es ist etwas Großes, Dringendes, irgendeine wundervolle Katastrophe. Beeilen Sie sich! Ziehen Sie sich an! Ich soll in weniger als einer Minute an der Straße sein.
Er wartet in seinem ramponierten Kombi auf mich. Ich springe hinein, und er gibt Gas und jagt los. Ich hatte nicht einmal Zeit, mir die Zähne zu putzen.»Wo zum Teufel wollen wir hin?«
«Schwerer Unfall auf dem Fluß«, verkündet er ernst, als wäre er tief betrübt. Arbeitsalltag.»Kurz nach elf gestern abend hat sich eine Ölschute von ihrem Schlepper losgerissen und ist flußabwärts getrieben, bis sie einen Raddampfer rammte, der für einen High-School-Abschlußball gechartert worden war. Vielleicht so dreihundert Kids an Bord. Der Dampfer ist bei Mud Island gesunken, ganz in der Nähe des Ufers.«
«Das ist entsetzlich, Deck, aber was zum Teufel sollen wir dabei tun?«
«Ganz einfach. Bruiser bekommt einen Anruf. Bruiser ruft mich an. Und jetzt sind wir hier. Es ist eine riesige Katastrophe, vermutlich die größte, die sich je in Memphis zugetragen hat.«
«Und sollen wir darauf jetzt stolz sein?«
«Sie verstehen nicht. Bruiser läßt sich das doch nicht entgehen.«
«Na schön. Soll er seinen dicken Hintern in einen Taucheranzug stecken und nach den Toten suchen.«
«Könnte eine Goldmine sein. «Deck rast quer durch die Stadt. Wir reden nicht mehr miteinander. Als wir uns der Innenstadt nähern, überholt uns ein Krankenwagen, und mein Puls beschleunigt sich. Eine weitere Ambulanz schießt aus einer Nebenstraße vor uns vorbei.
Der Riverside Drive ist mit Dutzenden von Polizeifahrzeugen blockiert, deren Lichter durch das Dunkel flackern und zucken. Feuerwehrwagen und Ambulanzen stehen Stoßstange an Stoßstange. Ein Stück flußabwärts verhält ein Hubschrauber in der Luft. Hier und da stehen Leute reglos in Gruppen zusammen, andere eilen herum, rufen und zeigen auf etwas. In Ufernähe ist der Ausleger eines Krans zu sehen.
Wir eilen um das gelbe Absperrband herum und gesellen uns zu einer Gruppe von Zuschauern in der Nähe des Ufers. Hier sieht es jetzt schon seit mehreren Stunden immer gleich aus, und die Hektik hat sich weitgehend gelegt. Jetzt warten sie. Viele der Leute drängen sich in verängstigten, auf dem Kopfsteinpflaster sitzenden Grüppchen aneinander und schauen weinend zu, wie Taucher und Sanitäter nach Toten suchen. Geistliche beten kniend mit den Familien. Dutzende von benommenen Kids in nassen Smokings und zerrissenen Ballkleidern sitzen beieinander, halten sich bei den Händen und starren auf den Fluß hinaus. Eine Seite des Raddampfers ragt drei Meter aus dem Wasser, und die Retter, viele von ihnen in schwarzblauen Taucheranzügen und mit Sauerstoffflaschen, klammern sich daran. Andere arbeiten von drei miteinander vertäuten Pontons aus.