Robin änderte ihre Meinung über den sonderbaren Medicus rasch, während sie ihm dabei zusah, wie er den Sklavenjungen untersuchte. Geschickt tastete er seinen Körper ab, hielt seine Handgelenke eine Weile und schien dabei mit geschlossenen Augen in sich hineinzulauschen, dann legte er dem Jungen die Hand auf die Stirn und hob mit dem Daumen seine Lider an, um die Augen zu untersuchen. Schließlich zwang er seinen Mund auseinander und roch daran. Als er sich nach einer Weile wieder aufrichtete, wirkte er ernst und angespannt, aber nicht wirklich besorgt.
»Wie steht es mit der Ernährung dieses Jungen? Seinem Stuhlgang, seinem allgemeinen Befinden?«
Robin hob die Schultern. »Das kann Naida besser beantworten, fürchte ich.«
Der Medicus wandte sich gar nicht erst zu der alten Sklavin um, sondern verzog nur die Lippen zu einer flüchtigen Grimasse. Offenbar hatte Robin seine Frage bereits hinlänglich beantwortet.
»Was fehlt ihm?«
»Nichts Ernstes«, erwiderte Ribauld. »Die Sklavenkrankheit, wie ich sie für mich nenne. Der Knabe leidet an den Strapazen der Reise und der Unterernährung, und er hat sich wohl ein leichtes Fieber gefangen, wodurch die Säfte seines Körpers ungleich erhitzt werden. Gebt ihm ausreichend zu essen, frisches Brot, Gemüse, vielleicht eine kräftige Fleischbrühe, und sorgt dafür, dass ihm mit kaltem Wasser angefeuchtete Tücher auf die Stirn gelegt und um die Waden gewickelt werden. Alles andere wird die Natur schon richten.«
»Und das ist wirklich alles?«, fragte Robin. Dafür hatte sie ihre Zukunft geopfert?
Ribauld wirkte leicht beleidigt. »Ihr könnt gerne einen anderen Medicus zurate ziehen, wenn Ihr mir nicht traut«, sagte er. »Aber auch der wird Euch nichts anderes sagen. Wenn es Euch beruhigt, dann kehre ich morgen Abend zurück, um mich von den Fortschritten bei der Heilung des Jungen zu überzeugen.« Er zuckte mit den Schultern, schien sich umwenden zu wollen, fuhr aber dann leiser und in versöhnlicherem Ton fort: »Ihr braucht Euch wirklich keine Sorgen um den Jungen zu machen. Er hat nichts, was einige gute Mahlzeiten und ein wenig Ruhe nicht wieder heilen könnten.«
»Ich danke Euch«, sagte Robin. »Das ist wirklich...«
»Das ist genug«, mischte sich Naida ein. »Ihr könnt jetzt gehen, Ribauld. Ich lasse nach Euch schicken, wenn wir Eure Hilfe noch einmal benötigen.«
Man sah Ribauld an, dass er Naida gerne etwas entgegnet hätte, aber Robin warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu, und der Medicus beließ es bei einem Achselzucken und einem enttäuschten Seufzen. Mit einer gestelzten Bewegung drehte er sich zu Naida herum, verbeugte sich steif und schritt dann mit schnellen Schritten davon.
»Nun, bist du zufrieden?«, fragte Naida verächtlich.
»Warum hast du ihn fortgeschickt?«, fragte Robin. Sie hätte gern noch ein paar Worte mit dem Heiler gewechselt, nicht nur um sich genauer über den Gesundheitszustand des Jungen zu vergewissern, sondern auch, weil ihr das kurze Gespräch vor Augen geführt hatte, wie schmerzlich sie ihre Muttersprache und irgendeine Kunde von ihrer Heimat vermisste. Aber sie drängte Naida nicht weiter. Die Alte war nicht in der Stimmung, Großmut zu zeigen.
