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Als Robin weiterging, verspürte sie wieder den gleichen, schmerzhaften Stich wie am Morgen. Aus der Nähe betrachtet wirkte der Junge noch bemitleidenswerter und verlorener als auf dem Hof. Er war vielleicht zehn Jahre alt, sehr mager, und hatte kurze schwarze Locken. Die geschlossenen Lider zuckten unruhig, als durchlitte er einen Albtraum, und seine Lippen waren vom Fieber ausgedörrt und so rissig, dass sein Mund wie eine verschorfte, blutige Wunde in seinem Gesicht wirkte.

»Du hattest Zeit, deine Entscheidung zu treffen«, sagte Naida. »Ich hoffe, du hast sie gut genutzt.«

Robin sagte nichts, sondern ging wortlos an der Sklavin vorbei und ließ sich neben dem improvisierten Lager auf die Knie sinken. Zitternd streckte sie die Hand aus - die linke Hand, die den Ring trug -, zögerte noch einen Moment und berührte dann die Stirn des Jungen. Sie erschrak, als sie spürte, wie heiß sie war. Die Haut des Knaben schien zu glühen und fühlte sich so trocken und rissig wie Felsgestein in einer Wüste an. Obwohl sie nur seine Stirn und nicht seinen Hals berührte, konnte sie deutlich fühlen, wie sein Herz jagte. Er roch schlecht, nach saurem Schweiß und Schmutz, aber auch nach Krankheit; einer Krankheit, die seinen Körper von innen verbrannte, so wie das Fieber seine Haut glühen ließ.

»Sein Name ist Rustan«, sagte Naida. »Er ist zehn Jahre alt. Ein hübscher Junge, nicht wahr?«

Robin hob den Kopf und sah fragend zu der Sklavin hoch. Sie erwiderte nichts.

»Vielleicht rettest du ihm das Leben«, fuhr Naida fort und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Vermutlich aber nicht. Und wenn, dann wird er vielleicht in zwei Jahren zu Tode gepeitscht, weil er seinem Herrn einen Krug Wasser über das Gewand geschüttet oder einen verbotenen Blick durch das Fenster eines Harems geworfen hat. Vielleicht begegnet ihr euch aber auch in zehn Jahren wieder, und er bezahlt ein Kupferstück dafür, dich für eine Nacht mit in eine schmutzige Kammer zu nehmen.«

Robin sagte auch dazu nichts. Selbst die flüsternde Stimme tief in ihrem Inneren schwieg. Und dieses Schweigen tat weh, denn es war ein Schweigen der Zustimmung.

»Warum quälst du mich so?«, fragte Robin leise.

Naida verzog die Lippen und stieß verächtlich die Luft aus. »Ich wollte, dass du siehst, wofür du deine einzige persönliche Habe hergibst - und vielleicht dein Leben. Ist es immer noch dein Wunsch, diesem Sklaven zu helfen?«

Robin nickte wortlos. Naida sah sie noch eine kleine Ewigkeit lang durchdringend und mit undeutbarem Blick an, dann aber drehte sie sich mit einer so abrupten Bewegung herum, dass die Decke von ihrer Schulter rutschte und zu Boden glitt. Sie hob die Arme und klatschte zweimal in die Hände.

Noch bevor das Echo des zweiten Klatschens verklungen war, öffnete sich die Tür und ein mittelgroßer, schlanker Mann in hellen orientalischen Gewändern trat auf den Hof heraus. Im Unterschied zu den meisten anderen Männern, denen Robin bisher in diesem Land begegnet war, trug er weder einen Turban noch eine andere Kopfbedeckung. Hellblondes Haar reichte ihm bis zu den Schultern und sein Gesicht war nicht das eines Orientalen. Er näherte sich mit schnellen Schritten, blieb unmittelbar vor Naida stehen und deutete ein Kopfnicken an. Die alte Frau trat ebenfalls wortlos zur Seite und deutete mit einer knappen Geste in Richtung des kranken Jungen.

»Seid gegrüßt, ehrwürdige Damen«, begann der Fremde zu Robins gelinder Überraschung nicht auf Arabisch, sondern in ihrer Muttersprache. Eine Tatsache, die Naida sogleich mit einem bösen Blick und einem unfreundlichen Grunzen quittierte.

Doch der Fremde beachtete sie nicht. Er lächelte, wenngleich sein Blick Robin verriet, dass ihre Anwesenheit an diesem Ort ihn mindestens so sehr verwunderte wie seine sie selbst. Als sie sich vom Krankenlager aufrichtete, machte er einen halben Schritt zurück und verbeugte sich noch einmal, tiefer, und wie es ihr schien, förmlicher.

»Ihr seid...?«

»Mein Name ist Ribauld von Melk«, sagte der Fremde, »und Ihr müsst das wunderschöne Christenmädchen sein, von dem ganz Hama spricht.«

»Ganz Hama?«, entfuhr es Robin überrascht.

