Die Akte Black ist jetzt in den dritten Ordner übergequollen. Ich bewahre sie in einem Karton auf dem Fußboden neben meinem Schreibtisch auf. Jeden Tag betrachte ich sie viele Male und frage mich immer wieder, ob ich weiß, was ich tue. Wer bin ich, daß ich von einem ungeheuren Sieg im Gerichtssaal träumen könnte? Oder dem großen Leo F. Drummond eine beschämende Niederlage zu bereiten?
Ich habe noch nie ein Wort vor einer Jury gesprochen.
Vor einer Stunde war Donny Ray zu schwach, um am Telefon mit mir zu sprechen, also fahre ich zu ihrem Haus in Granger. Es ist Ende September, und ich weiß das genaue Datum nicht mehr, aber die Diagnose wurde vor mehr als einem Jahr gestellt. Als Dot an die Tür kommt, sind ihre Augen rot.»Ich glaube, es geht dem Ende zu«, sagt sie zwischen Schluchzern. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß er noch schlechter aussehen könnte, aber sein Gesicht ist bleicher und zerbrechlicher als bisher. Er schläft, die Sonne steht tief am westlichen Himmel, und die Schatten fallen in exakten Rechtecken auf die weißen Laken auf seinem schmalen Bett. Der Fernseher ist ausgeschaltet. Im Zimmer herrscht Stille.
«Er hat heute überhaupt nichts gegessen«, flüstert sie, während wir auf ihn herabschauen.
«Hat er starke Schmerzen?«
«Nicht allzu große. Ich habe ihm zwei Spritzen gegeben.«
«Ich bleibe eine Weile bei ihm«, flüstere ich und lasse mich auf einem Klappstuhl nieder. Sie verläßt das Zimmer. Ich höre sie auf dem Flur schluchzen.
Soweit ich es beurteilen kann, könnte er schon tot sein. Ich konzentriere mich auf seinen Brustkorb, warte darauf, daß er sich leicht hebt und senkt, aber ich kann nichts entdecken. Das Zimmer wird dunkler. Ich schalte eine kleine Lampe auf einem
Tisch neben der Tür an, und er bewegt sich ein wenig. Seine Augen öffnen sich und fallen dann wieder zu.
So also sterben die Unversicherten. In einer Gesellschaft voll reicher Ärzte und funkelnder Krankenhäuser und mit den allerneuesten medizinischen Gerätschaften und dieser Unmenge von Nobelpreisträgern in aller Welt ist es empörend, daß jemand wie Donny Ray dahinsiechen und ohne angemessene ärztliche Behandlung sterben muß.
Er hätte gerettet werden können. Von Gesetzes wegen stand er voll und ganz unter dem Schirm von Great Benefit, so löchrig er auch war, als diese schreckliche Krankheit ausbrach. Zu dem Zeitpunkt, als die Diagnose gestellt wurde, war er durch eine Police gedeckt, für die seine Eltern gutes Geld gezahlt hatten. Von Gesetzes wegen war Great Benefit vertraglich verpflichtet, für seine Behandlung aufzukommen.
Ich hoffe, eines Tages in naher Zukunft den Menschen kennenzulernen, der für seinen Tod verantwortlich ist. Dabei kann es sich um einen bescheidenen Schadensregulierer handeln, der lediglich Anweisungen befolgte. Es kann sich um einen Vizepräsidenten handeln, der die Anweisungen erteilt hat. Ich wollte, ich könnte jetzt ein Foto von Donny Ray machen und es dann, wenn wir uns endlich begegnen, dieser armseligen Person unter die Nase halten.
Er hustet, bewegt sich wieder, und ich glaube, er versucht mir zu sagen, daß er noch am Leben ist. Ich schalte das Licht aus und sitze in der Dunkelheit.
Ich bin allein und unerfahren, habe Angst und stehe einer Übermacht entgegen, aber ich bin im Recht. Wenn die Blacks diesen Prozeß nicht gewinnen, dann ist dieses System restlos unfair.
Irgendwo in der Ferne geht eine Straßenlaterne an, und ein einzelner Lichtstrahl fällt durchs Fenster und quer über Donny Rays Brustkorb. Jetzt bewegt er sich, ganz leicht auf und nieder. Ich glaube, er versucht aufzuwachen.
Es wird nicht mehr viele Momente geben, in denen ich in diesem Zimmer sitze. Ich starre auf seinen unter den Laken kaum sichtbaren ausgemergelten Körper und schwöre Rache.
Kapitel 33
Es ist ein zorniger Richter, der sich, von seiner schwarzen Robe umwallt, auf dem Podium niederläßt. Der heutige Tag ist reserviert für kurze, rasch aufeinanderfolgende Argumentationen zu zahllosen Anträgen in Dutzenden von Fällen. Im Gerichtssaal wimmelt es von Anwälten.
