Die Kosten einer solchen Vernehmung hängen von ihrer Länge ab. Gerichtsprotokollantinnen berechnen ihr Honorar seitenweise, deshalb hat Deck mir geraten, meine Fragen möglichst knapp zu halten. Es ist unsere Vernehmung, also müssen wir dafür bezahlen, und er schätzt die Kosten auf knapp vierhundert Dollar. Prozessieren ist teuer.
Kipler fragt Donny Ray, ob wir anfangen können, dann fordert er die Protokollantin auf, ihn zu vereidigen. Er verspricht, die Wahrheit zu sagen. Da er mein Zeuge ist und es sich hier nicht etwa um irgendeine nette Samstagvormittagunterhaltung handelt, sondern eine offizielle Beweisaufnahme, muß ich mich genau an die Regeln halten. Ich bin ziemlich nervös, aber die Anwesenheit von Richter Kipler ist überaus tröstlich.
Ich frage Donny Ray nach Namen, Adresse, Geburtsdatum und ein paar Angaben über seine Eltern und Angehörigen. Simples Zeug, einfach für ihn und für mich. Er antwortet langsam und in die Kamera, genau, wie ich es ihm gesagt habe. Er kennt sämtliche Fragen, die ich ihm stellen werde, und die meisten, die Drummond vorbringen könnte. Er sitzt mit dem Rücken zum Stamm der Eiche, eine hübsche Szenerie. Gelegentlich tupft er sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. Die neugierigen Blicke aller Anwesenden ignoriert er.
Obwohl ich ihm nicht gesagt habe, er sollte sich so krank und schwach wie möglich geben, scheint er genau das zu tun. Aber vielleicht hat Donny Ray tatsächlich nur noch ein paar Tage zu leben.
Nur Zentimeter von mir entfernt balancieren Drummond, Grone und Hill ihre Notizblöcke auf den Knien und versuchen, jedes Wort festzuhalten, das Donny Ray von sich gibt. Ich frage mich, wieviel sie für Vernehmungen am Samstag berechnen. Es dauert nicht lange, da werden die blauen Blazer ausgezogen und die Krawatten gelockert.
Während einer langen Pause knallt plötzlich die Hintertür zu, und Buddy torkelt auf die Veranda. Er hat sich umgezogen und trägt jetzt seinen vertrauten roten Pullover mit den dunklen Recken und hat eine verdächtig aussehende Papiertüte bei sich. Ich versuche, mich auf meinen Zeugen zu konzentrieren, aber aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie Buddy den Garten durchquert und uns dabei argwöhnisch mustert. Ich weiß genau, wo er hinwill.
Die Fahrertür des Fairlane steht offen, und er läßt sich auf dem Vordersitz nieder, woraufhin Katzen aus sämtlichen Fenstern springen. Dots Gesicht verspannt sich, und sie wirft mir einen nervösen Blick zu. Ich schüttele schnell den Kopf, wie um zu sagen» Lassen Sie ihn in Ruhe. Er ist harmlos. «Sie würde ihn am liebsten umbringen.
Donny Ray und ich unterhalten uns über seine Schulzeit, seine Jobs, die Tatsache, daß er nie aus seinem Elternhaus ausgezogen ist, sich nie als Wähler hat eintragen lassen, nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist. Das ist bei weitem nicht so schwierig, wie ich es mir letzte Nacht in der Hängematte vorgestellt habe. Ich höre mich an wie ein richtiger Anwalt.
Ich stelle Donny Ray eine Reihe gut einstudierter Fragen über seine Krankheit und die Behandlung, die ihm nicht zuteil wurde. Hier bin ich sehr vorsichtig, denn er darf nichts von dem wiederholen, was sein Arzt ihm gesagt hat, und er darf auch keine Vermutungen anstellen oder medizinische Ansichten äußern. Das wäre Hörensagen. Das werden, wie ich hoffe, beim Prozeß andere Zeugen besorgen. Drummond ist voll und ganz bei der Sache. Er nimmt jede Antwort begierig auf, analysiert sie rasch und wartet dann auf die nächste. Er ist völlig ungerührt.
Donny Rays Durchhaltevermögen ist begrenzt, sowohl geistig als auch körperlich, und auch die Geschworenen werden sich das hier nur bis zu einer gewissen Grenze ansehen wollen. Nach zwanzig Minuten mache ich Schluß, ohne irgendwelche Einwände von der Gegenseite. Deck zwinkert mir zu, als wäre ich der Größte.
Leo Drummond stellt sich, fürs Protokoll, Donny Ray vor, dann erklärt er, wen er vertritt und wie leid es ihm tut, hiersein zu müssen. Er spricht nicht mit Donny Ray, sondern viel eher zu den Geschworenen. Seine Stimme ist verbindlich und verständnisvoll, ein Mann mit echtem Mitgefühl.
