Glücklicherweise ist der Haupteingang gekennzeichnet, und ich betrete ein kleines Foyer mit ein paar künstlichen
Topfpflanzen an der einen Wand und einer hübschen Empfangsdame an der anderen. Sie trägt einen schicken Kopfhörer mit einem dünnen Draht, der in einer Filzspitze nur Zentimeter von ihren Lippen entfernt endet. An der Wand hinter ihr stehen die Namen von drei nicht näher bezeichneten Firmen: PinnConn Group, Green Lake Marine und Great Benefit Life Insurance. Was gehört wem? Jede hat ein selbstbewußtes, in Bronze graviertes Emblem.
«Mein Name ist Rudy Baylor, und ich bin mit Mr. Paul Moyer verabredet«, sage ich höflich.
«Einen Moment bitte. «Sie drückt auf einen Knopf, wartet und sagt dann:»Mr. Moyer, ein Mr. Baylor für Sie. «Sie hört nie auf zu lächeln.
Sein Büro muß ganz in der Nähe sein, denn ich brauche nicht einmal eine Minute zu warten, bis er mit Händeschütteln und» Wie geht es Ihnen?«über mich herfällt. Ich folge ihm um eine Ecke herum, einen Korridor entlang zu einem Fahrstuhl. Er ist fast so jung wie ich und redet unaufhörlich über nichts. Wir steigen im vierten Stock aus, und ich weiß schon jetzt nicht mehr, an welcher Stelle dieses architektonischen Horrors ich mich befinde. Im vierten Stock gibt es Teppichboden, das Licht ist gedämpfter, an den Wänden hängen Bilder. Auf unserem Weg einen Korridor entlang redet Moyer ununterbrochen weiter, dann öffnet er eine schwere Tür und zeigt mir meinen Platz.
Willkommen bei einer der laut Fortune fünfhundert reichsten Firmen des Landes. Es ist ein Sitzungssaal, lang und breit, mit einem glänzenden Tisch in der Mitte und mindestens fünfzig Stühlen darum herum. Lederbezogene Stühle. Ein funkelnder Kronleuchter hängt kaum mehr als anderthalb Meter über der Mitte des Tisches. In der Ecke links von mir steht eine Bar, rechts ein Büffet mit Kafee, Keksen und Bagels. Davor hat sich eine Horde von Verschwörern versammelt, mindestens acht, alle in dunklem Anzug, weißem Hemd, gestreifter Krawatte, schwarzen Schuhen. Acht gegen einen. Das nervöse Zittern in meinen inneren Organen verwandelt sich in ein heftiges Beben. Wo ist Tyrone Kipler, wenn ich ihn brauche? Im Augenblick wäre sogar Decks Gegenwart tröstlich.
Vier von ihnen sind meine alten Freunde von Trent & Brent. Von den anderen ist mir ein Gesicht von den Anhörungen in Memphis her vertraut, die anderen drei sind Fremde, und alle verstummen auf der Stelle, sobald sie begriffen haben, daß ich eingetroffen bin. Eine Sekunde lang hören sie auf zu trinken, zu kauen und zu reden und starren mich an. Ich habe eine überaus ernsthafte Unterhaltung gestört.
T. Pierce Morehouse erholt sich als erster.»Rudy, kommen Sie herein«, sagt er, aber nur, weil er muß. Ich nicke B. Dewey Clay Hill dem Dritten zu, M. Alec Plunk Junior und Brandon Fuller Grone, dann reiche ich den vier neuen Bekanntschaften die Hand, während Morehouse ihre Namen herunterrattert, Namen, die ich sofort wieder vergesse. Das vertraute Gesicht von den Scharmützeln in Richter Kiplers Gerichtssaal ist Jack Underhall, einer der Hausanwälte von Great Benefit und der designierte Wortführer der Gesellschaft.
Meine Opponenten wirken klaräugig und frisch, reichlich Schlaf vergangene Nacht nach einem kurzen Flug und einem entspannenden Dinner. Sie sind alle gestärkt und frisch gebügelt, gerade so, als kämen ihre Sachen direkt aus dem Kleiderschrank und nicht aus einer Reisetasche. Meine Augen sind müde und gerötet, mein Hemd verknittert. Aber ich habe wichtigere Dinge im Kopf.
