Kapitel 37
Die Dokumente bedecken vier gemietete, im vorderen Büro unserer Kanzlei Seite an Seite aufgestellte Klapptische. Sie sind in ordentlichen Haufen gestapelt, in chronologischer Reihenfolge, alle markiert, numeriert und sogar im Computer gespeichert.
Und memoriert. Ich habe diese Papiere so oft gelesen, daß ich jetzt auswendig weiß, was auf jedem einzelnen Blatt steht. Die Dokumente, die Dot mir gegeben hat, bestehen aus 221 Seiten. Die Police zum Beispiel wird vor Gericht als nur ein Dokument gelten, aber sie umfaßt 30 Seiten. Die Dokumente, die Great Benefit bisher geliefert hat, bestehen aus 748 Seiten, einige davon sind Duplikate des Materials von den Blacks.
Auch Deck hat sich unzählige Stunden mit dem Papierkram beschäftigt. Er hat eine detaillierte Analyse der Schadensakte geschrieben und den größten Teil der Arbeit am Computer erledigt. Er wird mir bei den Vernehmungen assistieren. Es ist sein Job, die Dokumente in Ordnung zu halten und dafür zu sorgen, daß wir schnell diejenigen finden, die wir brauchen.
Er ist nicht gerade begeistert von dieser Art von Arbeit, aber begierig darauf, mir zu helfen. Er ist überzeugt, daß wir Great Benefit mit rauchendem Revolver erwischt haben, aber er ist auch überzeugt, daß der Fall die Mühe nicht lohnt, die ich investiere. Deck hat, wie ich fürchte, nicht das geringste Vertrauen in meine prozessualen Fähigkeiten. Er weiß, daß für die zwölf Personen, die wir als Geschworene auswählen, fünfzigtausend Dollar schon ein Vermögen sind.
Ich trinke am späten Sonntagabend im Büro ein Bier und gehe wieder und wieder das Material auf den Tischen durch. Irgend etwas fehlt hier. Deck ist sicher, daß Jackie Lemancyzk, die Schadenssachbearbeiterin, nicht befugt gewesen wäre, den Anspruch rundheraus abzuweisen. Sie tat ihren Job, dann reichte sie die Akte an die Haftungsabteilung weiter. Es gibt ein gewisses Zusammenspiel zwischen Schadens- und Haf-tungsabteilung, interne Aktennotizen hin und her, und das ist die Stelle, an der die Papierspur abbricht.
Es hat ein System gegeben, Donny Rays Anspruch abzuweisen und vermutlich den von Tausenden von anderen. Das müssen wir herausfinden.
Nach gründlicher Überlegung und eingehenden Diskussionen mit dem Personal meiner Kanzlei habe ich beschlossen, M. Wilfred Keeley, Generaldirektor, als ersten zu vernehmen. Ich stelle es mir so vor, daß ich mit dem größten Ego beginne und mich dann abwärtsarbeite. Keeley ist sechsundfünfzig Jahre alt, ein echter Gesund-und-munter-Typ mit einem warmen Lächeln, selbst für mich. Er dankt mir sogar dafür, daß ich ihm gestatte, als erster auszusagen. Er muß unbedingt so schnell wie möglich in sein Büro zurückkehren.
In der ersten Stunde stochere ich in den Randbezirken herum. Ich sitze an meiner Seite des Tisches in Jeans, einem Flanellhemd, weißen Socken und Turnschuhen. Obwohl es ein hübscher Kontrast zu den strengen Schwarztönen ist, die auf der anderen Seite des Tisches vorherrschen, hält Deck es für respektlos.
Nach zwei Stunden händigt Keeley mir eine Bilanz aus, und wir reden eine Weile über Geld. Deck überfliegt die Zahlen und schiebt mir eine Frage nach der anderen zu. Drummond und drei seiner Jungs tauschen ein paar Notizen aus, wirken im übrigen aber total gelangweilt. Kipler ist nebenan und entscheidet über Anträge.
Keeley weiß von mehreren anderen Klagen gegen Great Benefit, die jetzt anhängig sind. Wir reden eine Weile über diese Klagen; Namen, Gerichte, andere Anwälte, ähnliche Fakten. Bei keiner von ihnen war er gezwungen, sich einer Vernehmung zu stellen. Ich kann es kaum erwarten, mit den anderen Anwälten zu reden, die Great Benefit verklagt haben. Wir könnten Dokumente und Prozeßstrategien vergleichen.
Das Faszinierende am Leiten einer Versicherungsgesellschaft ist eindeutig nicht das profane Geschäft des Verkaufens von Policen und das Regulieren von Schäden. Es ist das Kassieren und Investieren von Prämien. Keeley weiß mehr über die Probleme des Investierens, damit, sagt er, hätte er angefangen und sich dann nach oben gearbeitet. Von Schadensregulierung versteht er nur wenig.
Da ich für diese Vernehmungen nicht zu zahlen brauche, habe ich es nicht eilig. Ich stelle tausend nutzlose Fragen, stochere einfach herum und gebe Schüsse ins Dunkle ab. Drummond wirkt gelangweilt und gelegentlich sogar frustriert, aber er ist ein Experte für stundenlange Vernehmungen, und sein Taxameter tickt gleichfalls. Gelegentlich würde er gern Einspruch erheben, aber er weiß, ich würde einfach nach nebenan laufen und Richter Kipler informieren, der dann zu meinen Gunsten entscheiden und ihn verwarnen würde.
Der Nachmittag bringt weitere tausend Fragen, und als wir uns um halb sechs vertagen, bin ich körperlich erschöpft. Kee-leys Lächeln ist schon kurz nach dem Lunch verschwunden, aber er war entschlossen, zu antworten, so lange ich fragen würde. Er dankt mir abermals, daß ich ihm gestattet habe, als erster auszusagen, und dankt mir außerdem dafür, daß er nicht für weitere Fragen zur Verfügung stehen muß. Er will sofort nach Cleveland zurückkehren.
