»Ganz, wie du meinst«, sagte Naida schließlich und in verändertem Tonfall. »Und nun zieh dich an. Harun wird gleich hier sein.«
»Harun?«
»Du wirst tun, was er von dir verlangt, so als hätte ich es selbst angeordnet«, erwiderte Naida, ohne Robins Frage zu beantworten. Sie sah noch einmal auf den Ring auf ihrer Handfläche hinab und ging dann langsam, fast zögerlich, zur Tür und zog sie auf.
Wie üblich stand Faruk vor Robins Gemach, der hünenhafte schwarz gekleidete Krieger, den Omar offensichtlich zu ihrer persönlichen Bewachung abgestellt hatte. Er wandte den Kopf und sah unbeteiligt auf die alte Sklavin hinab, die gedankenverloren einen Moment im Türrahmen stehen blieb. Plötzlich aber fuhr er zusammen und starrte aus aufgerissenen Augen auf den goldenen Ring in Naidas Handfläche.
Naida schloss die schwere Tür hinter sich. Einen Augenblick konnte Robin Stimmen hören. Dann war alles ruhig. Der Krieger hatte überrascht, ja sogar erschrocken gewirkt. Doch warum?
Robin verscheuchte den Gedanken mit einem Kopfschütteln und wandte sich wieder dem Treiben auf dem Hof zu. Die Schlange vor der Pferdetränke war inzwischen weitergerückt. Der Junge und seine Mutter hatten den Trog erreicht und der Knabe war davor auf die Knie gesunken. Robin konnte sehen, wie er das schmutzige Wasser mit großen, gierigen Schlucken trank, bis seine Mutter ihn sanft zurückzog, einen Teil ihres Schleiers löste und den Zipfel ins Wasser tauchte. Mit einer Zärtlichkeit, deren bloßer Anblick Robin wie ein Messerstich in die Brust traf, begann sie, sein Gesicht zu waschen. Der Junge wehrte sich. Das Wasser war kalt und vermutlich hatte er Schmerzen, aber die Araberin hielt ihn fest und fuhr fort, ihn zu säubern. Vermutlich wusste sie, dass das Kind diesen Tag kaum überleben würde, allerhöchstens noch den folgenden, und dennoch kümmerte sie sich so liebevoll und zärtlich um den Knaben, als säßen sie zu Hause in ihrem Dorf und bereiteten sich auf ein Fest vor. Warum war Gott so grausam? dachte Robin. Grausam zu diesen Menschen dort unten, grausam auch zu ihr. Warum erlegte er ihr eine solch schreckliche Prüfung auf? Was hatte sie getan? Wodurch hatte sie das Schicksal herausgefordert, dass es so hart zurückschlug?
Ihre Gedanken verwirrten sie. Wieso dachte sie plötzlich über Gott nach? Auch wenn sie das letzte Jahr unter Rittern des Templerordens verbracht und unter ihrer Fahne geritten war, so glaubte sie doch nicht wirklich an ihn. Nicht so, wie es Abbé, Heinrich, Dariusz und all die anderen taten. Wenn es überhaupt einen Gott gab, dann war es gewiss nicht der grausame und rachsüchtige Gott, den Abbé und seine Brüder in ihrer Kirche anbeteten, und ebenso wenig der, vor dem Salim, Omar und all die anderen Muselmanen das Haupt beugten, wenn sie ihre Gebetsteppiche ausrollten. Robin hatte es niemals laut ausgesprochen - nicht einmal Salim gegenüber, obwohl ihr klar war, dass er ihre wahren Gefühle kennen musste -, aber sie weigerte sich zu glauben, dass es einen allmächtigen Gott von solcher Grausamkeit gab. Wenn über dem Himmel noch eine weitere Macht war, dann eine von solcher Gleichgültigkeit, dass sie sich geschämt hätte, sie anzubeten.
Sie hörte schwere Schritte draußen auf dem Flur, etwas klirrte und Robin konnte sich gerade noch umdrehen, bevor die Tür zu ihrem Gemach geradezu aufgerissen wurde. Es war jedoch nicht Naida, die zurückkam, es waren auch nicht die beiden Sklavinnen, die allmorgendlich erschienen, um ihr beim Ankleiden zu helfen und ihr das Frühstück zu bringen. Stattdessen trat eine Gestalt von solch groteskem Aussehen in das Zimmer, dass Robin nicht anders konnte, als ungläubig die Augen aufzureißen und sie anzustarren.
Es war ein Mann. Das war im ersten Moment aber auch schon alles, dessen sich Robin sicher war, und das nur, weil er einen Bart trug und sein Gesicht nicht verschleiert war.
