»Wir glauben, dass es im Sinne Gottes ist, dass die Starken den Schwachen helfen«, widersprach Robin.
Wieder schüttelte Naida den Kopf, entschiedener diesmal. »Ich werde nicht mit einer Ungläubigen über Allahs Willen streiten«, sagte sie. »Und hüte dich, mir schon wieder zu sagen, dass ich Omar nur einen Dienst erweise, wenn ich sein Eigentum schütze. Diese Worte nutzen sich im Laufe der Zeit ab.«
»Aber...«
»Genug!«, unterbrach Naida sie scharf. Sie trat einen Schritt vom Fenster zurück und drehte sich energisch herum, um nicht mehr in Richtung des Jungen zu blicken. »Ein Heilkundiger kostet Geld, und das habe ich nicht. Nicht für Sklaven.«
Robin funkelte sie einen Moment wütend an, dann riss sie so ungestüm den Arm nach oben, dass Naida zusammenfuhr und sich spannte, als erwarte sie einen tätlichen Angriff. Stattdessen aber streifte Robin einen der goldenen Armreife ab, mit denen die Sklavinnen sie geschmückt hatten. »Geht es nur um ein paar jämmerliche Münzen?«, fragte sie verächtlich. »Dann nimm das hier. Das wird reichen, um einen Medicus zu bezahlen.« Sie musste sich beherrschen, um Naida den Armreif nicht vor die Füße zu werfen. Ihre Augen blitzten vor Zorn und ihre Stimme bebte.
Naidas Antwort bestand aus einem spöttisch herablassenden Verziehen der Lippen. »Du Närrin«, sagte sie. »Nichts von dem, was du am Leibe trägst, gehört dir. Dieser Armreif ist ebenso Omars Besitz, wie ich es bin, oder du, wie einfach alles hier. Du besitzt nichts! Du hast nicht das Geringste zu bieten, um einen Heiler zu entlohnen.« Sie lächelte böse. »Nicht einmal dein eigener Körper gehört mehr dir!«
Robin starrte die alte Frau einen Moment lang hasserfüllt an. Sie musste sich beherrschen, um sich nicht doch noch auf sie zu stürzen und auf sie einzuprügeln. Dabei hatte sie nur das ausgesprochen, was sie selbst schon längst insgeheim gewusst hatte. Es war die gleichermaßen kalte wie resignierte Art, mit der die alte Sklavin ihr die Wahrheit entgegengeschleudert hatte, die ihr Gefühl zum Überbrodeln brachte, die Gewissheit, dass sie trotz all des Prunks um sie herum nicht mehr Rechte als ein wildes Tier hatte. Das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht wurde für einen Moment so übermächtig, dass Robin das Bedürfnis verspürte, laut loszuschreien oder etwas zu zerstören - oder irgendjemandem wehzutun.
Sie tat nichts dergleichen, sondern drehte sich mit einem wütenden Ruck abermals herum, um in den Hof hinabzublicken. Die Szene hatte sich scheinbar nicht verändert, doch fiel Robin auf, dass der Knabe, den sie zuvor beobachtet hatte, auf die Knie gesunken war und versuchte, sich ebenso tapfer wie vergeblich aus eigener Kraft wieder aufzurichten. Vermutlich hatte Naida Recht, dachte sie bitter. Dieser Junge würde sterben, ganz gleich, ob ihm ein Heilkundiger half oder nicht. Vermutlich würde er sein Leben ausgehaucht haben, noch ehe dieser Tag zu Ende ging.
Robin hatte in ihrem kurzen Leben bereits genügend Schicksalsschläge aller Art erfahren, um zu wissen, dass an dieser Tatsache nicht mehr zu rütteln war. Aber was nutzte ihr diese Einsicht, wenn sie nur die Augen zu schließen brauchte, um Nemeths Gesicht und den Ausdruck stummen Vorwurfes in ihrem Blick vor sich zu sehen und den Schmerz vom vorigen Abend wieder zu spüren, die absurde Gewissheit, dass dies alles hier irgendwie ihre Schuld war? Und vielleicht stimmte das sogar. Wäre sie nicht auf der Sankt Christophorus gewesen, hätten diese Menschen sie - aus welchen Gründen auch immer - nicht aus dem Wasser gezogen und damit vor dem sicheren Tod bewahrt. Dann wäre es vielleicht auch nie zu der verhängnisvollen Auseinandersetzung mit dem Sklavenhändler gekommen, in deren Verlauf die ganze Dorfbevölkerung in Gefangenschaft geraten war. Niemand hätte sterben müssen, niemand wäre in Ketten gelegt worden, und dieser Knabe würde jetzt nicht dort unten stehen und vielleicht zum letzten Mal im Leben die Sonne aufgehen sehen. Wenn es doch nur etwas gäbe, was sie tun konnte!