Am Dienstag wird das Tempo ein wenig schneller, teils weil ich die Zeitverschwendung satt habe, teils aber auch, weil die Zeugen entweder wenig wissen oder sich nicht an viel erinnern können. Ich fange mit Everett Lufkin an, dem Vizepräsidenten der Schadensabteilung, einem Mann, der keine einzige Silbe von sich gibt, außer wenn er auf eine direkte Frage antworten muß. Ich fordere ihn auf, sich einige Dokumente anzusehen, und am späten Vormittag gibt er schließlich zu, daß es zur Politik der Gesellschaft gehört, etwas zu tun, was als» nachträglicher Haftungsausschluß«bezeichnet wird, eine anrüchige, aber nicht illegale Praxis. Wenn ein Versicherter einen Anspruch erhebt, fordert der Sachbearbeiter sämtliche medizinischen Unterlagen aus den voraufgegangenen fünf Jahren an. In unserem Fall erhielt Great Benefit die Unterlagen des Familienarztes, der Donny Ray fünf Jahre zuvor wegen einer schweren Grippe behandelt hatte. Dot hatte die Grippe im Antrag nicht aufgeführt. Die Grippe hatte nichts mit der
Leukämie zu tun, aber Great Benefit begründete eine ihrer frühen Abweisungen mit der Tatsache, daß die Grippe eine bereits vor Vertragsabschluß bestehende Krankheit war.
An diesem Punkt bin ich versucht, ihm einen Nagel ins Herz zu schlagen, und es wäre einfach. Aber es wäre unklug. Lufkin wird beim Prozeß aussagen, und es empfiehlt sich, das brutale Kreuzverhör bis dahin aufzusparen. Manche Anwälte neigen dazu, ihre Fälle schon bei den Vernehmungen zu verhandeln, aber meine gewaltige Erfahrung sagt mir, daß es besser ist, das schwere Geschütz für die Geschworenen zu reservieren. In Wirklichkeit habe ich das irgendwo gelesen. Außerdem ist es die Strategie, der sich Jonathan Lake bedient.
Kermit Aldy, Vizepräsident der Haftungsabteilung, ist ebenso verdrießlich und zurückhaltend wie Lufkin. Aufgabe der Haftungsabteilung ist es, den Antrag vom Agenten entgegenzunehmen und zu prüfen und schließlich darüber zu entscheiden, ob eine Police ausgestellt wird oder nicht. Es ist eine Menge Papierarbeit, die wenig einbringt, und Aldy scheint genau der richtige Mann dafür zu sein, eine solche Abteilung zu leiten. Ich erledige ihn in weniger als zwei Stunden und ohne ihm irgendwelche Wunden beizubringen.
Bradford Barnes ist der Vizepräsident der Verwaltungsabteilung, und es kostet mich fast eine Stunde, herauszufinden, was er tut. Es ist Mittwoch vormittag. Ich habe diese Leute satt. Mir wird übel beim Anblick der immer gleichen Typen von Trent & Brent, die zwei Meter von mir entfernt an ihrem Tisch sitzen und immer die gleichen verdammten dunklen Anzüge tragen und die gleichen finster herablassenden Mienen, die sie schon seit Monaten ständig aufgesetzt haben. Mir ist sogar die Protokollantin zuwider. Barnes weiß nichts über irgend etwas. Ich stoße zu, er weicht aus, ich kann keinen einzigen Treffer landen. Er wird beim Prozeß nicht aussagen, weil er von nichts eine Ahnung hat.
Am Mittwoch nachmittag rufe ich den letzten Zeugen auf, Richard Pellrod, den leitenden Schadenssachbearbeiter, der zumindest zwei der Ablehnungsbriefe an die Blacks geschrieben hat. Er hat seit Montag morgen auf dem Flur gesessen, also haßt er mich von ganzem Herzen. Zu Beginn der Vernehmung blafft er mich ein paarmal an, und das gibt mir neue Kraft. Ich zeige ihm die Ablehnungsbriefe, und die Sache wird heikel. Er ist der Ansicht, und diese Ansicht wird nach wie vor von Great Benefit vertreten, daß Knochenmarkstransplantationen einfach noch zu experimentell sind, um als ernsthafte Behandlungsmethode gelten zu können. Aber er hatte den Anspruch einmal mit der Begründung abgelehnt, daß Donny Ray es unterlassen hätte, eine bereits vor Vertragsabschluß bestehende Krankheit anzugeben. Dafür macht er jemand anderen verantwortlich, ein pures Versehen. Er ist ein verlogener Mistkerl, und ich beschließe, ihn leiden zu lassen. Ich ziehe einen Stapel Dokumente heran, und wir gehen eines nach dem anderen durch. Ich zwinge ihn, sie zu erläutern und die Verantwortung für jedes einzelne von ihnen zu übernehmen. Schließlich war er der Vorgesetzte von Jackie Leman-cyzk, die natürlich nicht mehr bei uns ist. Er sagt, er glaubt, daß sie in ihren Heimatort irgendwo im Süden von Indiana zurückgekehrt ist. Ich stelle zwischendurch immer wieder gezielte Fragen nach ihrem Ausscheiden, die Pellrod gewaltig irritieren. Noch mehr Dokumente. Noch mehr Schuldzuweisungen an andere. Ich bin unerbittlich. Ich kann ihn fragen, was ich will, und er weiß nie, was als nächstes kommt. Nach vier Stunden ununterbrochenen Bombardements bittet er um eine Pause.