Allein das mit goldschimmernden Vorhängen gesäumte Nachtlager war so groß wie die Hütte, in der Robin aufgewachsen war. Daneben lagen farbenfrohe Teppiche. Es gab auch ein hüfthohes Wasserbecken, das aus makellos weißem Stein geschnitten war und aussah wie eine große Muschel, die von Weinreben getragen wurde. Auf einem kleinen, achteckigen Tisch neben dem Bett lag ein versilberter Handspiegel und daneben standen bunte Tiegel mit seltsamen Pasten und ein kostbar geschnitzter Holzkasten, in dem feine Pinsel und Holzstäbchen aufgereiht lagen.
Doch mehr als all dieser Luxus beeindruckten Robin die großen Fensternischen, die an drei Seiten des Zimmers lagen. Es waren die ersten unvergitterten Fenster, die sie in diesem Haus sah. Bemüht unauffällig schlenderte sie zum nächstgelegenen Fenster. Von dort blickte man auf einen kleinen, gepflasterten Innenhof mit einem Brunnen. Er musste mindestens sieben Meter tief sein. Dieses Fenster brauchte keine Gitter! Wer dort hinuntersprang, würde sich die Beine brechen.
Enttäuscht drehte sich Robin um und begegnete dem spöttischen Lächeln der Alten. Ihre Kerkerwärterin schien ihre Gedanken erraten zu haben.
Robin ignorierte die Häme und deutete mit weit ausholender Geste auf die Einrichtung. »Das muss ein Irrtum sein«, sagte sie. »Das ist das Gemach einer Königin, nicht einer Sklavin.«
Versehentlich hatte sie nicht Arabisch, sondern in ihrer Muttersprache geredet, und natürlich verstand die alten Frau sie nicht. Sie wedelte unwillig mit beiden Händen und sagte etwas, das Robin ihrerseits nun nicht verstand. Sie überlegte kurz, dann wiederholte sie ihre Worte - so gut sie es eben konnte - auf Arabisch.
Die Antwort bestand diesmal aus einem Kopfschütteln und einer unwirschen Geste. Gleichzeitig deutete die Alte auf das Bett und einen dahinter stehenden Wandschirm.
»Ich verstehe nicht«, sagte Robin, die allmählich in Verzweiflung geriet.
Der Ausdruck von Ungeduld auf dem Gesicht der alten Frau verstärkte sich. Sie schloss die Tür hinter sich, trat dann mit zwei energischen Schritten auf Robin zu und zerrte an ihrem Gewand. Mit der anderen Hand deutete sie auf den Wandschirm.
»Ich soll mich ausziehen?«, vermutete Robin.
Die Alte nickte. Zumindest das hatte sie verstanden.
Robin sah sich suchend im Zimmer um. Die Pracht und der verschwenderische Überfluss lähmten ihre Gedanken, ihren Augen konnte sie jedoch sehr wohl trauen. »Aber hier sind keine anderen Kleider«, stellte sie fest.
Anscheinend hatte sie die Geduld ihrer Wärterin überschätzt. Die alte Frau antwortete nicht mehr, sondern riss ihr mit einer einzigen groben Bewegung Schleier und Tuch vom Kopf, warf beides zu Boden und funkelte sie herausfordernd an.
Robin hielt ihrem Blick stand. Mochte ihre Vernunft ihr auch einflüstern, dass sie sich äußerst unklug verhielt, so verlangten ihr Stolz und ihre Selbstachtung doch, dass sie nicht jede Demütigung einfach hinnahm. Sie brauchte diese alte Frau nicht zu fürchten. Dieses Mütterchen war ihr in keiner Beziehung gewachsen. Sie sollte es sein, die sich besser vorsah! Robin hatte zu oft um ihre Freiheit kämpfen müssen, um sie jetzt einfach wortlos aufzugeben und über Nacht eine fügsame Sklavin zu werden.
Und tatsächlich schien irgendetwas in ihrem Blick zu sein, eine Stärke und Entschlossenheit, die die Alte verunsicherte, ja vielleicht sogar erschreckte, denn nach nur einem Augenblick war sie es, die den stummen Zweikampf aufgab. Mit einem Ruck drehte sie sich herum und stürmte aus dem Zimmer. Robin hörte das Scharren des Riegels, der außen vorgelegt wurde, und dann schnelle Schritte, die sich entfernten.
Eine Zeit lang blieb sie noch stehen und blickte die geschlossene Tür an, halbwegs darauf gefasst, die alte Frau in Begleitung des Arabers zurückkommen zu sehen, um ihren Willen nun mit Gewalt durchzusetzen. Als alles still blieb, wandte sich Robin um und trat an das größte der Fenster ihres goldenen Käfigs.
