Nemeth entgegnete etwas, schneller und in einer Tonlage, als hätte sie ihre Worte tatsächlich verstanden. Statt zu antworten, beschrieb Robin mit der linken Hand kreisförmige Bewegungen über ihrem Magen und deutete mit den Fingern der anderen auf ihren Mund. »Ich bin hungrig. Glaubst du, dass ich noch ein Stück von diesem köstlichen Fladenbrot bekommen könnte, und vielleicht einen Schluck Wasser?«
Diesmal bedurfte es keiner Übersetzung. Nemeth lachte erfreut, wenn auch noch ein bisschen müde, ging mit schnellen Schritten an ihr vorbei und bedeutete Robin dabei, ihr zu folgen. Das Mädchen ging schnurstracks auf das Haus hinter dem Zelt zu. Drinnen brannte kein Licht, und die Morgendämmerung war noch so schwach, dass Robin nur grobe Umrisse ausmachte.
Das Gebäude war überraschend groß. Es schien zum Teil in den Hang hineingebaut zu sein. Nehmet verschwand hinter der Tür in der Dunkelheit. Robin folgte ihr vorsichtig und in der Erwartung, Saila und ihre Mutter anzutreffen, vielleicht auch den bärtigen Mann. Aber als sich ihre Augen an das schwache Licht hier drinnen gewöhnt hatten, stellte sie fest, dass sie mit Nemeth allein war. Das Mädchen hantierte an einer gemauerten Feuerstelle mit einigen tönernen Vorratstöpfen. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm. In einer Ecke erkannte Robin undeutlich mehrere Teppiche und lange, kunstvoll bestickte Kissen, die an der Wand lehnten. Auf einem runden Tablett standen die Reste eines Frühstücks. Fladenbrot, eine flache Schüssel mit Oliven und etwas Obst. Ein sonderbarer Geruch hing in der Luft, fremdartig, aber nicht unangenehm.
Nemeth sagte etwas, wartete einen Moment vergebens auf eine Reaktion und begleitete ihre Worte mit einem ungeduldigen Armwedeln, als sie sie wiederholte. Robin sah sie einen kurzen Moment lang verständnislos an, dann zuckte sie mit den Schultern und setzte sich im Schneidersitz auf einen der Teppiche. Nemeth hantierte eine Zeit lang im Halbdunkel herum, kam dann zurück und drückte ihr ein Fladenbrot in die Hand. Nichts von dem köstlichen Fisch, den sie am Vortag bekommen hatte, aber Robin gab sich damit zufrieden.
Das Mädchen verschwand nach draußen, blieb einen Augenblick fort und kehrte dann mit einer flachen Holzschale zurück, die sie vorsichtig mit beiden Händen vor sich her balancierte. Obwohl die Schale randvoll war, gelang es ihr, sie vor Robin abzusetzen, ohne auch nur einen einzigen Tropfen von ihrem Inhalt zu verschütten. Robin kaute tapfer an ihrem Fladenbrot. Es war ein Stück des gleichen Brotes, von dem sie am Tag zuvor bekommen hatte, aber jetzt schmeckte es trocken und zäh. Schließlich legte Robin es in ihren Schoß und griff mit beiden Händen nach der Schale. Sie enthielt eine helle Flüssigkeit, die wie Milch aussah und zweifellos auch Milch war, doch sie schmeckte anders als jede Milch, die sie je zuvor zu sich genommen hatte. Vielleicht nicht einmal schlecht, aber doch so unerwartet fremd, dass Robin den Schluck um ein Haar wieder ausgespien hätte. Vielleicht war es das stolze Leuchten in Nemeths Augen, als sie ihr beim Trinken zusah, das sie davon abhielt. Was immer das Mädchen ihr gebracht hatte, schien zumindest für sie etwas ganz Besonderes zu sein.
Robin schluckte tapfer, zögerte einen Moment und setzte die Schale erneut an. Diesmal kam ihr der Geschmack schon nicht mehr ganz so fremdartig vor. Vielleicht würde sie sich ja daran gewöhnen? Dennoch trank sie nur gerade genug, um das Brot herunterzuspülen und ihren ärgsten Durst zu löschen. Nachdem sie fertig gegessen hatte, sah sie Nemeth erwartungsvoll an, aber das Mädchen erwiderte ihren Blick nur lächelnd und machte keine Anstalten, ihr mehr zu bringen. Vielleicht hätte Robin sich mit Gesten verständlich machen können, doch das wäre ihr unhöflich erschienen. Ihr schlimmster Hunger war ja auch gestillt, und bestimmt würde sie später mehr bekommen, wenn sie Saila oder deren Mutter traf.