Ribauld lächelte flüchtig. »Nun, vielleicht nicht ganz Hama, aber doch ungefähr die Hälfte seiner Bewohner. Die männliche.«

Robin fiel es schwer, bei diesen Worten ein Lächeln zu unterdrücken. Es war wunderbar, endlich wieder einem Menschen zu begegnen, von dem sie nicht beschimpft wurde.

»Tu deine Arbeit, Christ«, sagte Naida.

Ribauld warf der Sklavin nur einen raschen Blick aus den Augenwinkeln zu und konzentrierte sich dann wieder ganz auf Robin. »Ich sehe, was man von Eurer Schönheit erzählt, ist nicht übertrieben.«

»Aber Ihr seid nicht nur hierher gekommen, um mir Komplimente zu machen«, vermutete Robin.

»Eure Sklavin hat nach mir geschickt«, antwortete Ribauld. »Es hieß, Ihr brauchtet einen Medicus.«

»Seid Ihr denn ein Heilkundiger?«

»Ich genieße das Vertrauen Eures Herrn Omar, seit ich ihn in Damaskus von einem schweren Fieber geheilt habe, das niemand sonst zu besiegen vermochte.«

Das war zugleich eine Antwort wie auch nicht, aber Robin beschloss, es dabei bewenden zu lassen. Immerhin war dieser sonderbare Ribauld von Melk zumindest ein Landsmann, und so, wie sich Naida heute benommen hatte, konnte sie vermutlich froh sein, dass sie keinen tanzenden Derwisch hatte kommen lassen, der irgendwelche obskuren Rituale vollzog, die den Jungen von Dämonen befreien sollten. »Ihr habt Omar behandelt und seid noch am Leben?«, sagte sie. »Dann müsst Ihr gut sein.«

Ribauld lächelte knapp, aber Robin konnte spüren, dass sie weitere Scherze dieser Art nun besser vermied. Anscheinend war sie der Wahrheit näher gekommen, als sie ahnte.

Für einen Moment trat ein unbehagliches Schweigen ein, dann räusperte sich Ribauld, sah einen Herzschlag lang interessiert auf den fiebernd daliegenden Jungen hinab und fragte dann: »Was kann ich also für Euch tun?«

»Für mich nichts«, antwortete Robin. »Aber dieser Junge hier braucht Eure Hilfe. Er ist sehr krank.«

»Ich sehe es«, sagte Ribauld. Mehr nicht. Er stellte keine weitere Frage. Er tat auch nichts, um den Jungen genauer in Augenschein zu nehmen.

»Worauf wartet Ihr?«, erkundigte sich Robin.

Der Medicus machte ein zerknirschtes Gesicht und druckste einen Moment herum. »Entschuldigt, verehrte Dame, wenn ich mit einem so kleinmütig anmutenden Anliegen wie der Frage nach meiner Bezahlung beginne. Doch zahlreiche hungrige Nächte sind mir eine schmerzhafte Lehre dafür, wie schnell Kunstfertigkeit und Mühen des Heilers vergessen sind, geht es dem Kranken erst wieder besser.«

Robin nickte stumm. Sie sah nicht in Naidas Richtung, aber sie konnte die Blicke der alten Sklavin spüren, als wären sie eine Berührung, während sie auf den Ring an ihrem Finger starrte. Langsam führte sie die Hand zum Mund, berührte das kühle Gold zum letzten Mal mit den Lippen und dachte an Salim. Er würde es verstehen. Und er würde ihr verzeihen.

Schnell, fast hastig, als hätte sie Angst, es sich im allerletzten Moment doch noch einmal zu überlegen, streifte sie den Ring ab und hielt ihn Ribauld hin. Es war wie am Morgen, als sie den Ring schon einmal weggegeben hatte. Da hatte sie geglaubt, das Letzte zu verlieren, was sie noch mit ihrer Vergangenheit verband, und doch war es jetzt ganz anders. Jetzt wusste sie es.

Der Medicus nahm den Ring entgegen, sah sie dabei aber auf sonderbare Weise an, bevor er das kleine Schmuckstück in der Hand verbarg und einen Moment später in der Tasche verschwinden ließ. Er konnte nicht wissen, was ihr dieser Ring bedeutete, doch vielleicht ahnte er es. Bevor er an Robin vorbeiging und sich neben Rustans Lager in die Hocke sinken ließ, um den Jungen zu untersuchen, streifte er sie noch einmal mit einem kurzen, fast mitleidigen Blick. Naida zog die Augenbrauen zusammen, schüttelte den Kopf und wandte sich mit einem Ruck ab. Seltsamerweise wirkte sie zugleich erleichtert wie auch erschrocken.