«Außerhalb des Protokolls«, sagt Kipler. Die Protokollantin und die Bedienerin der Videokamera stellen ihre Geräte ab.»Mr. Drummond, es ist offensichtlich, daß Sie diesen Brief nie zuvor gesehen haben. Und ich vermute, daß dies nicht das erste oder letzte Dokument sein wird, das Ihre Mandanten verheimlichen möchten. Ich habe genügend Versicherungsgesellschaften verklagt, um zu wissen, daß Dokumente die Neigung haben, verlorenzugehen. «Kipler beugt sich vor und zeigt mit dem Finger auf Drummond.»Wenn ich Sie oder Ihre Mandanten dabei ertappe, daß Sie dem Kläger Dokumente vorenthalten, werde ich Ihnen beiden Sanktionen auferlegen. Ich werde Sie zu hohen Geldbußen verurteilen, in denen Kosten und Anwaltshonorare auf stündlicher Basis in der Höhe enthalten sind, die Sie Ihren Mandanten berechnen. Haben Sie mich verstanden?«
Derartige Sanktionen sind der einzige Weg, auf dem ich jemals zweihundertfünfzig Dollar pro Stunde verdienen werde.
Drummond und Genossen taumeln noch immer. Ich kann mir kaum vorstellen, wie dieser Brief auf die Geschworenen wirken wird, und ich bin sicher, daß sie dasselbe denken.
«Beschuldigen Sie mich, daß ich Ihnen Dokumente vorenthalte, Euer Ehren?«
«Noch nicht. «Kiplers Finger ist immer noch ausgestreckt.»Im Moment warne ich Sie nur.«
«Ich finde, Sie sollten diesen Fall abgeben, Euer Ehren.«
«Ist das ein Antrag?«
«Ja, Sir.«
«Abgelehnt. Sonst noch was?«
Drummond hantiert mit Papieren und schlägt ein paar Sekunden tot. Die arme Dot ist wie versteinert und denkt vermutlich, sie hätte etwas getan, das diese Funken hervorgerufen hat. Ich bin selbst ein wenig steif.
«Zurück zum Protokoll«, sagt Kipler, ohne Drummond auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen.
Ein paar Fragen werden gestellt und beantwortet. Ein paar weitere Dokumente laufen über das Fließband. Um halb eins unterbrechen wir für die Mittagspause, und eine Stunde später sind wir wieder versammelt. Dot ist erschöpft.
Kipler gibt Drummond ziemlich streng zu verstehen, daß er die Sache beschleunigen soll. Er versucht es, aber es ist schwierig. Er tut dies schon so lange und hat dabei so viel Geld verdient, daß er buchstäblich endlos Fragen stellen könnte.
Meine Mandantin entschließt sich zu einer Strategie, für die ich sie bewundere. Sie erklärt den Anwesenden, außerhalb des Protokolls, daß sie ein Blasenproblem hat, nichts Ernstes, Sie wissen schon, aber schließlich ist sie fast sechzig. Jedenfalls muß sie, je weiter der Tag fortschreitet, immer öfter auf die Toilette. Drummond hat, wie nicht anders zu erwarten, ein Dutzend Fragen zu ihrer Blase, aber Kipler macht dem ein rasches Ende. Also entschuldigt sich Dot ungefähr alle Viertelstunde und verläßt den Gerichtssaal. Sie läßt sich viel Zeit.
Ich bin sicher, daß mit ihrer Blase alles in Ordnung ist, und ich bin auch sicher, daß sie sich in einer Kabine versteckt und wie ein Schornstein qualmt. Diese Strategie erlaubt es ihr, das Tempo vorzugeben, und entkräftet schließlich auch Drummond.
Um halb vier, sechseinhalb Stunden nachdem wir angefangen haben, erklärt Kipler die Vernehmung für beendet.
Zum ersten Mal seit über zwei Wochen sind sämtliche Mietwagen verschwunden. Nur Miss Birdies Cadillac steht noch da. Ich parke dahinter, auf meinem alten Platz, und gehe ums Haus herum. Niemand da.
Sie sind endlich abgereist. Ich habe seit dem Tag, an dem Delbert eingetroffen ist, nicht mehr mit Miss Birdie gesprochen, und es gibt einiges zu bereden. Ich bin nicht wütend, ich will nur ein bißchen plaudern.
Ich bin bei der Treppe zu meiner Wohnung angelangt, als ich eine Stimme höre. Es ist nicht die von Miss Birdie.
«Rudy, haben Sie eine Minute Zeit?«Es ist Randolph, der sich von einem Schaukelstuhl auf der Terrasse erhebt.
Ich deponiere meinen Aktenkoffer und mein Jackett auf der Treppe und gehe hinüber.
«Setzen Sie sich«, sagt er.»Wir müssen miteinander reden. «Er scheint hervorragender Stimmung zu sein.
«Wo ist Miss Birdie?«frage ich. Im Haus brennt kein Licht.
