Es gab keine Pferde und erst recht keine Wagen. Auch Felder konnte sie weder in Strandnähe noch auf den steinigen Hängen landeinwärts entdecken. Doch vielleicht lagen Salims paradiesische Gärten ja auf der anderen Seite des Hügels, abgewandt vom rauen Seewind. Möglicherweise setzte sich dort auch dieses trostlose Dorf fort. Aber Robin war zu müde, um das heute herauszufinden. Vorhin, als sie auf Sailas Rückkehr gewartet hatte, war ihr kurz durch den Kopf geschossen, sich bei ihren Wohltätern zu bedanken und noch heute zu gehen, um sich auf die Suche nach anderen Überlebenden zu machen. Aber jetzt, nach weniger als hundert Schritten, war ihr klar, wie lächerlich dieser Gedanke war. Sie nahm sich vor, sich nur noch einen kurzen Überblick zu verschaffen und dann zum Zelt zurückzukehren.
Es war nicht nur die körperliche Schwäche, die ihr zu schaffen machte. Die Menschen hier waren nicht alle so freundlich wie Saila und ihre Mutter. Die meisten Männer, denen sie begegneten, blickten sie finster, ja fast feindselig an. Die Frauen aber senkten ausnahmslos den Blick oder sahen rasch weg, wenn sie ihren Weg kreuzten. Vielleicht hatten diese Menschen hier Angst vor Fremden. Und womöglich hatten sie ja auch einen Grund dafür.
»Ich glaube, ich... möchte jetzt doch lieber zurück«, sagte sie zögernd. Saila schien die Worte zumindest dem Sinn nach zu verstehen, denn sie nickte erleichtert und machte auf der Stelle kehrt. Robin hatte es plötzlich sehr eilig, ihr zu folgen.
5. KAPITEL
Am nächsten Morgen erwachte sie nicht nur erstaunlich ausgeruht und frisch, sondern zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit, ohne dass ihr irgendetwas wehtat, sie sich schlecht fühlte oder einfach Angst vor dem neuen Tag hatte. Es war noch nicht ganz hell. Das Licht der Sonne hatte kaum die Kraft, den dicken Stoff der Zeltbahn zu durchdringen. Durch einen Riss im Zelttuch stach ein schmaler Lichtstrahl wie eine spitze Messerklinge durch das Halbdunkel. Es war das Kribbeln dieses kleinen Sonnenflecks auf ihrem Gesicht gewesen, das sie geweckt hatte.
Sie war nicht allein. Als sie sich vorsichtig aufsetzte, hörte sie regelmäßige, flache Atemzüge neben sich und erkannte gleich darauf einen schmalen Körper, der sich im Schlaf zu einem Ball zusammengerollt hatte.
Obwohl man in dem Zwielicht kaum mehr als vage Schemen erkennen konnte, wusste Robin, dass es Nemeth war. Man hatte ihr das Kind als Aufpasserin ins Zelt geschickt, während die Erwachsenen im Haus übernachteten. Ein sanftes Lächeln stahl sich auf Robins Lippen, als sie das schlafende Mädchen betrachtete. Zugleich fühlte sie sich von einer seltsamen Melancholie ergriffen, die sie sich selbst nicht ganz erklären konnte.
Seit sie ihr heimatliches Dorf verlassen hatte, um mit Salim und den anderen Rittern der Komturei nach Süden zu ziehen, hatte sie niemanden mehr getroffen oder gar gesprochen, der nicht mindestens doppelt so alt gewesen wäre wie sie; von Salim selbst vielleicht einmal abgesehen. Der Anblick des schlafenden Mädchens machte ihr klar, wie viel seither geschehen war, und wie gewaltig die Kluft war, die zwischen ihnen klaffte. Sie selbst war ja nicht sehr viel älter als dieses Beduinenkind - fünf, allerhöchstens sechs Jahre -, aber es waren unglaublich wichtige Jahre. Die kostbare letzte Spanne im Leben, die ein Kind vom Erwachsensein trennte. Robin konnte das Gefühl nicht erklären: Während sie so dasaß und das friedlich schlafende Mädchen betrachtete, spürte sie, dass ihr etwas gestohlen worden war nicht von jemand Bestimmtem, nicht mit Absicht, aber etwas war ihr genommen worden, etwas unglaublich Wertvolles und Unwiederbringliches.
Sie streckte die Hand aus, um Nemeth durch das Haar zu streicheln, doch dann hielt sie in der Bewegung inne. Ärgerlich über sich selbst verscheuchte sie die melancholischen Gedanken. Sie sollte froh sein, noch am Leben und bei freundlichen Menschen zu sein, statt mit dem Schicksal zu hadern und Dingen nachzutrauern, die unwiderruflich verloren waren. Sie hatte wahrlich genug andere Probleme.
