Robin nahm alle Kraft zusammen, hob den Blick und sah Naida fest in die Augen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich will zu deinem Herrn«, verlangte sie. »Ich will mit Omar sprechen, auf der Stelle!«
Die alte Sklavin zeigte sich nicht beeindruckt. Der Blick, mit dem sie Robin maß, war eher mitleidig. »Wenn unser Herr dich zu sehen wünscht, wirst du es schon früh genug erfahren«, antwortete sie. Dann schüttelte sie den Kopf. »Er weilt nicht im Haus.«
»Ich nehme an, er ist auf dem Markt, um Sklaven zu verkaufen«, sagte Robin böse. »Dann beeilt er sich besser. Wenn er seinen wertvollen Besitz weiter so behandelt, wird er bald niemanden mehr verkaufen können.«
Diesmal blitzte es ärgerlich in Naidas Augen auf, und Robin begriff, dass sie zu weit gegangen war. Sie mahnte sich selbst in Gedanken, vorsichtiger zu sein. Noch vor einem Augenblick war ihr ihr eigenes Schicksal gleich gewesen, aber jetzt dachte sie an das Stück Brot, das Nemeth so gierig heruntergeschlungen hatte, und ihr wurde klar, dass sie weder Nemeth noch ihrer Mutter oder irgendeinem hier helfen konnte, wenn sie es sich endgültig mit Naida verdarb.
»Unser Herr ist nicht einmal in der Stadt«, sagte Naida verächtlich. »Was für ein Glück für dich!«
»Dein Herr ist ein Dummkopf«, sagte Robin, langsam und so ruhig, dass aus diesen Worten eine Feststellung wurde, keine Beleidigung. Naida sah sie nur fragend an, aber der hünenhafte Krieger, der wie ein Schatten hinter der alten Frau stand, runzelte viel sagend die Stirn, und Robin spürte, wie sich seine Muskeln unter dem schwarzen Gewand spannten. Sie fragte sich, wie weit Naidas Macht über diesen Mann reichte, ob sie ihm Befehle erteilen oder ihrerseits Befehle von ihm annehmen würde und ob sie in der Lage oder auch nur willens war, sie zu beschützen, sollte der Krieger zu dem Schluss kommen, dass die Christensklavin sich zu sehr im Ton vergriffen habe.
In ruhigem und sachlichem Tonfall fuhr sie deshalb fort: »Tote Sklaven bringen keinen Gewinn auf dem Markt, und halb verhungerte und kranke wohl auch nicht.«
Zu ihrer Überraschung verwies Naida sie nicht in ihre Schranken, sondern sah sie auf eine Weise an, die Robin im ersten Moment nicht deuten konnte. Als die alte Frau schließlich antwortete, tat sie es beinahe im Tonfall einer Verteidigung. »Ich selbst bin für die Sklaven verantwortlich, solange unser Herr nicht in der Stadt weilt. Aber meine Befugnisse haben Grenzen.«
»Ich habe nicht verlangt, dass du sie frei lassen sollst«, antwortete Robin.
»Mir stehen nur begrenzte Mittel zur Verfügung, um Nahrung für die Sklaven zu kaufen«, entgegnete Naida. »Was soll ich tun? Diesem Mädchen und ihrer Mutter eine Extraration geben und einen anderen dafür verhungern lassen?«
»Nein«, antwortete Robin. »Aber es würde nichts kosten, ihnen Wasser zu geben, um sich zu waschen, und frisches Stroh, damit sie nicht in ihrem eigenen Schmutz schlafen müssen. Und es würde nichts kosten, wenn du ihnen erlaubtest, ihre Zellen zu reinigen. Viele von ihnen sind krank.«
»Und werden sterben«, sagte Naida. »Ich weiß.«
»Aber einige vielleicht nicht, wenn du sie nicht weiter in diesem Dreck verrotten lässt!«, erwiderte Robin. »Ich bitte dich, Naida! Sei barmherzig! Oder lass wenigstens deine Vernunft walten! Ihr würdet euer Vieh nicht in einem so schmutzigen Stall unterbringen, warum also tut ihr es mit Sklaven, die doch angeblich ein so wertvoller Besitz sind?«
Dem Krieger war nun noch deutlicher sein Missfallen über diesen Wortwechsel anzusehen. Oder war es Verwunderung, die sich in seinen Zügen spiegelte? Die alte Sklavin schwieg eine geraume Weile, und Robin glaubte schon, sie hätte den Bogen endgültig überspannt.
Dann aber nickte Naida plötzlich. »Also gut«, sagte sie. »Sie bekommen Wasser, und sie dürfen ihre Zellen reinigen. Wenn unser Herr danach fragt, dann wirst du ihm sagen, dass es meine Idee war, weil der Gestank das ganze Haus verpestet hat.« Sie drehte sich herum und sah den schwarz gekleideten Krieger hinter sich durchdringend an. »Und dasselbe gilt für dich, Faruk. Hast du mich verstanden?«
Der Krieger antwortete nicht, er nickte nur und trat, fast demütig und mit halb gesenktem Haupt, einen Schritt zurück. Naida war also mächtig genug, selbst diesem Mann Befehle zu erteilen. Robin fragte sich, wie eine einfache Sklavin so weit aufsteigen konnte, noch dazu in einer Welt, in der Frauen ganz offensichtlich noch sehr viel weniger zu sagen hatten als in Robins Heimat.