Es war der dickste und zugleich größte alte Mann, den Robin jemals zu Gesicht bekommen hatte. Selbst Bruder Abbé mit seinem gewaltigen Bauch hätte neben ihm wie ein schlanker Knabe gewirkt. Er war dunkelhäutiger als Omar, was durch seinen makellos weißen bis auf die Brust reichenden Bart noch betont wurde. Die Enden seines Bartes waren zu einem halben Dutzend alberner Zöpfchen geflochten.
Irgendwie sah er wie ein an Fettleibigkeit leidender Pfau aus, und Robin dachte, er müsse entweder farbenblind sein oder einem Volk entstammen, das sich unter Geschmack etwas völlig anderes vorstellte als alle anderen Menschen, die Robin je kennen gelernt hatte. Auf seinem Haupt thronte ein riesiger schwarzer Turban, der mit silbernen Nadeln und Perlen verziert war, dazu trug er einen schreiend grünen, goldbestickten Kaftan, darunter ein rotes Hemd. Seine weite, bersteinfarbene Hose wurde von einer schwarzgoldenen Bauchbinde gehalten, die Robin auseinander gefaltet vermutlich gut als Zelt hätte nutzen können, und er trug sonderbare rote Schuhe, deren Spitzen so weit nach oben gebogen waren, dass sie fast einen Dreiviertelkreis bildeten.
Das Gesicht des Kolosses war, in Anbetracht seiner Leibesfülle, überraschend kantig und wirkte trotz des albernen Bartes energisch. Ja, man hätte es sogar Ehrfurcht gebietend nennen können, hätte sich der Alte die Augen nicht wie eine billige Hure mit dicken schwarzen Lidstrichen umrandet. Sein Antlitz war mit feinen Schweißtröpfchen bedeckt und er keuchte, als hätte er den ganzen Weg hier herauf um sein Leben rennen müssen. Robin war darüber nicht erstaunt. Sie zweifelte daran, dass es ihr selbst gelungen wäre, die beiden Treppen bis hier herauf zu bewältigen, müsste sie eine solche Körperfülle mit sich herumschleppen.
Der Alte stellte sich mit einer überraschend eleganten Verbeugung vor, trat einen weiteren Schritt in den Raum hinein und machte auf diese Weise für seine Begleiterin Platz; eine tief verschleierte Frau in einem weiten schwarzen Umhang, unter dessen halb durchsichtigem Schleier es golden aufblitzte. So schreiend bunt der Alte gekleidet war, so nachtschwarz und einfach war das Gewand der Frau. Das einzig Auffällige an ihr waren die roten Schuhe, die mit Goldstickereien verziert waren und dieselben sonderbaren Spitzen aufwiesen wie die des Alten.
»Wer... seid Ihr?«, murmelte Robin verstört. Sie wusste nicht, was sie von diesen sonderbaren Besuchern halten sollte. Der dicke Pfau, wie sie ihn für sich nannte, wirkte so komisch, dass wohl jedermann bei seinem bloßen Anblick Mühe gehabt hätte, ein Grinsen zu unterdrücken, aber zugleich ging auch etwas von ihm aus, das Robin beunruhigte.
Statt auf ihre Frage einzugehen, kam der Alte mit trippelnden Schritten näher, - sein gewaltiger Körper und seine absurde Kleidung ließen die Bewegung wie das Rollen eines aus bunten Stoffresten genähten Balles wirken. Gerade, als sich Robin fragte, ob er sie überrollen wolle, blieb er stehen, wiederholte seine überzogene Verbeugung und sagte mit einer dünnen Fistelstimme: »Ich bin Harun al Dhin. Hat Naida mein Kommen nicht angekündigt?«
Robin nickte schwach. Das war Harun? Was um alles in der Welt...?
Harun richtete sich ächzend wieder auf, trippelte zwei Schritte weiter zum Fenster und starrte in den Hof hinab. Sein gewaltiger Bauch war ihm dabei so sehr im Weg, dass er sich gefährlich weit vorbeugen musste, um überhaupt über die Brüstung zu blicken. Was er sah, schien ihn zufrieden zu stellen, denn als er sich schnaufend wieder in Robins Richtung herumdrehte, teilte ein zufriedenes, breites Grinsen seinen Bart.
»Und was willst du hier?«, fragte Robin. Sie warf einen Hilfe suchenden Blick in das verschleierte Gesicht von Haruns Begleiterin, aber die schwarzen Augen hinter dem Tuch schienen direkt durch sie hindurchzusehen.
Harun deutete gelassen aus dem Fenster. An seinen Fingern funkelten etliche goldene Ringe.