Sie bekam keine Antwort, und das Geräusch des sich bewegenden Riegels, auf das sie wartete, blieb aus. Robin schlug noch zwei oder drei Mal mit der Faust gegen die Tür, versetzte ihr abschließend noch einen Tritt und kehrte dann wieder zum Fenster zurück. Der Mann hatte sie verstanden, daran bestand kein Zweifel. Aber anscheinend hatte er Befehl, sie unter keinen Umständen herauszulassen. Vielleicht hatte sie Naida doch nachdrücklicher verärgert, als ihr bisher klar gewesen war.
Die Szene unten auf dem Hof hatte sich verändert. Noch mehr Fackeln brannten und tauchten das gemauerte Geviert in helles, rotes Licht. Ein gutes Dutzend weiterer Sklaven sowie bewaffneter Krieger waren aus dem Haus getreten. Robin konnte keine Einzelheiten erkennen, aber es herrschte eine Stimmung allgemeiner, bedrohlicher Aufregung. Einmal hob ihr Leibwächter den Kopf und blickte direkt zu ihr herauf, und obwohl es im Zimmer dunkel und Robin somit sicher sein konnte, dass sie nicht zu erkennen war, hielt sie doch erschrocken den Atem an. Instinktiv trat sie einen halben Schritt zurück, bevor sie sich selbst in Gedanken eine ängstliche Närrin schalt und ihre ursprüngliche Position wieder einnahm.
In diesem Moment wurde die Tür unter ihr aufgerissen und Naida stürmte auf den Hof hinaus. Der schwarz gekleidete Krieger fuhr mit einer so zornigen Bewegung herum, dass Robin sich nicht gewundert hätte, wenn er sich im nächsten Moment auf die alte Sklavin gestürzt hätte, aber Naida ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern überschüttete ihn mit einem wahren Redeschwall. Robin konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber ihr schriller, fast hysterischer Tonfall verriet genug. Der Krieger antwortete, ebenso laut und ebenso unverständlich und gleichermaßen erregt, und für einen Moment konnte man die Spannung zwischen den beiden fast mit Händen greifen. Die übrigen Sklaven und Posten wichen erschrocken ein Stück zurück, sodass sich die beiden ungleichen Gegner gegenüberstanden wie zwei Gladiatoren in einer Arena, dann spie der schwarze Hüne ein einzelnes verächtliches Wort in Naidas Richtung. Die Alte antwortete, nicht mehr so laut und keifend wie zuvor, aber scharf, und diesmal konnte Robin verstehen, was sie sagte - zumindest die Worte, wenn auch nicht ihren Sinn: »Du Narr! Du tötest deinen Herrn durch diesen Verrat!«
Der schwarz gekleidete Hüne fuhr herum und hob die Hand, wie um Naida zu schlagen, und vielleicht hätte er es sogar getan, hätte nicht genau in diesem Moment das Geräusch dumpfer, trommelnder Hufschläge den Hof erreicht. Der Mann erstarrte mitten in der Bewegung und fuhr zum Tor herum. Das Hufgetrappel schwoll rasch an; was gerade noch ein entferntes Dröhnen war, wurde nun zum hallenden Echo zahlreicher beschlagener Pferdehufe, die durch die schmalen Gassen der nächtlichen Stadt hetzten. Robin sah überrascht und beunruhigt zugleich zum Himmel empor. Die Nacht war so klar wie fast alle Nächte in diesem Teil der Welt. Wenn sie den Stand des Mondes richtig deutete, dann musste es ungefähr zwei Stunden nach Mitternacht sein. Hama war eine Stadt, die niemals wirklich ganz zur Ruhe kam, und Rücksicht gehörte nicht unbedingt zu den vornehmsten Wesenszügen der Muselmanen - wenigstens nicht der, die sie bisher kennen gelernt hatte. Aber ein ganzer Trupp Reiter, der zu dieser Stunde mitten durch die Stadt jagte, gehörte auch hier nicht zum Alltag. Irgendetwas musste geschehen sein. Und sie hatte das Gefühl, dass es mit ihr zu tun hatte. Die wenigen Augenblicke, die vergingen, bevor der erste Reiter das Tor erreichte, dehnten sich zu einer Ewigkeit. Robins Herz klopfte und ihre Finger schlossen sich so fest um die marmorne Fensterbrüstung, dass es wehtat. Sie merkte es nicht einmal.
Schließlich ritt der erste Reiter in den Hof. Anders als Robins Leibwächter zügelte er sein Pferd in einen raschen Trab, ehe er es durch das Tor lenkte. Dann sprang er ebenso wie dieser aus dem Sattel, noch bevor das Tier völlig zum Stehen gekommen war. Auch er war staubbedeckt und von den Flanken seines Pferdes tropfte Schweiß. Dem ersten Reiter folgten in dichtem Abstand ein zweiter, dritter, vierter und schließlich ein fünfter, alles bewaffnete Männer mit schwarzen Turbanen, langen, wehenden Mänteln und den typischen Rundschilden muslimischer Krieger.