»Du musst jetzt gehen«, sagte Naida, nachdem sie sich wieder zu ihr herumgedreht hatte. »Verabschiede dich von deiner Freundin. Dies hier war dein letzter Besuch.«
Irgendetwas in Naidas Blick und Stimme warnte Robin. Sie hatte sehr viel mehr erreicht, als sie eigentlich hätte erwarten dürfen, aber nun spürte sie plötzlich, wie dünn das Eis war, auf dem sie sich bewegte. Sie kannte Naida viel zu wenig, um beurteilen zu können, ob die alte Sklavin tatsächlich über ein gutes Herz verfügte, das sich nur unter einer vorgetäuschten Schale aus Härte und Unnahbarkeit verbarg, oder ob sie einfach nur einen glücklichen Moment erwischt hatte. So oder so war Robin klar, dass der Zwischenfall dem Sklavenhändler nicht verborgen bleiben würde.
Robin wollte Naida keine Schwierigkeiten bereiten. So nickte sie nur, drehte sich noch einmal zu der Wand aus Gitterstäben herum und ging in die Hocke, um auf einer Höhe mit Nemeths Gesicht zu sein.
Das Mädchen hatte Brot und Datteln mittlerweile bis auf den letzten Krümel verzehrt und sich wieder Schutz suchend in die Arme ihrer Mutter geflüchtet. Sie sah Robin weiter auf diese stumme, eindringliche Art an, die vermutlich gar nicht vorwurfsvoll gemeint war. Wieder musste Robin gegen die Tränen ankämpfen, die ihr in die Augen schießen wollten.
»Ich werde wiederkommen«, versprach sie. »Und dir wird nichts passieren, darauf gebe ich dir mein Wort.«
Nemeth reagierte nicht, aber ihre Mutter hob den Blick. In ihren rot entzündeten Augen mischte sich Verzweiflung mit einer jäh aufflammenden Hoffnung. Ihre Worte taten Robin bereits wieder Leid. Tief in sich spürte sie, dass sie vielleicht nicht in der Lage sein würde, dieses Versprechen zu halten, ganz egal, wie sehr sie es auch wollte - und genau dieses Gefühl schien Saila zu teilen. Trotzdem klammerte sie sich mit der verzweifelten Kraft einer Mutter, die um das Leben ihres Kindes kämpft, an diese so vorschnell und leichtfertig ausgesprochenen Worte. Und vielleicht gaben sie ihr ja Kraft. Vielleicht erfüllte dieses Versprechen, das Robin möglicherweise nicht würde halten können, doch seinen Zweck, indem es Saila und ihrer Tochter das entscheidende Quäntchen Mut und Hoffnung gab, das über Leben oder Tod entscheiden mochte.
Mit einem Ruck stand Robin auf, drehte sich herum und lief so schnell die Treppe hinauf, dass der Krieger ihr hinterhereilen und sie festhalten musste, damit Naida wieder zu ihnen aufschließen konnte.
Am nächsten Morgen erwachte sie noch vor Sonnenaufgang von den feierlichen Rufen der Muezzine, die von den zahlreichen Minaretten der Moscheen erklangen. Die Nacht hatte Robin einen von Albträumen und wirren Fantasien geplagten Schlaf beschert, der ihr eher Kraft geraubt als Erholung gebracht hatte. Vom Hof her drangen vielfältige Geräusche in ihr Zimmer, und als sie den Kopf wandte und zum Fenster hinsah, erblickte sie den rötlichen Schein mehrerer Fackeln. Sie fühlte sich nicht gut. Sie war in Schweiß gebadet, ihre Haut fühlte sich klebrig und schmutzig an. Das war verwunderlich. Denn so heiß die Tage in diesem Teil der Welt auch sein mochten, so eisig waren meist die Nächte. Unsicher setzte sie sich auf der Bettkante auf, klaubte die dünne Decke, die sie im Schlaf abgestreift hatte, vom Boden auf und schlang sie sich um die Schultern, ehe sie aufstand und ans Fenster trat.
Über Hama mit all seinen unzähligen Türmen, Kuppeldächern und Minaretten war die Sonne noch nicht aufgegangen, aber im Osten zeigte sich bereits ein rötlicher Schimmer am Horizont. Der ummauerte Innenhof unter ihr war von einem Dutzend Fackeln hell erleuchtet. Robin blinzelte ein paar Mal und fuhr sich schließlich mit dem Handrücken über die Augen, um den Schlaf endgültig fortzuwischen und halbwegs klar sehen zu können. Das ungewohnte Bild ließ sie einen winzigen Moment lang zweifeln, ob sie tatsächlich schon wach war oder noch träumte, zugleich aber stahl sich ein mattes Lächeln auf ihr Gesicht, als sie begriff, dass Naida tatsächlich Wort gehalten hatte.