Robin überlegte einen Moment lang, Nemeth zu wecken, entschied sich aber dann dagegen. Auch das war etwas, was ihr erst jetzt wirklich klar wurde: So lange ein Leben auch dauern mochte, es gab viel zu wenige Nächte, in denen man in Frieden Schlaf fand, und jede Einzelne davon war unendlich kostbar. Sie hatte nicht das Recht, diesem Kind auch nur eine Stunde unschuldigen Schlafes zu rauben. Statt Nehmet allein aus dem eigensüchtigen Bedürfnis nach Gesellschaft zu wecken, erhob sich Robin und war mit ein paar Schritten am Ausgang. Schon fast an der herabgeschlagenen Zeltplane machte sie noch einmal kehrt, um das Tuch aufzuheben, das sie vor dem Schlafengehen abgelegt hatte. Nicht annähernd so geschickt und kunstvoll wie Saila am Tag zuvor, legte sie es an und befestigte den Schleier vor dem Gesicht, bevor sie das Zelt endgültig verließ.
Draußen war der Tag noch nicht wirklich angebrochen, aber in dem kleinen Dorf herrschte bereits reges Treiben. Mehrere Fackeln brannten und aus verschiedenen Richtungen hallten die Geräusche von Glocken und Hufen sowie Worte in einer unverständlichen Sprache an ihr Ohr. Sie blieb einen Moment stehen und versuchte, wenigstens etwas davon zu verstehen, doch es gelang ihr nicht. Wohl hatte Salim ihr einige Brocken Arabisch beigebracht, aber offensichtlich gab es in diesem Landstrich mehr als eine Sprache.
Salim... Der Gedanke an ihn erfüllte sie mit Traurigkeit. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass er noch am Leben war, und sei es nur, weil der bloße Gedanke, es könnte anders sein, einfach unvorstellbar gewesen wäre. Aber wo mochte er jetzt sein? Und wie war es ihm ergangen? Befand er sich in Freiheit oder war er nach der Seeschlacht in Gefangenschaft geraten? War er verletzt oder unversehrt? Vielleicht gar auf einer verzweifelten Flucht oder aber bereits auf der Suche nach ihr? Gestern hatte ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen Salim gegolten und der Frage, wie es jetzt mit ihr weitergehen sollte. Es bedrückte sie, dass es für sie keine Möglichkeit gab, sich für die Hilfe der Fischer erkenntlich zu zeigen. Ganz im Gegenteil, sie würde sogar noch mehr Unterstützung brauchen. Kleidung, Nahrungsmittel, ein Pferd und vielleicht jemanden, der sie in die nächste Stadt brachte oder zumindest zu einem Menschen, der ihre Sprache sprach und ihr weiterhelfen konnte.
Mit einem Male wurde Robin klar, wie aussichtslos ihre Lage war. Ihr Blick glitt über das Meer, das schier unendlich und unbeschreiblich trostlos vor ihr lag, so als wäre es nur zu dem Zweck erschaffen worden, ihr und allen anderen Menschen vor Augen zu führen, wie winzig und unwichtig sie waren.
Bedrückt wandte sie sich von der bleiernen Meeresfläche ab. Flüchtig glitt ihr Blick zu den flachen Dünen und wanderte dann über den kargen Hügel, an dessen Flanke das Fischerdorf lag. Dann wanderte er weiter zu den Bergen, hinter denen blutrot die Sonne aufging. Der Anblick dieser gewaltigen Felsbarriere verwirrte sie noch immer. Salim hatte ihr von einem Ozean aus Sand und Steinen erzählt, auf dem keine Schiffe fuhren und durch den keine Straßen führten. Wüsten, so weit und so tödlich wie das Meer. Er hatte so viele interessante Dinge von Outremer, dem christlichen Königreich im Heiligen Land, zu berichten gewusst. Seine Worte hatten Bilder in ihr entstehen lassen, die ihr bis in ihre Träume folgten. Akko, Jerusalem, Genezareth, der Tempelberg, all das war ihr verheißen gewesen und nun in unerreichbare Ferne gerückt. Ihre Welt war nicht nur größer, womöglich war sie vielleicht zu groß geworden.
Robin hörte ein Geräusch hinter sich, und als sie sich umdrehte, erkannte sie Nemeth, die ebenfalls aus dem Zelt geschlüpft war und sich verschlafen die Augen rieb, während sie ungeniert gähnte. Im schwachen Licht der Dämmerung wirkte sie älter, als sie vermutlich war, und ernster, als ein Kind es sein sollte. Nachdem sie aufgehört hatte, sich die Augen zu reiben, blinzelte sie zu Robin hoch und sagte etwas Unverständliches in ihrer Muttersprache, und ohne sie zu verstehen antwortete Robin ihr: »Ich wollte dich nicht wecken. Es tut mir Leid.«