Ich rufe Richter Kipler zu Hause an und informiere ihn. Die Beisetzung soll morgen nachmittag um zwei Uhr stattfinden, was ein Problem mit sich bringt. Die Vernehmungen der Leute von Great Benefit sollen um neun Uhr morgens beginnen und den größten Teil der Woche dauern. Ich bin sicher, daß die Typen aus Cleveland bereits in der Stadt sind. Vermutlich sitzen sie gerade in Drummonds Büro und proben vor Videokameras. Das würde seiner Art von Gründlichkeit entsprechen.
Kipler meint, ich sollte trotzdem um neun erscheinen, dann würde er die Dinge schon in die Hand nehmen. Ich sage ihm, daß ich bereit bin. Ich sollte es jedenfalls sein. Ich habe alle nur erdenklichen Fragen für jeden einzelnen Zeugen schriftlich formuliert, und Seine Ehren selbst hat Vorschläge gemacht. Deck hat sie gleichfalls durchgesehen.
Kipler deutet an, daß er die Vernehmungen möglicherweise vertagen wird, weil er morgen zwei wichtige Anhörungen hat.
Im Augenblick ist mir so ziemlich alles recht.
Als ich bei den Blacks eintreffe, hat sich die gesamte Nachbarschaft zum Trauern versammelt. An der Straße und auf der Einfahrt parken Wagen Stoßstange an Stoßstange. Alte Männer stehen im Vorgarten herum und sitzen auf der Veranda. Ich lächle und nicke und bahne mir meinen Weg durch die Leute hindurch ins Haus, wo ich Dot in der Küche vor dem Kühlschrank finde. Das Haus ist brechend voll. Der Küchentisch und sämtliche freien Flächen sind bedeckt mit Pasteten, Auflaufen und Tupperdosen mit gebratenen Hähnchen.
Dot und ich umarmen uns sanft. Ich spreche ihr mein Beileid aus, indem ich einfach sage, daß es mir leid tut, und sie dankt mir für mein Kommen. Ihre Augen sind rot, aber ich habe das Gefühl, daß sie das Weinen satt hat. Sie deutet auf all die Eßwaren und sagt mir, ich solle mich bedienen. Ich überlasse sie einigen Damen aus der Nachbarschaft.
Ich bin plötzlich hungrig. Ich fülle einen großen Pappteller mit Hähnchen, gebackenen Bohnen und Krautsalat und nehme ihn mit auf die kleine Terrasse hinter dem Haus, wo ich allein sein kann. Buddy sitzt nicht in seinem Wagen. Sie hat ihn vermutlich im Schlafzimmer eingeschlossen, wo er sie nicht in Verlegenheit bringen kann. Ich esse langsam und lausche den gedämpften Stimmen, die durch die offenen Fenster von Küche und Wohnzimmer herausdringen. Als mein Teller leer ist, fülle ich ihn noch einmal und ziehe mich wieder auf die Terrasse zurück.
Wenig später gesellt sich ein junger Mann zu mir, der mir seltsam bekannt vorkommt.»Ich bin Ron Black«, sagt er und läßt sich auf dem Stuhl neben meinem nieder.»Der Zwillingsbruder.«
Er ist schlank und fit, nicht sehr groß.»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sage ich.
«Sie sind also der Anwalt?«Er hält eine Dose Cola in der Hand.
«Der bin ich. Rudy Baylor. Das mit Ihrem Bruder tut mir sehr leid.«
«Danke.«
Mir ist bewußt, wie selten Dot und Donny Ray über Ron gesprochen haben. Er hat das Haus kurz nach der High-School verlassen, ist weit fortgezogen und hat sich von ihnen ferngehalten. Bis zu einem gewissen Grad kann ich das verstehen.
Ihm ist nicht nach Reden zumute. Seine Sätze sind kurz und gezwungen, aber schließlich kommt er auf die Knochenmarkstransplantation zu sprechen. Er bestätigt, was ich sowieso für die Wahrheit halte, daß er bereit und willens war, sein Mark zu spenden, um seinen Bruder zu retten, und daß Dr. Kord ihm gesagt hat, daß er der ideale Spender wäre. Ich sage ihm, daß er das in wenigen Monaten einer Jury erklären muß, und er sagt, das würde er mit Freuden tun. Er hat ein paar Fragen über die Klage, läßt aber keine Spur von Neugierde erkennen, wieviel Geld sie ihm einbringen könnte.
Ich bin sicher, daß er traurig ist, aber er wird mit seinem Kummer gut fertig. Ich öffne die Tür zu ihrer Kindheit und hoffe, ein paar nette Geschichten über die Streiche und Scherze zu hören, die die Zwillinge miteinander ausgeheckt haben müssen. Nichts. Er ist hier aufgewachsen, hier in diesem
Haus, und es ist offensichtlich, daß er für seine Vergangenheit keine Verwendung hat.
