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Hier spielt sich ein Ritual ab, aber es dauert eine Weile, bis man das begriffen hat. Ein Polizeilieutenant überquert langsam eine von einer schwimmenden Pier an Land führende Laufplanke und tritt auf das Kopfsteinpflaster. Die Menge, die ohnehin schon kaum einen Laut von sich gegeben hat, verstummt jetzt völlig. Er geht zu einem Streifenwagen, und sofort scharen sich mehrere Reporter um ihn. Der größte Teil der

Leute bleibt sitzen, umklammert seine Decken, senkt die Köpfe zu inbrünstigem Gebet. Es sind die Eltern, Verwandten und Freunde. Der Lieutenant sagt:»Es tut mir leid, aber wir haben gerade die Leiche von Melanie Dobbins identifiziert.«

Seine Worte tragen durch die Stille, die fast sofort vom Aufschluchzen der Angehörigen des Mädchens durchbrochen wird. Sie fallen sich in die Arme und geben sich gemeinsam ihrem Leid hin. Freunde knien nieder und umarmen sie, dann schreit eine Frau auf.

Die anderen drehen sich um und schauen hin, stoßen aber gleichzeitig einen Seufzer der Erleichterung aus. Auch sie sind auf eine schlimme Nachricht gefaßt, aber zumindest ist sie aufgeschoben. Es besteht noch Hoffnung. Später habe ich erfahren, daß einundzwanzig Kids überlebt haben, weil sie in eine Luftblase gesaugt worden waren.

Der Polizeilieutenant entfernt sich und kehrt zu der Pier zurück, wo eine weitere Leiche aus dem Wasser gezogen wird.

Dann beginnt sich ein zweites Ritual zu entfalten, das weniger tragisch, aber weitaus verabscheuenswürdiger ist. Männer mit ernsten Gesichtern schieben oder schleichen sich an die trauernden Familien heran. Sie haben kleine weiße Geschäftskarten dabei, die sie den Angehörigen oder Freunden der Toten in die Hand zu drücken versuchen. In der Dunkelheit drängen sie sich immer näher heran und behalten sich dabei gegenseitig argwöhnisch im Auge. Sie würden morden für diesen Fall. Sie wollen nur ein Drittel vom Erlös.

Deck registriert das alles, bevor ich überhaupt begriffen habe, was da vor sich geht. Er deutet mit einem Kopfnicken auf eine Stelle näher bei den trauernden Familien, aber ich denke nicht daran, mich zu bewegen. Er schleicht sich davon in die Menge und verschwindet rasch in der Dunkelheit, um seine Goldmine auszubeuten.

Ich kehre dem Fluß den Rücken, und wenig später renne ich durch die Straßen der Innenstadt von Memphis.

Kapitel 22

Der Juristische Prüfungsausschuß verschickt die Ergebnisse des Anwaltsexamens per Einschreiben. In der Fakultät kursieren Geschichten von Leuten, die sich keinen Schritt von ihrem Briefkasten weggerührt haben und dann zusammengebrochen sind. Andere sollen wie die Blöden ihren Brief über dem Kopf schwenkend durch die Straßen getobt sein. Früher hat man über solche Geschichten gelacht, jetzt kann ich nichts Komisches mehr daran finden.

Dreißig Tage ist es jetzt her, und immer noch kein Brief. Ich habe meine Privatadresse angegeben, weil ich ganz sicher sein wollte, daß niemand in Bruisers Kanzlei den Brief öffnet.

Der einunddreißigste Tag ist ein Samstag, und ich darf tatsächlich bis neun schlafen, bevor meine Sklaventreiberin mit einem Malerpinsel an meine Tür klopft. Sie hat ganz plötzlich beschlossen, daß die Garage unter meiner Wohnung gestrichen werden muß, obwohl ich finde, daß sie noch recht gut aussieht. Sie lockt mich mit der Neuigkeit aus dem Bett, daß sie bereits Eier und Speck zubereitet hat, und die werden nun kalt, also beeilen Sie sich.

Die Arbeit läuft gut. Beim Streichen sieht man sofort recht erfreuliche Ergebnisse. Man merkt, daß man vorankommt. Die Sonne hat sich hinter dichtgetürmten Wolken verkrochen, und ich arbeite bestenfalls gemächlich.

Um sechs verkündet Miss Birdie, daß es Zeit zum Aufhören sei, ich hätte genug gearbeitet und könnte mich auf eine ganz besondere Überraschung zum Abendessen freuen — sie wird uns eine vegetarische Pizza machen!

