Wieder nickte Robin, doch diese »Antwort« schien ihm nicht zu genügen. Ärgerlich zog er die Augenbrauen zusammen. Plötzlich drehte er sich mit einem Ruck herum und bedeutete ihr mitzukommen. »Ich bin nicht ganz sicher, was in deinem Kopf vor sich geht und ob du wirklich begriffen hast, in was für einer Lage du dich befindest«, begann er. »Deshalb möchte ich dir etwas zeigen. Folge mir.«
Sie verließen das Zimmer und stiegen die Treppen hinab bis ins Untergeschoss. Die alte Frau, die draußen vor der Tür gewartet hatte, folgte ihnen nicht. Beunruhigt hatte Robin ihr triumphierendes Lächeln registriert.
Omar schien sich der Folgsamkeit seiner Sklavin völlig sicher zu sein, denn er warf nicht einmal einen Blick über die Schulter zurück, um sich davon zu überzeugen, dass Robin ihm nachkam. Statt das Gebäude zu verlassen, wie Robin bereits erwartet hatte, brachte er sie zu einer Tür am anderen Ende der großen Halle. Dort führte eine steile Treppe in von rotem Fackellicht und erstickendem Gestank erfüllte Tiefen. Der Sklavenhändler machte nun eine herrische Geste, bedeutete ihr damit vorauszugehen, und folgte Robin dann so dichtauf, dass sie seine Atemzüge im Nacken spürte. Es war ein beklemmendes Gefühl, das ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Fast immer wenn Menschen ihr zu nahe gekommen waren, war das mit Bedrohung und Gefahr einhergegangen, und für diesen rätselhaften Mann schien das ganz besonders zu gelten.
Robin schien es, als schleppte Omar sie geradewegs in die Hölle. Die Treppe führte in einen großen, von deckenhohen Gitterwänden in mehrere Zellen unterteilte Keller. Ein Dutzend Fackeln brannten und verbreiteten nicht nur rötliches, flackerndes Licht, sondern auch erstickende Wärme und einen beißenden Qualm, der in der Kehle brannte und Robin die Tränen in die Augen trieb.
Vor den Zellen standen zwei bewaffnete Posten, die hastig Haltung annahmen, als sie sahen, wer hinter Robin die Treppe herabstieg. Hinter den Gitterstäben drängten sich Dutzende von bemitleidenswerten Gestalten. Robin erkannte einige von ihnen wieder; es waren die Sklaven, die sie schon bei der Karawane draußen in der Wüste gesehen hatte. Sie wirkten noch ausgemergelter und waren in einem Zustand, der Robin daran zweifeln ließ, dass alle den nächsten Morgen erleben würden. Einige waren mit Ketten aneinander gefesselt, was Robin bei der bejammernswerten körperlichen Verfassung dieser Menschen geradezu absurd erschien. Etliche lagen auf dem nackten Boden und rührten sich nicht, als hätten sie nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf zu heben, oder wären bereits tot. Der Anblick ließ Robins Herz schmerzlich verkrampfen, und er machte sie zugleich ängstlich und zornig. Mit einer wütenden Bewegung drehte sie sich herum und fuhr den Sklavenhändler an: »Warum tut Ihr das? Warum tut Ihr das diesen Menschen an?«
»Weil ich es kann«, antwortete er mitleidlos. »Sie sind mein Besitz. Genau wie du.«
»Dann solltet Ihr besser auf Euren Besitz Acht geben«, antwortete Robin. »Sie werden sterben, wenn Ihr sie weiter so schlecht behandelt.«
»Einige, ja«, antwortete der Sklavenhändler ungerührt. »Der Marsch durch die Wüste hat die Schwachen von den Starken getrennt. Diejenigen, die auch noch die nächsten paar Tage hier unten durchstehen, die werden alles überleben, was ein Sklavenschicksal in den nächsten Jahren für sie bereithalten wird. Schon bald werden die Ersten auf dem Sklavenmarkt verkauft. Für die anderen lohnt die Mühe sowieso nicht.«
Robin war erschüttert. Nicht nur über die Worte allein, sondern viel mehr noch über die Kälte in seiner Stimme. Für Omar waren die Männer, Frauen und Kinder auf der anderen Seite der Gitterstäbe tatsächlich keine Menschen, sondern nur eine Ware, um die er sich nur insofern Sorgen machte, als dass sie seinen Gewinn schmälern würden, wenn er zu viele davon verlor. Sie fragte sich, wie sie jemals auch nur einen Hauch von Sympathie für diesen Mann hatte empfinden können. Er war kein Mensch, er war ein Ungeheuer.
