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Naida zeigte sich davon nicht begeistert. Sie tat sogar so, als hätte sie Robins Bitte nicht verstanden, aber Robin beherrschte das Arabische mittlerweile so gut, dass sie durchaus in der Lage war, ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Schließlich stimmte Naida widerwillig zu, machte aber eine rüde Geste, als Robin zusammen mit ihr das Zimmer verlassen wollte, und ließ sie für eine geraume Weile allein. Als sie zurückkam, befand sich ein hoch gewachsener Krieger in einem schwarzen Gewand in ihrer Begleitung, der ihr und vor allem Robin so lautlos wie ein Schatten und auch ebenso beharrlich folgte.

Robin fand nie heraus, ob er zu ihrem Schutz oder zu ihrer Bewachung da war, obgleich er in den nächsten Tagen tatsächlich zu so etwas wie ihrem persönlichen Schatten wurde, denn er begleitete sie auf Schritt und Tritt, wann immer sie ihr Gemach verließ. Als sie jedoch das Kellergewölbe betrat und der Sklavenkäfige ansichtig wurde, vergaß sie den Krieger.

Obwohl sie schon einmal hier gewesen war, traf sie der Anblick wie ein Schlag. Das Verlies kam ihr dunkler vor als beim ersten Mal, die Zellen jenseits der Gitter noch winziger, schmutziger, und der Gestank war so schlimm, dass er ihr im wahrsten Sinne des Wortes den Atem raubte. Sie vernahm ein leises Weinen, hier und da ein Stöhnen oder Schluchzen, das Rascheln von Stoff und ein allgemeines Wehklagen und Jammern, das die Luft durchtränkte und sich wie eine unsichtbare, glühende Messerklinge in ihre Brust bohrte.

Naida sagte etwas, das sie diesmal nicht verstehen wollte, und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Robin schüttelte sie ab, riss sich los und ging mit schnellen Schritten zum anderen Ende des schmalen, von Gitterstäben gebildeten Ganges, der den großen Kellerraum in zwei Hälften teilte. Sie versuchte, den Blick von den bemitleidenswerten Gestalten zu wenden, aber es gelang ihr nicht. Sie hätte wissen müssen, was sie erwartete, schließlich war sie nicht das erste Mal hier, aber es kam ihr plötzlich hundertmal schlimmer vor. Hätte sie genauer hingesehen, dann wäre ihr aufgefallen, dass die Zahl der Sklaven abgenommen hatte. Ganz, wie der Sklavenhändler vorhergesagt hatte, waren die Schwächsten den Strapazen erlegen, die sie auf dem Weg hierher hatten erleiden müssen. Diejenigen, die noch am Leben waren, begannen sich ganz allmählich zu erholen, auch wenn zweifellos noch einige von ihnen sterben würden. Robin aber kam es vor, als wäre das Leid hundertmal schlimmer geworden.

Als sie die Zelle erreichte, in der Nemeth und ihre Mutter sowie ein Dutzend weiterer Sklaven untergebracht waren, konnte sie die Tränen kaum noch zurückhalten.

Nemeth starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie machte keine Anstalten, zu ihrer selbst ernannten Retterin zu kommen, sondern klammerte sich weiter so fest an ihre Mutter, als befürchtete sie, sie im nächsten Moment zu verlieren. Das Gesicht des Mädchens blieb völlig unbewegt - so weit das unter der Kruste aus Schmutz und eingetrockneten Tränen überhaupt erkennbar war -, und in seinen Augen war ein Ausdruck, der Robin erneut einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Mit aller Kraft kämpfte Robin die Tränen nieder und versuchte, wenigstens die Andeutung eines Lächelns auf ihr Gesicht zu zwingen. Weder das eine noch das andere hatte etwas mit Stolz oder vorgetäuschtem Mitleid zu tun. Wie sollte sie den Menschen auf der anderen Seite der Gitter Mut zusprechen, wenn diese ihre Verzweiflung bemerkten und begriffen, dass sie selbst kurz vor dem Zusammenbruch stand?

Sie hörte ein Rascheln hinter sich und wusste, ohne sich umblicken zu müssen, dass es Naida war. Die alte Araberin sagte etwas, das Robin nicht verstand, sich aber ungewohnt mitfühlend und sanft anhörte. Robin beachtete sie nicht weiter, ließ sich in die Hocke sinken und zog ein Stück Fladenbrot und eine Hand voll Datteln unter ihrem Gewand hervor. Beides hatte sie während ihres Abendessens beiseite geschafft und versteckt. Bis vor einem Augenblick war es ihre größte Sorge gewesen, wie sie Nemeth unbemerkt das Essen zustecken konnte; jetzt war es ihr egal. Wenn Naida auch nur den Ansatz machen sollte, dem Mädchen diese kümmerliche Mahlzeit vorzuenthalten, dann würde sie ihr die Augen auskratzen.