Die Beisetzung findet morgen um zwei Uhr statt, und ich wette, um fünf sitzt Ron Black bereits in einem Flugzeug, das ihn nach Houston zurückbringt.
Die Besucherschar nimmt ab und wächst wieder an, aber das Essen bleibt. Ich esse zwei Stücke Schokoladenkuchen, während Ron warme Cola trinkt. Nach zwei Stunden Herumsitzen bin ich erschöpft. Ich verabschiede mich und fahre davon.
Am Montag sitzt eine ganze Horde von ernstgesichtigen und dunkel gekleideten Männern auf der anderen Seite des Gerichtssaals um Leo F. Drummond herum.
Ich bin bereit. Ängstlich und zitternd und nervös, aber die Fragen sind niedergeschrieben und warten. Selbst wenn ich vollständig festhänge, kann ich immer noch die Fragen ablesen und sie zwingen, sie zu beantworten.
Es ist ein erfreulicher Anblick, wie diese großen Firmenbosse verängstigt dahocken. Ich kann mir so ungefähr vorstellen, welche harten Worte sie für Drummond und mich und Kipler und Anwälte im allgemeinen und diesen Fall im besonderen hatten, als ihnen mitgeteilt wurde, daß sie heute hier en masse zu erscheinen haben, und daß sie nicht nur erscheinen und aussagen, sondern außerdem stunden- und tagelang herumsitzen müssen, bis ich mit ihnen fertig bin.
Kipler läßt sich an seinem Tisch nieder und ruft unseren Fall als ersten auf. Wir werden die Vernehmungen nebenan vornehmen, in einem Gerichtssaal, der diese Woche leer steht, ganz in der Nähe, damit Seine Ehren jederzeit den Kopf hereinstecken und Drummond bei der Stange halten kann. Er ruft uns nach vorn, weil er etwas zu sagen hat.
Ich lasse mich rechts von ihm nieder, vier Typen von Trent & Brent links von ihm.
«Das gehört nicht ins Protokoll«, weist Kipler die Protokollantin an. Dies ist keine offizielle Anhörung.»Mr. Drummond, ist Ihnen bekannt, daß Donny Ray Black gestern morgen gestorben ist?«
«Nein, Sir«, erwidert Drummond ernst.»Es tut mir sehr leid.«
«Die Beisetzung findet heute nachmittag statt, und das wirft ein Problem auf. Mr Baylor hier ist einer der Sargträger. Im Grunde sollte er sich jetzt bei der Familie aufhalten.«
Drummond ist aufgestanden und sieht erst mich an und dann Kipler.
«Wir werden diese Vernehmungen vertagen. Sorgen Sie dafür, daß Ihre Leute nächsten Montag wieder hier sind, dieselbe Zeit, derselbe Ort. «Kipler funkelt Drummond an und wartet auf die falsche Antwort.
Die fünf wichtigen Persönlichkeiten von Great Beneft werden gezwungen, mit ihren vollen Terminkalendern zu jonglieren, sie neu zu arrangieren und nächste Woche abermals nach Memphis zu kommen.
«Weshalb können wir nicht morgen anfangen?«fragt Drummond fassungslos. Es ist eine völlig berechtigte Frage.
«Ich stehe diesem Gericht vor, Mr. Drummond. Ich leite die Beweisaufnahme, und ich habe auch vor, den Prozeß zu leiten.«
«Aber, Euer Ehren, wenn's recht ist, und ich will nicht mit Ihnen streiten, aber Ihre Anwesenheit ist bei den Vernehmungen doch nicht erforderlich. Diese fünf Herren konnten es nur unter großen Schwierigkeiten einrichten, heute hier zu erscheinen. Nächste Woche ist das vielleicht nicht möglich.«
Das ist genau das, was Kipler hören wollte.»Oh, sie werden hier sein, Mr. Drummond. Sie werden am nächsten Montag Punkt neun Uhr hier sein.«
«Also, das halte ich für unfair, bei allem Respekt.«
«Unfair? Diese Vernehmungen hätten vor zwei Wochen in Cleveland stattfinden können. Aber dann haben Ihre Mandanten ja unbedingt Spielchen spielen müssen.«
Angelegenheiten wie diese stehen im uneingeschränkten Ermessen eines Richters, und es gibt keine Möglichkeit, dagegen Einspruch zu erheben. Kipler straft Drummond und Great Benefit, und meiner bescheidenen Ansicht nach geht er ein wenig zu weit. Aber in ein paar Monaten wird hier ein Prozeß stattfinden, und der Richter steckt seine Position ab. Er läßt
diesen berühmten Anwalt wissen, daß er, Seine Ehren, beim Prozeß das Sagen haben wird.