«Oh, ich weiß. Sie tun nur Ihren Job.«
«So ist es. Wann kommen Sie hier raus?«
«In achtzehn Tagen. Warum?«
«Es könnte sein, daß wir Sie vernehmen möchten.«
«Hier drinnen?«
«Vielleicht.«
«Weshalb die Eile? Lassen Sie mich erst einmal draußen sein, dann bekommen Sie Ihre Vernehmung.«
«Ich werde darüber nachdenken.«
Dieser flüchtige Besuch ist für ihn ein kurzer Urlaub, und er hat es nicht eilig, mich gehen zu sehen. Wir unterhalten uns ein paar Minuten über das Leben im Gefängnis, dann fange ich an, Ausschau nach der Tür zu halten.
Ich bin noch nie im oberen Stockwerk von Miss Birdies Haus gewesen, und es ist genauso verstaubt und muffig wie das Erdgeschoß. Ich öffne eine Zimmertür nach der anderen, schalte das Licht ein, sehe mich schnell um, dann mache ich das Licht wieder aus und schließe die Tür. Der Fußboden auf dem Flur knarrt unter meinen Füßen. Da ist eine schmale Treppe zum zweiten Stock, aber es widerstrebt mir, dort hinaufzugehen.
Das Haus ist viel größer, als ich geglaubt hatte. Und viel einsamer. Man kann sich schwer vorstellen, daß sie hier ganz allein gelebt hat. Ich verspüre ein heftiges Schuldgefühl, daß ich nicht mehr Zeit mit ihr verbracht, nicht öfter mit ihr zusammen ihre Comedy-Serien und Fernsehgottesdienste angesehen, nicht mehr von ihren Truthahnsandwiches gegessen und nicht mehr von ihrem Instantkaffee getrunken habe.
Das Erdgeschoß scheint ebenso frei von Einbrechern zu sein wie das Obergeschoß, und ich schließe die Terrassentür hinter mir ab. Es ist ein seltsames Gefühl, jetzt, da sie nicht mehr da ist. Ich erinnere mich nicht, daß mir ihre Gegenwart irgendwelchen Trost bedeutet hätte, aber es war immer hübsch zu wissen, daß sie da war, in diesem großen Haus, nur für den Fall, daß ich etwas brauchte. Jetzt fühle ich mich einsam.
In der Küche betrachte ich das Telefon. Es ist ein altes Modell mit Wählscheibe, und ich bin nahe daran, Kellys Nummer zu wählen. Wenn sie sich meldet, werde ich mir etwas einfallen lassen. Wenn er sich meldet, lege ich auf. Der Anruf kann zu diesem Haus hier zurückverfolgt werden, aber ich wohne nicht hier.
Ich habe heute mehr an sie gedacht als gestern. Diese Woche mehr als in der vorigen.
Ich muß sie sehen.
Kapitel 34
Deck fährt mich in seinem Kombi zum Busbahnhof. Es ist früher Sonntagmorgen. Das Wetter ist klar und schön, die Luft riecht schon ein ganz klein wenig nach Herbst. Glücklicherweise haben wir die erstickende Schwüle für ein paar Monate hinter uns. Im Oktober ist Memphis ein sehr angenehmer Ort.
Ein Flugticket nach Cleveland und zurück kostet knapp siebenhundert Dollar. Wir haben geschätzt, daß ein Zimmer in einem preiswerten und trotzdem sicheren Motel vierzig Dollar pro Nacht kosten wird; die Verpflegungskosten werden minimal sein, weil ich mit sehr wenig auskommen kann. Die billigste Protokollantin in Cleveland, mit der ich am Telefon gesprochen habe, verlangt hundert Dollar pro Tag fürs Erscheinen und zwei Dollar pro Seite fürs Festhalten und Übertragen der Aussage. Es kommt nicht selten vor, daß derartige Vernehmungen hundert Seiten oder mehr umfassen. Wir würden sie auch gern auf Video festhalten, aber das ist unmöglich.
Und das gleiche gilt offenbar auch fürs Fliegen. Die Kanzlei Rudy Baylor kann sich einen Flug nach Cleveland einfach nicht leisten. Und eine lange Strecke mit dem Toyota zu fahren ist zu riskant. Wenn er streiken sollte, säße ich irgendwo fest, und die Vernehmungen müßten verschoben werden. Deck hat mir mehr oder weniger seinen Kombi angeboten, aber auch dem traue ich keine Fahrt über tausend Meilen zu.
Der Greyhound ist verläßlich, aber auch fürchterlich langsam. Irgendwann kommen die Busse ans Ziel. Sie sind nicht gerade meine erste Wahl, aber was soll's? Ich habe es nicht sonderlich eilig. Ich kann ein bißchen von der Landschaft sehen. Wir sparen Geld. Ich habe mir eine Menge Gründe einfallen lassen.