Keiner der Gefangenen rührte sich. Auch Nemeth starrte vollkommen reglos auf das Brot und die Früchte in Robins Hand. Doch jetzt füllten sich die Augen des Mädchens mit Tränen, und als hätte es damit eine Schranke durchbrochen, verzog sich sein Gesicht vor Leid, Hunger und Angst. Der Anblick war so schrecklich, dass Robin meinte, ein glühender Dolch grabe sich in ihre Brust.

»Bitte nimm es«, sagte sie. »Mehr habe ich nicht. Aber ich verspreche, dass ich dir wieder etwas bringe.«

»Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, sagte Naida hinter ihr. Abermals beachtete Robin sie nicht.

In Nemeths Augen stand ein Ausdruck von Verwirrung, als begriffe sie erst allmählich, dass Robin diesmal mehr als nur undeutlich gestammelte arabische Worte über die Lippen gekommen waren. Auch Saila hob verwundert den Kopf und starrte in ihre Richtung. Robin erschrak erneut, als sie sah, in welch jämmerlichem Zustand sich die junge Frau befand, die vor kaum einer Woche noch so schön und anmutig gewesen war. Jetzt war sie kaum mehr als ein Zerrbild ihrer selbst; das Gesicht eingefallen und grau, nicht nur vor Schmutz, sondern auch vor Schwäche, die Augen trüb über tiefen, dunklen Augenringen und das Haar fleckig wie dreckiges Stroh.

Saila schwieg ebenfalls und sah Robin nur auf die gleiche, ebenso verwirrte wie ungewollt vorwurfsvolle Art an wie ihre Tochter. Schließlich hob sie die Hand, löste Nemeths Arme mit sanfter Gewalt von ihren Schultern und schob das Kind ein ganz kleines Stück in Robins Richtung, und endlich fiel der Bann von dem Mädchen ab. Mit einem einzigen Satz war sie am Gitter bei Robin und riss ihr Brot und Früchte so ungestüm aus der Hand, dass ihre Fingernägel zwei dünne Kratzer auf Robins Handrücken hinterließen. Augenblicklich sprang sie wieder zurück, das erbeutete Stück Brot und die drei Datteln wie einen Schatz an sich gepresst und am ganzen Leib zitternd. Doch sie machte keine Anstalten, etwas davon in den Mund zu stecken.

»Iss«, sagte Robin. »Bitte.«

Nemeth zögerte noch einmal, dann schlang sie das Brot regelrecht herunter, und Robin hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, ihr dabei zuzusehen. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Doch sie wollte nicht, dass Nemeth bemerkte, dass sie weinte. All diese Menschen so zu sehen tat ihr unendlich weh. Sie waren gewiss nicht ihre Freunde gewesen, Saila und ihre Tochter vielleicht einmal ausgenommen, aber sie hatten auch nichts getan, wodurch sie dieses Schicksal verdienten. Und das Allerschlimmste war: Es war nicht nur Mitleid, das die Tränen plötzlich ungehemmt über Robins Gesicht laufen ließ. Sie fühlte sich schuldig. Sie stand hier, als gehörte sie in eine ganz andere Welt, bekleidet wie eine Prinzessin, wohlgenährt und frei. Sosehr ihr Verstand auch versuchte, ihr klar zu machen, dass es nicht ihre Schuld war, so sehr sprach ihr Herz eine andere Sprache. Sie hatte das Gefühl, ihren Wohlstand all diesen Menschen zu verdanken - vor allem aber Nemeth und ihrer Mutter.

»Warum... tut ihr das?«, schluchzte sie. Die Worte galten Naida, die Robin noch immer keines Blickes würdigte.

»Es ist Allahs Wille, die Starken überleben zu lassen«, sagte die alte Sklavin hinter ihr.

»Allah?« Robin wollte lachen, aber der Laut, der aus ihrer Kehle kam, klang eher wie ein verzweifelter Schrei. »Du meinst wohl Omar, nicht wahr? Ich glaube nicht, dass euer Gott die Menschen geschaffen hat, damit sie so gequält werden.«

»Schweig!«, sagte Naida scharf. »Es steht dir nicht zu, Allahs Namen in den Mund zu nehmen, Christin! Tu es noch einmal und ich lasse dich auspeitschen!«

»Das glaube ich nicht«, murmelte Robin. Vielleicht hatte Naida die Macht, sie bestrafen zu lassen, vielleicht auch nicht, aber welche Rolle spielte das jetzt noch?

»Wir müssen gehen«, sagte Naida scharf.