Wir kommen zuerst an die Reihe, weil Richter Kipler es hinter sich bringen will. Ich hatte eine Mitteilung eingereicht, daß ich ab dem kommenden Montag sechs Angestellte von Great Benefit in Cleveland vernehmen will. Drummond hat Widerspruch eingelegt und natürlich behauptet, er wäre wegen seines geheiligten Prozeßkalenders unabkömmlich. Aber nicht nur er steht nicht zur Verfügung, auch alle sechs zur Vernehmung vorgesehenen Herren sind anderweitig beschäftigt und haben keine Zeit. Alle sechs!
Kipler veranstaltete eine Telefonkonferenz mit Drummond und mir, die gar nicht angenehm verlief, zumindest nicht für die Verteidigung. Drummond hat tatsächlich Gerichtstermine wahrzunehmen und hat sogar den Terminbescheid zu dem betreffenden Fall rübergefaxt, um es zu beweisen. Was den Richter so aufgebracht hat, war Drummonds Versicherung, daß er es frühestens in zwei Monaten einrichten könnte, drei Tage in Cleveland zu verbringen. Außerdem wären die sechs Angestellten dort oben äußerst vielbeschäftigte Leute, und es könnte Monate dauern, bis sie alle an einem Ort zusammengebracht werden könnten.
Kipler hat diese Anhörung angesetzt, damit er Drummond ganz offiziell in die Mangel nehmen und seine Ausflüchte zu Protokoll nehmen kann. Da ich in den vergangenen vier Tagen täglich mit Kipler telefoniert habe, weiß ich genau, was passieren wird. Es wird sehr unerfreulich werden, und ich werde nicht viel sagen müssen.
«Fürs Protokoll«, fährt Kipler die Protokollantin an, und die Klone auf der anderen Seite des Ganges beugen sich über ihre
Notizblöcke. Vier sind es heute.»Im Fall Nummer 214668, Black gegen Great Benefit, hat der Kläger die Vernehmung des Firmenanwalts sowie fünf weiterer Angestellter der Beklagten beantragt, die am Montag, dem 5. Oktober, in der Zentrale der Gesellschaft in Cleveland stattfinden soll. Der Anwalt der Beklagten hat, was nicht weiter verwunderlich ist, Einspruch erhoben mit der Begründung, daß er unabkömmlich sei. Trifft das soweit zu, Mr. Drummond?«
Drummond erhebt sich langsam.»Ja, Sir. Ich habe dem Gericht bereits die Kopie eines Terminbescheids für eine Verhandlung vor dem Bundesgericht vorgelegt, die am Montag beginnt. Ich leite die Verteidigung in diesem Fall.«
Drummond und Kipler haben bereits mindestens zwei hitzige Diskussionen über dieses Thema geführt, aber es ist wichtig, daß die Sache auch im Protokoll erscheint.
«Und wann wären Sie denn wohl imstande, diese Angelegenheit in Ihrem Terminkalender unterzubringen?«fragt Kipler mit beißendem Sarkasmus. Ich sitze allein an meinem Tisch. Deck ist nicht da. Auf den Bänken hinter mir sitzen mindestens vierzig Anwälte, die alle zusehen, wie der große Leo F. Drummond Prügel bezieht. Sie müssen sich fragen, wer ich bin, dieser unbekannte Anfänger, der so gut ist, daß der Richter sich für ihn ins Zeug legt.
Drummond verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, dann sagt er:»Also, Euer Ehren, ich bin wirklich ausgebucht. Eventuell…«
«Mir ist, als hätten Sie zwei Monate gesagt. Habe ich das richtig verstanden?«Kipler fragt dies, als hielte er es für unmöglich, daß ein einziger Anwalt dermaßen beschäftigt sein kann.
«Ja, Sir. Zwei Monate.«
«Und das sind alles Verhandlungen?«
«Verhandlungen, Vernehmungen, Anträge, Revisionsverfahren. Ich zeige Ihnen gern meinen Kalender.«
«Im Augenblick kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, Mr. Drummond«, sagt Kipler.»Also, wir tun folgendes, Mr. Drummond, und bitte hören Sie genau zu, weil ich dies in Form einer Anweisung schriftlich festzulegen gedenke. Ich weise Sie darauf hin, Sir, daß es sich hier um ein beschleunigtes Verfahren handelt, und in meinem Gericht bedeutet das, daß ich keine Verzögerungen zulasse. Die betreffenden sechs Vernehmungen beginnen Montag früh in Cleveland. «Drummond sinkt auf seinen Stuhl und beginnt zu schreiben.»Und wenn Sie das nicht einrichten können, dann tut es mir leid. Aber nach der letzten Zählung verfügen Sie über vier weitere Anwälte, die an diesem Fall mitarbeiten — Morehouse, Plunk, Hill und Grone, die alle, wie ich hinzufügen könnte, über wesentlich mehr Erfahrung verfügen als Mr. Baylor, der, soweit ich weiß, seine Lizenz erst im Sommer bekommen hat. Mir ist natürlich klar, daß Sie nicht einfach einen Anwalt nach Cleveland schicken können, es müssen mindestens zwei sein, aber ich bin sicher, Sie können es so einrichten, daß genügend Anwälte anwesend sein werden, um Ihren Mandanten angemessen zu vertreten.«