Deck fährt und sagt wenig. Ich glaube, er ist etwas verlegen, weil wir uns nichts Besseres leisten können. Und er weiß, daß er eigentlich auch mitkommen sollte. Ich bin im Begriff, feindselige Zeugen zu vernehmen, und es wird Unmengen von fri-sehen Dokumenten geben, die sofort begutachtet werden müssen. Es wäre schon gut, einen zweiten Mann dabeizuhaben.
Wir verabschieden uns auf dem Parkplatz neben dem Busbahnhof. Er verspricht, sich um die Kanzlei zu kümmern und ein paar Fälle an Land zu ziehen. Ich bezweifle nicht, daß er es versuchen wird. Er fährt davon, in Richtung St. Peter's.
Ich bin noch nie zuvor mit einem Greyhound gefahren. Der Bahnhof ist klein, aber sauber, und es wimmelt von Sonntagsreisenden, von denen die meisten alt und schwarz sind. Ich finde den richtigen Schalter und hole meine vorbestellte Fahrkarte ab. Sie kostet meine Kanzlei einhundertneununddreißig Dollar.
Der Bus fährt pünktlich um acht Uhr ab, zuerst westwärts nach Arkansas und dann nordwärts nach St. Louis. Erfreulicherweise bleibe ich davon verschont, daß sich jemand neben mich setzt.
Der Bus ist fast voll, nur drei oder vier Plätze sind frei. Dem Fahrplan zufolge sollen wir in sechs Stunden in St. Louis sein, um sieben Uhr abends in Indianapolis und um elf in Cleveland. Das sind fünfzehn Stunden in diesem Bus. Die Vernehmungen beginnen morgen früh um neun.
Ich bin sicher, daß meine Opponenten bei Trent & Brent noch schlafen, nach dem Aufstehen ausgiebig frühstücken und dann in Gesellschaft ihrer Frauen auf der Terrasse die Sonntagszeitung lesen werden. Einige von ihnen gehen vielleicht zur Kirche, dann ein guter Lunch und eine Runde Golf. So gegen fünf werden ihre Frauen sie zum Flughafen fahren und ihnen einen Abschiedskuß geben, und dann werden sie gemeinsam in der ersten Klasse abfliegen. Eine Stunde später werden sie in Cleveland landen, wo sie zweifellos von einem Chauffeur von Great Benefit abgeholt werden, der sie ins beste Hotel der Stadt bringt. Nach einem köstlichen Dinner mit Drinks und Wein werden sie sich in einem eleganten Konferenzzimmer versammeln und bis spät in die Nacht hinein Pläne gegen mich schmieden. Ungefähr um die Zeit, zu der ich in einem Motel eintreffe, werden sie sich schlafen legen, ausgeruht, wohlpräpariert, kampfbereit.
Die Zentrale von Great Benefit liegt in einem reichen Vorort von Cleveland, der durch die Flucht der Weißen aus anderen Stadtteilen entstanden ist. Ich erkläre meinem Taxifahrer, daß ich ein preiswertes Motel in der Nachbarschaft suche, und er weiß genau, wohin er fahren muß. Er hält vor dem Plaza Inn. Nebenan gibt es ein McDonald's, auf der anderen Straßenseite ein Blockbuster Video. Es ist eine reine Geschäftsstraße — kleine Läden, Fast food, grelle Reklametafeln, Einkaufszentren, billige Motels. Garantiert irgendwo eine Ladenpassage. Die Straße macht einen sicheren Eindruck.
Es sind massenhaft Zimmer frei, und ich bezahle zweiunddreißig Dollar, in bar, für eine Nacht. Ich bitte um eine Quittung, weil Deck eine haben will.
Zwei Minuten nach Mitternacht lege ich mich hin und starre an die Decke, und mir wird plötzlich klar, daß, von dem Portier des Motels abgesehen, keine Menschenseele auf der Welt weiß, wo ich mich befinde. Und es gibt niemanden, den ich anrufen könnte, um zu sagen, daß ich angekommen bin.
Natürlich kann ich nicht schlafen.
Seit ich angefangen habe, Great Benefit zu hassen, hatte ich ein Bild ihrer Zentrale vor Augen. Ich stellte mir ein hohes, modernes Gebäude vor mit Unmengen von funkelndem Glas, einem Springbrunnen neben dem Haupteingang, Fahnenstangen, Name und Emblem der Firma in Bronze. Reichtum und Anzeichen des Florierens allerorten.
Nicht ganz. Das Gebäude ist leicht genug zu finden, weil die Adresse in großen schwarzen Buchstaben neben einer Betoneinfahrt steht: 5550 Baker Gap Road. Aber der Name Great Benefit ist nirgends zu sehen. Von der Straße her ist das Gebäude durch nichts zu identifizieren. Keine Springbrunnen, keine Fahnenstangen, nur ein riesiges Konglomerat aus kantigen, blockartigen Gebäuden, zusammengekeilt und offenbar eins ans andere angebaut. Es ist alles sehr modern und unglaublich häßlich. Das Äußere ist weißer Beton mit schwarz getönten Fenstern.