Die Protokollantin trifft ein, und T. Pierce dirigiert uns zum Ende des Tisches. Er zeigt hierhin und dorthin, reserviert den Sitz am Kopf für die Zeugen, überlegt genau, wo er jeden einzelnen plazieren soll. Ich begebe mich gehorsam zu meinem Stuhl und versuche, ihn näher an den Tisch heranzuschieben. Das ist Schwerarbeit, weil das verdammte Ding mindestens eine Tonne wiegt. Mir gegenüber, bestimmt mehr als drei Meter entfernt, öffnen die vier Burschen von Trent & Brent ihre Aktenkoffer mit soviel Lärm, wie sie nur hervorbringen können — Verschlüsse klicken, Reißverschlüsse schnurren auf, Akten werden herausgezerrt, Papier knistert. Binnen Sekunden ist der Tisch mit Papierstapeln übersät.
Die vier Typen von Great Beneft stehen hinter der Protokollantin, wissen nicht recht, wie es weitergehen soll, und warten auf T. Pierce. Sobald er seine Papiere und Notizblöcke zurechtgelegt hat, sagt er:»Also, Rudy, wir haben gedacht, wir fangen mit der Vernehmung von Jack Underhall an, dem designierten Sprecher für die Gesellschaft.«
Das habe ich vorhergesehen und mich bereits dagegen entschieden.»Nein, ich denke nicht«, sage ich ein wenig nervös. Ich bemühe mich verzweifelt, einen gelassenen Eindruck zu erwecken, obwohl ich mich auf fremdem Boden befinde und von Feinden umgeben bin. Es gibt mehrere Gründe dafür, weshalb ich nicht mit dem Anwalt anfangen will, und nicht der unwichtigste davon ist, daß es das ist, was sie wollen. Das sind meine Vernehmungen, sage ich mir immer wieder.
«Wie bitte?«sagt T. Pierce.
«Sie haben gehört, was ich gesagt habe. Ich möchte mit Jak-kie Lemancyzk anfangen, der zuständigen Sachbearbeiterin in der Schadensabteilung. Aber vorher möchte ich die Akte.«
Das Herzstück jedes Versicherungsfalles ist die Schadensakte, die Kollektion von Briefen und Dokumenten, die der Schadenssachbearbeiter in der Zentrale anlegt. In einem guten Fall ist die Schadensakte ein verblüffender historischer Bericht über eine Schluderei nach der anderen. Ich habe Anspruch auf sie und hätte sie schon vor zehn Tagen bekommen müssen. Drummond behauptet, er wäre unschuldig, sein Mandant schleppe die Sache hin. Kipler hat unmißverständlich angeordnet, daß die Akte heute morgen für mich auf dem Tisch zu liegen hat.
«Wir denken, es wäre besser, mit Mr. Underhall anzufangen«, sagt T. Pierce schwach.
«Mir ist egal, was Sie denken«, sage ich, und es hört sich bemerkenswert irritiert und entrüstet an. Ich kann damit durchkommen, weil der Richter auf meiner Seite steht.»Wollen wir den Richter anrufen?«frage ich spöttisch und ziemlich großspurig.
Obwohl Kipler nicht hier ist, hat seine Persönlichkeit Gewicht. Seine Anweisung besagt klipp und klar, daß die sechs Zeugen, die ich verlangt habe, um neun Uhr heute morgen zur Verfügung zu stehen haben und daß es einzig und allein meine Entscheidung ist, in welcher Reihenfolge sie vernommen werden. Sie müssen verfügbar bleiben, bis ich sie entlassen habe. Die Anweisung des Richters läßt außerdem die Tür offen für zusätzliche Vernehmungen, sobald ich mit den Befragungen angefangen und tiefere Regionen erreicht habe. Ich konnte es kaum abwarten, ihnen mit einem Anruf bei Seinen Ehren zu drohen.
«Äh, ja, also, mit Jackie Lemancyzk haben wir ein Problem«, sagt T. Pierce mit einem nervösen Blick auf die vier Typen, die sich rückwärts näher an die Tür herangeschoben haben. Alle vier betrachten ihre Füße, zappeln und zucken. T. Pierce sitzt mir am Tisch genau gegenüber, und er kämpft um Haltung.
«Was für ein Problem?«frage ich.
«Sie arbeitet nicht mehr hier.«
Ich kann gerade noch verhindern, daß mein Mund aufklappt. Einen Augenblick lang bin ich so verblüfft, daß mir nichts einfällt. Ich starre ihn an und versuche, meine Gedanken zu ordnen.»Wann ist sie gegangen?«frage ich.
«Ende voriger Woche.«
«Wann genau? Am Donnerstag waren wir vor Gericht. Haben Sie es da schon gewußt?«
«Nein. Sie hat am Samstag aufgehört.«
«Ist sie fristlos entlassen worden?«
«Sie hat gekündigt.«
«Wo ist sie jetzt?«
«Sie arbeitet nicht mehr hier, okay? Sie steht als Zeugin nicht zur Verfügung.«