Ich habe vorige Nacht bis eins bei Yogi's gearbeitet und verspüre vorerst keine Lust, dorthin zurückzukehren. Also habe ich an diesem Samstagabend nichts zu tun. Und was noch schlimmer ist — ich habe nicht einmal daran gedacht, irgend etwas zu unternehmen. Traurig, aber wahr: Die Vorstellung, mit einer Achtzigjährigen eine vegetarische Pizza zu essen, ist für mich ziemlich verlockend.

Ich dusche und ziehe eine leichte Hose und Turnschuhe an. Als ich das Haus betrete, kommt ein merkwürdiger Geruch aus der Küche. Miss Birdie fuhrwerkt darin herum. Sie hat noch nie eine Pizza gemacht, erklärt sie mir, als sollte es mich freuen, das zu hören.

Sie ist nicht schlecht. Die Zucchini und der gelbe Paprika sind nicht ganz gar, aber sie hat eine Menge Ziegenkäse und Pilze drauf gepackt. Und ich bin halb verhungert. Wir essen im Wohnzimmer und sehen uns dabei einen Film mit Cary Grant und Audrey Hepburn an. Sie weint fast während des ganzen Films.

Der zweite Film ist mit Bogart und Bacall, und mein Muskelkater setzt ein. Ich bin dem Einschlafen nahe. Miss Birdie dagegen sitzt auf der Sofakante und lauscht atemlos jedem Wort eines Films, den sie seit fünfzig Jahren kennt.

Plötzlich springt sie auf.»Ich hab was vergessen!«ruft sie und eilt in die Küche, wo ich sie mit Papieren rascheln höre. Sie kommt mit einem Blatt ins Wohnzimmer zurück, bleibt vor mir stehen und verkündet dramatisch:»Rudy! Sie haben das Examen bestanden!«

Sie hält ein einzelnes Blatt weißes Papier hoch, und ich reiße es ihr fast aus der Hand. Es kommt vom Juristischen Prüfungsausschuß von Tennessee, ist natürlich an mich adressiert, und auf der Mitte der Seite stehen die majestätischen Worte:»Herzlichen Glückwunsch. Sie haben das Anwaltsexamen bestanden.«

Ich wirbele herum und sehe Miss Birdie an, und für den Bruchteil einer Sekunde hätte ich ihr für dieses unverschämte Eindringen in meine Privatsphäre am liebsten einen Schlag ins Gesicht versetzt. Sie hätte es mir schon früher sagen müssen, und natürlich war sie nicht befugt, meinen Brief zu öffnen. Aber ihre sämtlichen grauen und gelben Zähne sind zu sehen. Sie hat Tränen in den Augen und die Hände vor dem Gesicht, sie ist fast so selig, wie ich es bin. Mein Zorn weicht rasch einem totalen Glücksgefühl.

«Wann ist er gekommen?«frage ich.

«Heute, während Sie beim Streichen waren. Der Postbote hat bei mir angeklopft und nach Ihnen gefragt, aber ich habe gesagt, Sie wären beschäftigt, und deshalb habe ich für Sie unterschrieben.«

Dafür unterschreiben ist eine Sache, den Brief öffnen eine ganz andere.

«Sie hätten ihn nicht öffnen dürfen«, sage ich, aber nicht wirklich böse. Es ist unmöglich, in einem solchen Moment wütend zu sein.

«Tut mir leid. Ich dachte, Sie hätten nichts dagegen. Aber ist es nicht aufregend?«

Das ist es in der Tat. Ich schwebe in die Küche, grinse wie ein Schwachkopf, atme in großen Zügen die von der Last befreite Luft ein. Alles ist wunderbar. Was für eine großartige Welt!

«Das muß gefeiert werden«, sagt sie mit einem verschmitzten kleinen Lächeln.

Sie greift in den hintersten Winkel eines Schrankes, tastet herum, lächelt und holt schließlich langsam eine merkwürdig geformte Flasche heraus.»Die habe ich für besondere Anlässe aufgehoben.«

«Was ist das?«frage ich und nehme die Flasche. So etwas habe ich bei Yogi's noch nie gesehen.

«Melonenlikör. Ziemlich starkes Zeug. «Sie gibt ein Kichern von sich. In diesem Augenblick würde ich alles trinken. Sie findet zwei zusammen passende Kaffeetassen — in diesem Haus wird sonst nie Alkoholisches ausgeschenkt — und gießt sie halb voll. Die Flüssigkeit ist dick und klebrig. Der Geruch erinnert mich an irgendwas beim Zahnarzt.