Es ist fast dunkel, als ich leise auf die Auffahrt einbiege. Neben Miss Birdies Cadillac stehen zwei fremde Wagen, zwei funkelnde Pontiacs mit Avis-Aufklebern an der hinteren Stoßstange. Während ich auf Zehenspitzen ums Haus schleiche und hoffe, in meine Wohnung zu gelangen, ohne gesehen zu werden, höre ich Stimmen.
Ich bin lange im Büro geblieben, in erster Linie, weil ich Delbert und Vera aus dem Wege gehen wollte. Aber das Glück habe ich nicht. Sie sitzen mit Miss Birdie auf der Terrasse und trinken Tee. Und da ist noch mehr Besuch.
«Da ist er«, sagt Delbert laut, sobald er meiner ansichtig geworden ist. Ich bleibe stehen und schaue zur Terrasse.»Kommen Sie her, Rudy. «Es ist eher ein Befehl als eine Einladung.
Als ich näher komme, steht er langsam auf, und ein anderer Mann folgt seinem Beispiel. Delbert zeigt auf den Neuankömmling.»Rudy, das ist mein Bruder Randolph.«
Randolph und ich geben uns die Hand.»Meine Frau June«, sagt er und deutet auf eine weitere alternde, lederhäutige Person vom Vera-Typ, diesmal mit gebleichtem Haar. Ich nicke ihr zu. Sie bedenkt mich mit einem Blick, der Käse zum Kochen bringen könnte.
«Miss Birdie«, sage ich höflich und nicke meiner Hauswirtin zu.
«Hallo, Rudy«, sagt sie süß. Sie sitzt neben Delbert auf dem Korbsofa.
«Setzen Sie sich zu uns«, sagt Randolph und deutet auf einen freien Stuhl.
«Nein, danke. Ich muß in meine Wohnung und nachsehen, ob wieder jemand dort herumgeschnüffelt hat«, sage ich mit einem Blick auf Vera. Sie sitzt ein wenig abseits von den anderen hinter dem Sofa, vermutlich so weit weg von June, wie es nur geht.
June ist zwischen vierzig und fünfundvierzig. Ihr Mann ist, soweit ich mich erinnere, fast sechzig. Jetzt fällt mir wieder
ein, daß sie diejenige ist, die Miss Birdie als Flittchen bezeichnet hat. Randolphs dritte Frau. Die, die immer nach dem Geld fragt.
«Wir waren nicht in Ihrer Wohnung«, sagt Delbert mürrisch.
Im Gegensatz zu seinem aufgedonnerten Bruder altert Randolph mit Würde. Er ist nicht dick, sein Haar ist nicht dauergewellt und gefärbt, er ist nicht mit Gold behängt. Er trägt ein Golfhemd, Bermudashorts, weiße Socken, weiße Turnschuhe. Wie alle anderen ist er gebräunt. Man könnte ihn ohne weiteres für einen leitenden Angestellten im Ruhestand halten, die dazugehörige kleine Plastiktrophäe in Gestalt einer Ehefrau hat er jedenfalls.»Wie lange gedenken Sie noch hier wohnen zu bleiben, Rudy?«fragt er.
«Ich wüßte nicht, daß ich ausziehe.«
«Das habe ich auch nicht behauptet. Reine Neugierde. Mutter sagt, es gäbe keinen Mietvertrag, also frage ich nur.«
«Und warum fragen Sie?«Die Lage ändert sich rapide. Bis gestern abend hat Miss Birdie nie ein Wort über einen Mietvertrag verloren.
«Weil ich Mutter von jetzt an helfe, ihre Angelegenheiten zu regeln. Die Miete ist sehr niedrig.«
«Das kann man wohl sagen«, setzt June hinzu.
«Sie haben sich doch wohl nicht beschwert, Miss Birdie, oder?«frage ich sie.
«Ach nein«, sagt sie vage, als hätte sie vielleicht daran gedacht, sich zu beschweren, aber einfach nicht die Zeit dazu gefunden.
Ich könnte das Mulchverteilen und Streichen und Unkrautjäten zur Sprache bringen, aber ich bin entschlossen, mich mit diesen Schwachköpfen auf keine Diskussion einzulassen.»Na also«, sage ich.»Wenn die Hauswirtin zufrieden ist, weshalb zerbrechen Sie sich dann den Kopf?«
«Wir wollen nicht, daß Mama ausgenutzt wird«, sagt Delbert.
«Na hör mal, Delbert«, sagt Randolph.
«Wer nutzt sie aus?«frage ich.