Es waren Zorn und Wut, die ihr die Tränen in die Augen trieben, aber sie wusste, dass er sie falsch deuten würde, und drehte sich deshalb mit einem Ruck herum und zwang sich, den Blick noch einmal auf die bejammernswerten Gestalten jenseits der Gitterstäbe zu richten. Viele von ihnen starrten sie und ihren Begleiter an. In manchen Augen gewahrte sie ein stummes Flehen oder eine verzweifelte Hoffnung, in den allermeisten aber nur noch Resignation.
»Warum zeigt Ihr mir das?«, fragte sie.
»Weil ich glaube, dass du trotz allem ein vernünftiger Mensch bist«, entgegnete er. »Du hast die Wahclass="underline" Entweder wirst du Naidas Anweisungen gehorchen und dich fügen oder deine luxuriöse Unterkunft mit dem hier tauschen. Entscheide dich jetzt.«
»Sagtet Ihr nicht, dass ich wertvoll für Euch bin?«, fragte Robin bitter.
»Das stimmt«, sagte er. »Aber überschätze deinen Wert nicht. Du bist ein hübscher Bonus, das ist wahr. Aber so kostbar nun auch wieder nicht. Widersetzt du dich noch einmal oder machst du anderweitig Schwierigkeiten, wirst du hier heruntergebracht und in einem Monat auf dem Sklavenmarkt verkauft - falls du dann noch lebst.«
Seine Worte klangen nicht nach einer bloßen Drohung, und gerade das war es, was Robins Herz erneut mit Furcht erfüllte. Er sagte das nicht nur, um sie einzuschüchtern. Er meinte es bitter ernst. Sie antwortete nicht laut, sondern nickte nur, und ihm schien es zu genügen, denn er seufzte zufrieden. Als Robin zu ihm hochsah, winkte er ihr mit der Hand, dass sie ihm folgen sollte. Sie drehte sich gehorsam herum und trat hinter ihn, doch gerade, als sie schon gehen wollten, erscholl im hinteren Teil des Verlieses ein schriller Schrei, und diesmal war Robin sicher, dass sie ihren Namen hörte.
Und sie wusste sogar, wer es war, der ihn rief.
So schnell, dass sie den erschrockenen Wachen zuvorkam, die sie aufzuhalten versuchten, fuhr sie herum und rannte den schmalen Gang zwischen den Gitterstäben entlang. Der Schrei ertönte abermals, fast ein Kreischen jetzt, und Robin rannte so schnell, dass sie auf den letzten Schritten ins Stolpern kam und vor der Tür des hintersten Verschlages auf die Knie fiel.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Und dennoch verstand sie nicht, was sie sah. Sie versuchte nicht einmal, es zu begreifen. Dort in dem Kerker war Nemeth. Das Mädchen stand auf der anderen Seite des Gitters, hatte die Hände um die rauen Stäbe geschlossen und blickte sie mit einer Mischung aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit an, die Robin erneut die Tränen in die Augen steigen ließ. Die Kleine war so abgemagert und blass wie alle anderen hier, und ihre Haut starrte vor Schmutz. Ihr Kleid war zerrissen und ihr ehemals hübsches Gesicht von der Sonne verbrannt und an vielen Stellen verschorft. Sie rief ununterbrochen Robins Namen und rüttelte dabei mit aller Kraft an den Gitterstäben. Dann war eine der Wachen heran, riss Robin mit einer derben Bewegung an der Schulter zurück und schlug zugleich Nehmet so fest mit der Faust auf die Finger, dass das Mädchen mit einem gellenden Schmerzensschrei zurücksprang.
Mit einer wütenden Bewegung fuhr Robin herum, schlug die Hand des Wachpostens zur Seite und funkelte den Sklavenhändler an, der ihr gefolgt war.
»Warum habt Ihr das getan?«, fragte sie. Das drohende Glitzern in den Augen ihres Gegenübers entging ihr nicht, aber sie konnte sich nicht mehr beherrschen.
Plötzlich war es ihr gleichgültig, was mit ihr geschehen mochte. Nur noch mit Mühe konnte sie sich davon zurückhalten, sich auf den Sklavenhändler zu stürzen und so lange mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen, bis er wusste, wie sich seine hilflosen Gefangenen fühlen mochten. »Wieso habt Ihr sie mitgenommen? Dieses Mädchen ist keine Sklavin!«
»Jetzt schon«, antwortete er ruhig. »Ihre Familie wollte mich betrügen.«
»Und da habt Ihr...« Robin verstummte mitten im Satz, drehte sich wieder herum und ließ ihren Blick erneut über die Gesichter auf der anderen Seite der Gitterstäbe wandern. Im ersten Moment war sie nicht ganz sicher - für sie sahen die meisten Muselmanen so fremdartig aus, dass es ihr schwer fiel, sie zu unterscheiden -, aber dann entdeckte sie ein Gesicht, das sie nur zu gut kannte.