Nur ein paar Fragen. Er stochert sanft in dem Thema herum, weshalb Donny Ray sein Elternhaus nie verlassen hat, nicht einmal für eine Woche oder einen Monat, um woanders zu leben. Da er volljährig ist, würden sie nur allzugern feststellen, daß er ausgezogen und deshalb von der von seinen Eltern gekauften Police nicht gedeckt ist.
Donny Ray antwortet mehrfach mit einem höflichen und schwächlichen:»Nein, Sir.«
Drummond geht kurz auf die Frage nach eventueller anderweitiger Deckung ein. Hat Donny Ray je eine eigene Police gekauft? Hat er je für eine Firma gearbeitet, die für ihre Mitarbeiter eine Krankenversicherung abgeschlossen hatte? Ein paar weitere Fragen in dieser Richtung werden alle mit einem leisen» Nein, Sir «beantwortet.
Trotz der ein wenig ausgefallenen Szenerie ist das alles nichts Neues für Drummond. Er hat vermutlich bereits Tausende von Vernehmungen durchgeführt und weiß, daß er vorsichtig sein muß. Die Geschworenen würden jede grobe Behandlung dieses jungen Mannes übel vermerken. Es ist sogar für Drummond eine wundervolle Gelegenheit, einige Pluspunkte bei der Jury einzuheimsen, indem er ein wenig echtes Mitgefühl für den armen Donny Ray zeigt. Außerdem weiß er, daß aus diesem Zeugen nicht viele stichhaltige Informationen herauszuholen sind. Weshalb ihn also bedrängen?
Nach weniger als zehn Minuten ist Drummond fertig. Ich habe keine Gegenfragen. Kipler erklärt die Vernehmung für beendet. Dot beeilt sich, ihrem Sohn das Gesicht mit einem feuchten Tuch abzuwischen. Er sieht mich beifallheischend an, und ich recke kurz den Daumen hoch. Die Anwälte der Verteidigung sammeln ihre Blazer und Aktenkoffer ein und verabschieden sich. Sie können gar nicht schnell genug verschwinden. Und ich auch nicht.
Richter Kipler macht sich daran, Stühle ins Haus zurückzutragen, und wirft im Vorbeigehen einen Blick auf den in seinem Fairlane sitzenden Buddy. Claws hockt mitten auf der Kühlerhaube, bereit zum Angriff. Ich hoffe, es gibt kein Blutvergießen. Dot und ich helfen Donny Ray zurück ins Haus. Kurz bevor wir durch die Tür gehen, werfe ich einen Blick nach links. Deck bearbeitet die Leute am Zaun und verteilt meine Karten, ist er nicht ein netter Junge?
Kapitel 29
Die Frau ist tatsächlich in meiner Wohnung, und als ich die Tür öffne, steht sie in meinem Wohnzimmer mit einer meiner Zeitschriften in der Hand. Als sie mich sieht, fährt sie zusammen und läßt die Zeitschrift fallen. Ihr Mund öffnet sich.»Wer sind Sie?«kreischt sie fast.
Sie scheint keine Kriminelle zu sein.»Ich wohne hier. Wer zum Teufel sind Sie?«
«Ach du lieber Gott«, sagt sie, vor Aufregung keuchend, und preßt eine Hand auf ihr Herz.
«Was suchen Sie hier?«frage ich noch einmal, jetzt wirklich zornig.
«Ich bin Delberts Frau.«
«Wer zum Teufel ist Delbert? Und wie sind Sie hier hereingekommen?«
«Wer sind Sie?«
«Ich bin Rudy. Ich wohne hier. Das ist eine Privatwohnung.«
Daraufhin läßt sie den Blick schnell durch das Zimmer wandern, als wollte sie sagen:»Wirklich eine tolle Wohnung«.
«Birdie hat mir den Schlüssel gegeben und gesagt, ich könnte mich umschauen.«
«Das hat sie bestimmt nicht!«
«Doch, das hat sie!«Sie zieht einen Schlüssel aus ihren engen Shorts und schwenkt ihn vor meiner Nase. Ich schließe die Augen und denke ernsthaft daran, Miss Birdie zu erwürgen.»Ich heiße Vera, aus Florida. Wir sind für ein paar Tage bei Birdie zu Besuch.«
Jetzt erinnere ich mich. Delbert ist Miss Birdies jüngerer Sohn, derjenige, den sie seit drei Jahren nicht gesehen hat und der nie anruft und nie schreibt. Ich kann mich nicht erinnern, ob Vera diejenige ist, die Miss Birdie ein Flittchen genannt hat, aber es wäre durchaus passend. Sie ist um die Fünfzig mit der ledrig braunen Haut einer passionierten Sonnenanbeterin. Orangefarbene Lippen, die in der Mitte eines schmalen Kupfergesichts leuchten; verschrumpelte Arme; enge Shorts über ebenso verschrumpelten, aber grandios gebräunten Stöckerbeinen. Gräßliche gelbe Sandalen.