Der Ausblick ließ sie alles vergessen, was sie noch vor einem Augenblick gedacht und gefühlt hatte. Sie befand sich in der zweiten Etage des Gebäudes, und das Fenster führte auf eine Stadt hinaus, die so gewaltig und so fremdartig war, dass Robin zunächst meinte, sie befände sich inmitten eines Märchens.
Mehr als ein halbes Dutzend schlanke, hohe Türme erhob sich über das Labyrinth aus Gassen. Sie waren mit bunten Kacheln verkleidet, die strahlend im Sonnenlicht glänzten. Einer der Türme schien ein Dach aus gleißendem Gold zu haben. Direkt daneben wölbte sich eine hohe, ebenfalls golden glänzende Kuppel, die zu einem Gebäude mit einem großen Innenhof gehörte.
Mitten durch die Stadt zog sich ein breiter, blaugrüner Fluss, den zwei weite Brücken überspannten. Bis zum Wasser waren es von Robins Gefängnis aus keine fünfzig Schritt. Entlang des Ufers drehten sich riesige hölzerne Wasserräder. Verwundert beobachtete Robin, wie die Räder Wasser zu hohen Brücken hinauf hoben, auf denen sich schmale Bäche stadtauswärts ergossen. Eine dieser Brücken erhob sich keine vier Schritt entfernt auf der anderen Seite der Gasse, an die ihr Gefängnis angrenzte. Den Boden der Gasse konnte sie von ihrem Fenster aus nicht sehen, denn zwischen den Hauswänden und den Pfeilern dieser seltsamen Wasserbrücke waren bunte Sonnensegel aufgespannt. Deutlich drang von dort das vielstimmige Gemurmel eines Marktplatzes hinauf und die Luft war schwer vom Duft fremdartiger Gewürze.
Etwas seitlich vom Markt, an einer weniger belebten Straße, lag ein prächtiges Haus, dessen Fassade aus Reihen von rotem und weißem Stein gefügt war. In seinem Hinterhof erhoben sich prächtige Bäume, auf deren ausladenden Ästen etliche weiße Tauben saßen.
Robins Blick glitt weiter zu der wuchtigen Zitadelle, die sich an die Stadtmauer anschloss. Dort konnte sie die türkisfarbenen Kuppeln eines Palastes erkennen. Jenseits der Stadtmauer erstreckten sich Palmgärten und Weizenfelder bis zum Horizont.
Robin hätte hinterher nicht sagen können, wie lange sie so dagestanden hatte, vollkommen versunken in das friedliche Bild der geschäftigen Stadt. Es musste wohl eine geraume Weile gewesen sein und sie hätte gewiss noch viel länger beim Betrachten des bunten Treibens verweilt, hätte das Geräusch des Riegels, unmittelbar gefolgt vom Scharren der unsanft aufgezerrten Tür, sie nicht aus ihren Gedanken gerissen. Erschrocken und seltsamerweise ein wenig schuldbewusst wandte sie sich um und sah sich wieder der Alten gegenüber. Robin hätte in ihrer Begleitung einen der Krieger erwartet und war deshalb umso verblüffter, als sie nun Omar Khalid, den Sklavenhändler höchstselbst, erblickte. Mit energischen Schritten trat er in den Raum, wedelte unwillig mit der Hand und starrte Robin ausdruckslos an, bis die Alte seinem stummen Befehl Folge geleistet und das Zimmer wieder verlassen hatte.
»Warum machst du dir selbst Schwierigkeiten?«, fragte er barsch.
»Ich mache keine...«, begann Robin, wurde aber sofort mit einer herrischen Geste unterbrochen.
»Naida sagte mir, dass du dich weigerst, ihr zu gehorchen.«
»Ich wollte nur nicht...«
Wieder unterbrach er sie, in ungeduldigerem Ton, in dem auch eine Drohung mitschwang. »Niemand will dir etwas antun, wenn es das ist, was du fürchtest, du dummes Kind.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Dazu bist du viel zu kostbar. Du wirst diese Fetzen ausziehen und zulassen, dass man dich wäscht und einen Menschen aus dir macht, hast du das verstanden?«
Robin hatte vielleicht nicht alle Worte verstanden, sehr wohl aber den Sinn dessen, was er ihr sagen wollte. Sie nickte wortlos und diese Geste der Demut schien dem Sklavenhändler zu gefallen. Jedenfalls verflog sein Zorn. »Wirst du vernünftig sein?«