Sie wollte aufstehen und die Hütte verlassen, aber Nemeth forderte sie mit temperamentvollen Gesten zum Weitertrinken auf. Robin war nicht begeistert von der Vorstellung, aber sie spürte auch, dass sie Nemeth verletzen würde, würde sie ihr großmütiges Geschenk ausschlagen. Also setzte sie die Schale an und leerte sie in einem Zug bis auf den letzten Tropfen. Nemeth wirkte sehr zufrieden.
»Das hat wirklich gut getan«, log Robin. »Aber was war es eigentlich?«
Das Mädchen zog die Augenbrauen zusammen und sah sie fragend an, also wiederholte Robin ihre Worte und begleitete sie diesmal mit entsprechenden Gesten, um sich auf diese Weise verständlich zu machen. Nemeth runzelte nur weiter fragend die Stirn, aber plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf; offensichtlich hatte sie verstanden, was Robin meinte. Sie sprang hoch, war wie ein Wirbelwind aus der Tür und wartete erst einige Schritte vom Haus entfernt auf Robin. Als diese ihr folgte und neben ihr angekommen war, deutete sie den Hang hinauf und winkte ihr mit der anderen Hand mitzukommen.
Es gab einen Weg, doch der war voller Steine, sodass das Gehen mit nackten Füßen eine Tortur war. Schon die wenigen Schritte zum Hügelkamm machten Robin klar, wie naiv ihre gestrige Idee gewesen war, das Dorf sofort zu verlassen und sich auf die Suche nach Salim und den anderen zu machen. Sie würde noch eine Weile brauchen, um sich halbwegs zu erholen, und dann benötigte sie Ausrüstung, vernünftiges Schuhwerk und ein Reittier. Sie seufzte. Vielleicht würde sie auch warten müssen, bis Reisende durch diese Gegend zogen, denen sie sich anschließen konnte.
Oben auf dem Hügel angekommen, beschleunigte Nemeth ihre Schritte, um die jenseitige Böschung in einem geradezu atemberaubenden Tempo hinabzusausen. Robin folgte ihr nicht, sondern blieb stehen und warf einen langen Blick in die Landschaft. Es gab nicht besonders viel zu sehen. Vor ihr lag karges Hügelland. Ein gutes Stück entfernt zog sich eine schmale Linie von Grün durch das Graubraun aus ausgedorrter Erde und Felsen. Vermutlich ein kleiner Bach, der irgendwo südlich des Dorfes ins Meer mündete. Zu den Bergen am Horizont hin stieg das Land langsam an. Am Fuß des Hügels lief ein ausgetretener Pfad, der sich in Schlangenlinien in der Ferne verlor.
Vielleicht würde sie doch nicht so lange warten müssen, bis hier Reisende vorbeikamen, dachte Robin und schlang sich fröstelnd die Arme um den Leib. Die schneidende Kälte überraschte sie. Nach allem, was sie von Salim über dieses Land gehört hatte, sollte es nur aus Sand und Hitze bestehen. Aber der Wind, der ihr ins Gesicht schlug, war eisig, und er biss ohne den geringsten Widerstand durch ihr Kleid.
Frierend rieb sie sich die Oberarme und dachte ernsthaft darüber nach, wieder zum Zelt zurückzugehen und dort abzuwarten, bis die Sonne höher stieg und die Kälte vertreiben würde. Sie wollte schon wieder aufbrechen, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Als sie sich umdrehte, fuhr sie entsetzt und mit einem halblauten, spitzen Schrei ein paar Schritte zurück. Vor ihr stand die bizarrste Kreatur, die sie jemals gesehen hatte! Im Halbdunkeln und aus einem Dutzend Schritten Entfernung hätte man sie vielleicht für ein Pferd halten können, aber das Tier war viel größer als jedes Ross, das sie je zu Gesicht bekommen hatte, und unvorstellbar hässlich. Es hatte lange, dürre Beine mit übergroßen, plumpen Fußballen und dicken, wie geschwollen aussehenden Kniegelenken. Sein Fell war struppig und ungepflegt. Der kurze Schwanz peitschte nervös hin und her. Auf seinem Rücken befand sich so etwas wie ein Buckel und am Ende des langen, biegsamen Halses saß ein abgrundtief hässlicher Schädel mit einem breiten, schlabbernden Maul und riesigen Augen, die Robin - wie es ihr schien - voller tückischer Bosheit musterten. Es hatte riesige stumpfe Zähne, die ununterbrochen mahlten, und es stank wortwörtlich zum Himmel.