«Nun ja, niemand, aber…«
«Was er sagen will«, unterbricht ihn Randolph,»ist, daß von
jetzt ab alles anders wird. Wir sind hier, um Mutter zu helfen, und wir machen uns nur Gedanken über ihre Angelegenheiten. Das ist alles.«
Ich beobachte Miss Birdie, während Randolph redet, und ihr Gesicht glüht. Ihre Söhne sind da, machen sich Sorgen um sie, stellen Fragen, erheben Forderungen, beschützen ihre Mama. Obwohl ich sicher bin, daß sie ihre beiden Schwiegertöchter nicht ausstehen kann, ist Miss Birdie eine sehr zufriedene Frau.
«Schön«, sage ich.»Aber lassen Sie mich in Ruhe. Und halten Sie sich von meiner Wohnung fern. «Ich mache kehrt und gehe rasch davon, lasse viele unausgesprochene Worte hinter mir zurück und viele Fragen, die sie stellen wollten. Ich schließe meine Wohnung ab, esse ein Sandwich und höre sie durch ein Fenster da unten reden.
Ich verbringe ein paar Minuten damit, mir diese Familienversammlung zusammenzureimen. Irgendwann gestern sind Delbert und Vera aus Florida eingetroffen, in welcher Absicht, werde ich vermutlich nie erfahren. Irgendwie haben sie Miss Birdies letztes Testament gefunden, gesehen, daß sie so an die zwanzig Millionen Dollar zu vererben hat, und waren plötzlich sehr besorgt um ihr Wohlergehen. Sie erfuhren, daß ein Anwalt auf ihrem Grundstück wohnt, und darüber waren sie nicht weniger besorgt. Delbert ruft Randolph an, der auch in Florida lebt, und Randolph eilt heim, mit der Plastiktrophäe im Schlepptau. Sie haben den heutigen Tag damit verbracht, alles nur Erdenkliche aus ihrer Mutter herauszuholen, und sind jetzt an dem Punkt angelangt, daß sie ihre Beschützer sind.
Mich kümmert das nicht im mindesten. Ich kann mir nicht helfen, aber der Gedanke an diese Versammlung bringt mich zum Kichern. Wie lange wird es wohl dauern, bis sie die Wahrheit erfahren?
Fürs erste ist Miss Birdie glücklich. Und ich gönne ihr dieses Glück.
Kapitel 30
Ich komme pünktlich zu meiner Neun-Uhr-Verabredung mit Dr. Walter Kord, aber das nützt mir nicht das geringste. Ich warte eine Stunde und lese in Donny Rays medizinischen Unterlagen, die ich längst auswendig kenne. Der Warteraum ist überfüllt mit Krebspatienten. Ich versuche, sie nicht anzusehen.
Um zehn erscheint eine Schwester, um mich zu holen. Ich folge ihr in einen fensterlosen Raum tief in einem Labyrinth. Wie kommt jemand auf die Idee, sich unter all den medizinischen Spezialgebieten ausgerechnet für Onkologie zu entscheiden? Aber vermutlich muß es wohl irgend jemand tun.
Wie kommt jemand auf die Idee, sich für die Juristerei zu entscheiden?
Ich sitze mit meiner Akte auf einem Stuhl und warte weitere fünfzehn Minuten. Stimmen auf dem Flur, dann geht die Tür auf. Ein junger Mann von ungefähr Fünfunddreißig stürmt herein.»Mr. Baylor?«sagt er und ergreift meine Hand, noch bevor ich mich richtig von meinem Stuhl erheben kann.
«Ja.«
«Walter Kord. Ich bin in Eile. Können wir das in fünf Minuten erledigen?«
«Ich denke schon.«
«Machen wir es so kurz wie möglich. Ich habe eine Menge Patienten«, sagt er und bringt sogar ein Lächeln zustande. Mir ist vollauf bewußt, wie sehr Ärzte Anwälte hassen. Irgendwie kann ich es ihnen nicht übelnehmen.
«Danke für das Gutachten. Es hat funktioniert. Wir haben Donny Ray bereits vernommen.«
«Gut. «Er ist ungefähr zehn Zentimeter größer als ich und schaut auf mich herab, als wäre ich ein Idiot.
Ich knirsche mit den Zähnen und sage:»Wir brauchen Ihre Aussage.«
Seine Reaktion ist typisch für Ärzte. Sie hassen Gerichtssäle. Und um sie zu vermeiden, erklären sie sich manchmal zu einer aufgezeichneten Vernehmung bereit, die dann anstelle ihrer persönlichen Aussage vor Gericht verwendet werden kann. Aber sie brauchen das nicht zu tun. Und wenn sie es nicht tun, sind Anwälte gelegentlich zu einem unerfreulichen Schritt gezwungen — der Vorladung. Es liegt in der Macht eines Anwalts, so gut wie jedem eine Vorladung ausstellen zu lassen, Ärzte eingeschlossen.
«Ich bin sehr beschäftigt«, sagt er.
«Ich weiß. Es ist nicht für mich. Es ist für Donny Ray.«