»Geh auf dein Zimmer«, fuhr die Sklavin fort. »Es geziemt sich nicht, dass du mit fremden Männern sprichst. Schon gar nicht in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Morgen wird unser Herr zurückkehren. Er wird über dein Verhalten nicht erfreut sein, aber ich werde sehen, was ich tun kann, damit sich sein Zorn nicht nur auf dich entlädt.«
»Was ist mit den anderen Sklaven?«, fragte Robin. »Du hast gesagt, dass der Heiler sich auch um sie kümmern wird.«
»Er würde nichts anderes sagen als über diesen Jungen«, erwiderte Naida. Sie ergriff Robin unnötig grob am Arm und schob sie vor sich her ins Haus. »Etwas essen, etwas Ruhe, und sauberes Wasser, und sie werden wieder zu Kräften kommen. Zumindest die, die Allah nicht genug liebt, um sie schon jetzt zu sich zu rufen.«
Ungewohnter Lärm ließ Robin mitten in der Nacht aus dem Schlaf schrecken. Sie hatte noch lange wach gelegen und mit klopfendem Herzen die Decke über ihrem Gesicht angestarrt. In ihrem Inneren herrschte ein Chaos an Gefühlen, das es ihr fast unmöglich machte, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Sie war trotz allem froh, dem Jungen geholfen zu haben, aber sie hatte zugleich auch das Gefühl, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Mindestens bis Mitternacht hatte sie grübelnd wach gelegen, bis sie in einen unruhigen, von Albträumen geplagten Schlaf sank, der kaum länger als eine oder zwei Stunden gedauert haben konnte. Sie erwachte wieder mit klopfendem Herzen, in Schweiß gebadet und mit einem tauben Gefühl auf den Lippen. Im ersten Moment schienen all die Geräusche und die Aufregung, die vom Hof heraufdrangen, keinen Sinn zu ergeben. Erst nachdem sie sich aufgesetzt hatte und sich müde mit den Händen über das Gesicht fuhr, nahm sie Hufschlag, aufgeregte Rufe und schnelle Schritte wahr. Irgendetwas war geschehen.
Robin fuhr sich ein zweites Mal mit der Hand über die Augen, versuchte die Müdigkeit mit einem Kopfschütteln zu verscheuchen und stand unsicher auf, um schlaftrunken zum Fenster zu wanken. Sie kam gerade zurecht, um zu erkennen, wie zwei mit Fackeln ausgerüstete Sklaven den schweren Riegel zur Seite schoben und das Tor des Sklavenhofes öffneten. Keinen Moment zu früh. Ein ganz in Schwarz gekleideter Reiter auf einem ebenfalls schwarzen Ross sprengte herein, riss sein Tier im allerletzten Moment herum und ließ sich aus dem Sattel gleiten, noch bevor das Pferd ganz zum Stehen gekommen war. Der Mann, ein wahrer Riese, war über und über mit Staub bedeckt. Robin konnte das Gesicht im unstet flackernden Licht der Fackeln nicht richtig erkennen. Deutlich sah sie jedoch, dass es vor Schweiß glänzte, als wäre der Krieger das ganze Stück hierher gerannt und nicht geritten. Weißer Schaum troff von den Nüstern seines Pferdes, und die beiden Sklaven, die herbeieilten und das Tier einzufangen versuchten, hatten alle Mühe, es zu bändigen, ohne sich dabei einen Tritt einzufangen.
Der Riese mit dem schwarzen Turban machte einen unsicheren Schritt, wankte vor Erschöpfung und blieb stehen. Jetzt erst erkannte Robin ihn. Es war niemand anders als Faruk, der Krieger, der die letzten Tage vor ihrer Tür verbracht und sie auf Schritt und Tritt begleitet hatte.
Entschlossen, herauszufinden, was dort unten vor sich ging, trat sie vom Fenster zurück, nahm die Decke von ihrem Bett und schlang sie sich um die Schultern, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen, und ging zur Tür. Wie immer war sie verriegelt, aber sie musste nur zweimal dagegen klopfen, bis von außen geöffnet wurde und ihr das verschlafene Gesicht des Kriegers entgegenblinzelte, der seine Nachtwache draußen auf dem Flur verdöst hatte.
»Ich muss nach unten«, sagte Robin. »Naida wünscht mich zu sehen.«
Das war natürlich eine glatte Lüge, normalerweise jedoch reichte die bloße Erwähnung der alten Sklavin, um jeden Widerspruch der Wachen im Keim zu ersticken. Diesmal allerdings nicht. Der Krieger blinzelte sie nur verständnislos an. Im ersten Moment vermutete Robin, dass sie ihn tatsächlich geweckt hatte und er noch zu schlaftrunken war, um sie überhaupt zu verstehen, dann aber wurde ihr klar, dass sie in ihrer Aufregung nicht Arabisch sondern in ihrer Muttersprache geredet hatte. Sie wiederholte ihr Anliegen auf Arabisch, doch die Reaktion des Wachtpostens fiel auch diesmal anders aus, als sie gehofft hatte. Er schien tatsächlich ein oder zwei Sekunden lang über ihre Forderung nachzudenken, dann aber schüttelte er entschlossen den Kopf.
»Aber ich muss zu ihr!«, verlangte Robin.
Der Krieger wiederholte sein Kopfschütteln - und schlug ihr dann die Tür vor der Nase zu. Noch während Robin verdutzt die geschlossene Tür anstarrte, hörte sie, wie draußen der Riegel vorgelegt wurde.
Im ersten Moment war sie wie vor den Kopf geschlagen, dann aber begann sie, wütend mit den Fäusten gegen die Tür zu trommeln. »Aufmachen!«, befahl sie. »Was fällt dir ein? Ich muss zu Naida!«