Schließlich, in kurzem Abstand gefolgt von einem weiteren halben Dutzend Bewaffneter, ritt Omar selbst auf den Hof. Der Sklavenhändler brachte sein Pferd mit einem brutalen Ruck am Zügel zum Stehen, stieg mit einer energischen Bewegung ab und drehte sich auf dem Absatz herum. Die fackeltragenden Sklaven bildeten ein Spalier vor ihm, aber er schien es gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sein Blick irrte über den Hof, blieb einen kurzen Moment an der Gestalt des hoch gewachsenen schwarzen Riesen haften, und wanderten dann weiter. Unwillkürlich zog Robin sich abermals einen halben Schritt weit vom Fenster zurück, sodass sie nun sicher sein konnte, von der Dunkelheit in ihrem Zimmer verborgen zu werden; im selben Moment legte Omar den Kopf in den Nacken und starrte zu ihr hoch. Es war kein flüchtiger Blick wie der des Kriegers zuvor. Er stand wohl eine halbe Minute da und starrte in ihre Richtung, und auch wenn es im Grunde völlig ausgeschlossen war, so war Robin, als bohrte sich der Blick seiner dunklen, mitleidlosen Augen direkt in ihre.
Es war einer der Sklaven, der den Bann brach. Er eilte auf seinen Herrn zu, eine Schale mit frischem Wasser in beiden Händen und ein sauberes Tuch über dem linken Arm. Omar riss sich von Robins Fenster los, starrte den Mann einen halben Herzschlag lang an - und versetzte ihm einen Hieb, der ihn zurücktaumeln und haltlos zu Boden stürzen ließ. Dann drehte er sich herum und ging mit großen Schritten auf Naida zu.
»Was hast du getan, du verfluchtes Weib?«, schrie er sie an.
Naida duckte sich unter seinen Worten wie unter einem Hieb, wich aber weder zurück, noch senkte sie den Blick. In ihrer Stimme schwang tiefe Angst mit, als sie antwortete, und dennoch war sie laut und fest. »Das einzig Richtige«, erwiderte sie. »Der Ring ist verflucht, Herr. Er wird großes Unglück über uns alle bringen. Ich habe es im Traum gesehen. Er wird unser aller Verderben sein. Was ich tat, tat ich, um Euch und Euer Haus zu schützen.«
»Verdammte Närrin!«, brüllte Omar. »Hat das Alter schon so sehr deine Sinne vernebelt, dass du dich von Träumen lenken lässt?«
»Es war nicht nur ein Traum, Herr«, beharrte Naida. »Allah hat mir eine Warnung geschickt, die...«
In diesem Augenblick schlug Omar zu. Es war kein Fausthieb, wie der, mit dem er den Sklaven niedergestreckt hatte, sondern ein Schlag mit dem Rücken der Linken, aber er war kräftig genug, um den Kopf der alten Frau in den Nacken zu schleudern und sie mit einem keuchenden Schrei rücklings zusammenbrechen zu lassen.
»Närrin!«, wiederholte Omar. »Bei Allah, ich habe dir vertraut, wie man sonst nur seiner Mutter traut! Ich habe dir alles gegeben, was du wolltest! Alle Freiheiten, die sich eine Sklavin nur erträumen kann! Wie konntest du dich nur so schamlos gegen mich wenden? Ich sollte dich auf der Stelle töten lassen!«
Er holte mit dem Fuß aus, wie um seine Drohung auf der Stelle in die Tat umzusetzen, dann besann er sich eines Besseren und trat mit einer unwirschen Geste zurück. Zornig deutete er auf Naida. Zwei der Männer aus seinem Gefolge eilten herbei und hoben die alte Sklavin auf. Naida war bei Bewusstsein, aber ihr Gesicht war blutüberströmt und sie konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr auf den Füßen halten. Als die Männer sie losließen, wäre sie gestürzt, hätten sie sie nicht sofort wieder aufgefangen.
»Bringt sie ins Haus!«, befahl Omar unwirsch. »Ich werde später entscheiden, wie ihre Strafe aussieht. Und jetzt bringt diesen verfluchten Christenhund zu mir!«
Die Reihe der sonderbaren, unheimlichen Ereignisse der Nacht setzte sich am nächsten Morgen fort. Überrascht stellte Robin fest, dass sie in dieser Nacht doch noch Schlaf gefunden hatte, der noch dazu einigermaßen erholsam gewesen war und weder von Albträumen noch schrecklichen Vorahnungen unterbrochen. Umso schlimmer empfand sie es, dass es wieder Lärm auf dem Hof war, der sie hochschrecken ließ - diesmal aber erst nach Sonnenaufgang.