«Sie ist, äh, für eine Weile verreist. Will einige Zeit mit uns in Florida verbringen. Sie ist heute morgen abgeflogen.«
«Wann kommt sie zurück?«frage ich. Das geht mich im Grunde nichts an, aber fragen muß ich trotzdem.
«Das weiß ich nicht. Vielleicht überhaupt nicht. Hören Sie, von jetzt an werden wir, ich und Delbert, uns um ihre Angelegenheiten kümmern. Wahrscheinlich haben wir sie in letzter Zeit ein bißchen vernachlässigt, aber sie möchte trotzdem, daß wir alles in die Hand nehmen. Und wir möchten, daß Sie hier wohnen bleiben. Wir möchten Ihnen sogar ein Angebot machen. Sie bleiben hier, passen auf das Haus auf, halten alles in Ordnung, und dafür brauchen Sie keine Miete zu zahlen.«
«Was meinen Sie mit alles in Ordnung halten?«
«Nur das Übliche, nichts Ausgefallenes. Mama hat gesagt, Sie wären ihr in diesem Sommer eine große Hilfe gewesen, und Sie brauchen nur zu tun, was Sie bisher auch schon getan haben. Für die Post haben wir einen Nachsendeantrag gestellt, darum brauchen Sie sich also nicht zu kümmern. Falls sich irgendwelche schwerwiegenden Probleme ergeben sollten, rufen Sie mich an. Es ist ein gutes Angebot, Rudy.«
Das ist es in der Tat.»Ich nehme an«, sage ich.
«Gut. Mama mag Sie wirklich, wissen Sie, sie sagt, Sie wären ein netter junger Mann, dem man vertrauen kann. Obwohl Sie Anwalt sind. Ha, ha, ha.«
«Was ist mit ihrem Wagen?«
«Den fahre ich morgen nach Florida. «Er überreicht mir einen großen Umschlag.»Hier sind die Schlüssel zum Haus, die Telefonnummern des Versicherungsagenten, der Firma, die für die Alarmanlage verantwortlich ist, und so weiter. Dazu meine Adresse und Telefonnummer.«
«Wo wird sie wohnen?«
«Bei uns, in der Nähe von Tampa. Wir haben ein hübsches kleines Haus mit einem Gästezimmer. Wir werden gut für sie sorgen. Zwei von meinen Kindern wohnen ganz in der Nähe, sie wird also eine Menge Gesellschaft haben.«
Ich kann sie vor mir sehen, wie sie sich geradezu überschlagen, um Granny zu Diensten zu sein. Eine Zeitlang werden sie damit glücklich sein, sie unter ihrer Liebe zu ersticken, und dabei gleichzeitig hoffen, daß sie nicht mehr allzu lange lebt. Sie können es gar nicht abwarten, daß sie stirbt, damit sie alle reich werden. Es fällt mir sehr schwer, ein Grinsen zu unterdrücken.
«Das ist schön«, sage ich.»Sie ist eine sehr einsame alte Frau gewesen.«
«Sie mag sie wirklich, Rudy. Sie waren gut zu ihr. «Seine Stimme ist leise und aufrichtig, und ich verspüre einen Anflug von Traurigkeit.
Wir geben uns die Hand und sagen uns Lebewohl.
Ich schaukele in der Hängematte, erschlage Moskitos, starre den Mond an. Ich bezweifle ernsthaft, daß ich Miss Birdie je wiedersehen werde, und fühle mich plötzlich einsam. Diese Leute werden sie unter ihrer Fuchtel haben, bis sie tot ist, und sehr genau aufpassen, daß sie keine Gelegenheit bekommt, ihr Testament zu ändern. Ein bißchen schuldbewußt bin ich schon, weil ich schließlich die Wahrheit über ihren Reichtum kenne, aber das ist ein Geheimnis, das ich niemandem anvertrauen kann.
Gleichzeitig kann ich mir ein Lächeln über diese Wendung des Schicksals nicht verkneifen. Miss Birdie ist heraus aus ihrem einsamen alten Haus und nun statt dessen von ihren Angehörigen umgeben. Sie steht plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit, eine Position, die sie immer ersehnt hat. Ich erinnere mich an sie im Cypress Gardens Senior Citizens Building, wie sie die Leute herumdirigiert, sie zum Singen animiert, Ansprachen gehalten, auf Bosco und die anderen Gruftis eingeredet hat. Sie hat ein Herz aus Gold, aber sie hungert nach Beachtung.
Ich hoffe, der Sonnenschein tut ihr gut und sie ist glücklich. Ich frage mich, wer wohl im Cypress Gardens ihren Platz einnehmen wird.
Kapitel 32
Ich vermute, Booker hat dieses elegante Restaurant ausgesucht, weil er gute Nachrichten hat. Echtes Silberbesteck. Leinenservietten. Er muß einen Mandanten haben, der das bezahlt.