Ein erster, verirrter Sonnenstrahl brach sich auf dem goldenen Ring an ihrer Hand. Ganz instinktiv schloss Robin die Finger zur Faust, um ihn zu verbergen, so, wie sie es in den letzten Tagen stets getan hatte, meist ohne sich der Geste richtig bewusst zu sein. Und dennoch konnte sie das helle Funkeln so wenig aus ihrem Bewusstsein verdrängen wie die Erinnerung, die es hervorrief. Salim hatte ihr diesen Ring gegeben, damit sie ihn nicht vergaß, und er war das Einzige und Letzte, was sie noch von ihm hatte, - vielleicht alles, was sie für den Rest ihres Lebens an den Tuareg erinnern würde. Aber was war dieses Leben noch wert, wenn sie es mit der Zukunft eines unschuldigen Kindes erkaufte?
Mit plötzlicher Entschlossenheit zog sie den Ring vom Finger und streckte ihn Naida entgegen. »Nimm«, sagte sie.
Die alte Sklavin blinzelte verdutzt. »Was...?«
»Dieser Ring gehört mir«, sagte Robin. »Er ist mein Eigentum, nicht das Omars oder irgendeines anderen. Er ist aus Gold. Nimm ihn. Sein Wert reicht mit Sicherheit, um einen Heiler zu bezahlen.«
Naida rührte keinen Finger, um den Ring entgegenzunehmen, - sie blickte ihn erschrocken, ja beinahe entsetzt an - auf die gleiche Weise wie sie ihn schon einmal betrachtet hatte. Als sie sich schließlich bewegte, tat sie es nicht, um Robin den Ring abzunehmen; sie wich im Gegenteil einen Schritt zurück, als wäre es kein Schmuckstück, das Robin ihr hinhielt, sondern ein giftiger Skorpion, dessen Stachel sie fürchtete.
»Worauf wartest du?«, fragte Robin. »Er ist echt. Er wird reichen, um zehn Heiler zu bezahlen.«
Naida wirkte völlig verstört. Vielleicht fürchtete sie eine Hinterlist, vielleicht war sie aber auch nur sprachlos, weil Robin noch immer Anspruch auf den Ring erhob, obwohl er doch genauso wie sie selbst längst in den Besitz Omars übergegangen war. Plötzlich überkamen Robin Zweifel. Etwas in ihr schrie bei der bloßen Vorstellung entsetzt auf, Salims Geschenk ohne eigene Not wegzugeben, aber eine andere, stärkere Stimme erklärte ihr, dass es das Beste war, was sie jetzt tun konnte. Solange ihr Omar den Ring noch ließ, sollte sie sehen, dass sie ihn gegen einen vernünftigen Gegenwert eintauschte - das war sicherlich auch in Salims Sinne.
»Also?«
Endlich erwachte Naida aus ihrer Starre. Mit sichtlicher Mühe riss sie ihren Blick von Robins Hand und dem Ring zwischen ihren Fingern los und sah sie aus großen Augen an. »Du musst... den Verstand verloren haben«, murmelte sie fassungslos.
Das scheint mir auch so, dachte Robin. Laut sagte sie: »Vielleicht. Aber nicht mein Herz. Deines scheint ja aus Stein zu sein, wenn du dieses Kind sterben lässt, um deinem Herrn ein paar Münzen zu ersparen.«
Sie sah Naida an, dass sie eine Menge darauf hätte erwidern können, aber schließlich hob die Alte nur die Schultern, streckte behutsam die Hand aus und nahm Robin den Ring ab. Sie verbarg ihn weder in ihrem Gewand, noch schloss sie die Finger darum, sondern ließ ihn auf ihrer ausgestreckten Handfläche liegen und hielt den Arm so weit von sich fort, wie sie konnte. Es schien beinahe, als fürchte sie diesen Ring, als könnte er sie vergiften oder ihr irgendein anderes Leid antun.
»Wenn das wirklich dein Wunsch ist...«
»Das ist es«, sagte Robin. »Und jetzt geh. Verkauf den Ring auf dem Markt oder wo immer du magst und schick einen Medicus, der sich um die Sklaven kümmert. Und sollte von dem Erlös noch etwas übrig sein, dann besorge etwas zu essen für sie.«
Naida machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Vielleicht hatte sie vor, den Heiler mit einem Teil des kleinen Vermögens zu bezahlen, den der Ring sicherlich wert war, und den Rest selber in die Tasche zu stecken. Es war Robin gleich. Ihre Augen brannten, und ein Teil von ihr wollte noch immer nichts lieber tun, als der Sklavin den Ring wieder abzunehmen und ihn wie einen unendlich wertvollen Schatz zu verteidigen. Zugleich aber fühlte sie sich unsagbar erleichtert. Ihr war, als hätte sie sich mit dem Opfer, das sie erbracht hatte, von einer Schuld freigekauft, die ihr ohne ihr Zutun auferlegt worden war. Es spielte keine Rolle, ob sie den Ring besaß oder nicht. Salim hatte ihn ihr gegeben, und ob sie ihn weiter am Finger trug oder aber nur in ihrem Herzen - er würde immer da sein.