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Sie widerstand der Verlockung, sofort aufzuspringen und zum Fenster zu eilen. Ihre Begeisterung über den freien Blick in den Hof hatte durch die Ereignisse der letzten Tage einen deutlichen Dämpfer erhalten. Anfangs hatte der Ausblick aus dem Fenster sie erfreut, vermittelte er ihr doch eine Illusion von Freiheit. Mittlerweile jedoch fürchtete sie sich beinahe davor, aus dem Fenster zu schauen.

Sie legte nur den halben Weg zum Fenster zurück, dann blieb sie mit klopfendem Herzen stehen und presste die linke Hand gegen die Brust - eine Bewegung, die sie in den zurückliegenden Tagen und Wochen so oft ausgeführt hatte, dass sie sich ihrer schon gar nicht mehr bewusst war.

An diesem Morgen war es anders. Der Mittelfinger ihrer linken Hand war leer, und die gleiche, schreckliche Leere schien in ihrer Brust zu herrschen. Salims Ring war nicht mehr da und wie so oft im Leben spürte sie erst jetzt, als er unwiederbringlich verloren war, wie unendlich viel er ihr bedeutet hatte. Gestern hatte sie noch geglaubt, darüber hinwegzukommen, das Verbindungsstück zu dem einzigen wichtigen Menschen auf dieser Welt, weggegeben zu haben. Aber es stimmte nicht. Die Erinnerung an diesen Menschen konnte sie sich nicht einfach aus dem Herzen reißen. Keine Logik und keine Vernunft kommen gegen dieses Gefühl an: Weil Liebe tausendmal schwerer wog als jedes Argument.

Das Geräusch des Türriegels riss sie aus ihren Gedanken. Robin ließ die Hand sinken und fuhr hastig herum, darauf gefasst, Naida zu sehen oder vielleicht auch Omar, der kam, um sie für ihre unverschämte Dreistigkeit zur Rechenschaft zu ziehen. Doch es waren nur die beiden Sklavinnen, die ihr Wasser zum Waschen, frische Kleider und ihre Morgenmahlzeit brachten.

Statt der schmutzstarrenden Fetzen, in die sie gekleidet war, brachten die beiden jungen Frauen ihr die seidenen Gewänder und den Gold- und Silberschmuck, an die sie sich im Laufe der wenigen zurückliegenden Tage schon so sehr gewöhnt hatte. Und statt eines Stücks harten Fladenbrotes luden sie frisches Gebäck, Honig, Obst und dünne Scheiben einer dunklen, scharf gewürzten Wurst auf den Tisch neben ihrem Bett ab.

Sofort bestürmte Robin die beiden mit Fragen nach Naida und zu den Ereignissen der vergangenen Nacht und wie üblich antworteten sie nicht. Seit Robin hierher gekommen war, hatte keine der beiden Frauen auch nur ein einziges Wort mit ihr gewechselt, obwohl sie sehr sicher war, dass sie sie verstanden. Wahrscheinlich hatte man ihnen verboten, mit ihr zu reden. Robin hatte die Schweigsamkeit der beiden Frauen bisher geachtet, vor allem, um sie nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Aber jetzt war die Situation eine andere. Sie musste unbedingt in Erfahrung bringen, was in der vergangenen Nacht geschehen war und vor allem, wie es Naida ging. Noch vor wenigen Tagen hatte sie geglaubt, die alte Sklavin ohne Skrupel und ohne das mindeste Zögern töten zu können, sollte dies nötig werden, aber plötzlich empfand sie ganz anders. Was Naida widerfahren war, war eindeutig Robins Schuld, und wenn die alte Frau nicht nur diesen einen Schlag, sondern eine womöglich sehr viel schlimmere Strafe zu gewärtigen hatte, dann wäre es für Robin genauso gewesen, als hätte sie diese Strafe mit eigener Hand ausgeführt.

Die beiden Frauen tauschten einen sonderbaren Blick und wandten sich dann ab, um das Zimmer wieder zu verlassen, aber Robin vertrat ihnen mit einem raschen Schritt den Weg.

»Ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat«, sagte sie auf Arabisch, langsam und so betont, dass die beiden sie einfach verstehen mussten.

Das taten sie auch. Robin las den Schrecken einer tief sitzenden Furcht in ihren Augen. Das stimmte sie allerdings nicht friedlicher, ganz im Gegenteiclass="underline" Eine Entschlossenheit und ein Zorn ergriffen von ihr Besitz, der zwar nicht diesen beiden Frauen galt, sich im Moment aber in Ermangelung eines anderen Zieles auf sie entlud. Als die beiden - wie auf ein gemeinsames Kommando hin - im selben Moment im Begriff waren, sie einfach zur Seite zu schieben, kam ihnen Robin zuvor; sie stieß ihrerseits eine der Frauen aus dem Zimmer und ergriff die andere blitzschnell am Oberarm. Ihr Griff war so fest, dass sich das Gesicht der jungen Frau vor Schmerz verzog.

»Rede!«, verlangte Robin.

Sie bekam keine Antwort, außer einem dünnen, schmerzerfüllten Wimmern. Sie hatte nicht das Recht, diese Frau, die eine Sklavin wie sie war und der es mit Sicherheit nicht annähernd so gut erging wie ihr, zu quälen. Das schlechte Gewissen, das sie Naida gegenüber empfand, wog jedoch mehr als der kleine Schmerz, den sie diesem Mädchen zufügte. Statt loszulassen, drückte sie noch fester zu. Die Sklavin versuchte sich loszureißen, aber Robin war stärker. Sie stieß die junge Frau grob vor sich her durchs Zimmer und aufs Bett. Dann war sie mit einer blitzartigen Bewegung über ihr und nagelte ihre Oberarme mit den Knien fest. Die Sklavin bäumte sich auf und versuchte, sie abzuschütteln. Robin versetzte ihr eine schallende Ohrfeige.

»Ich will dir nicht wehtun«, sagte sie und wurde sich im selben Augenblick des Zynismus ihrer Worte bewusst. »Aber du kommst hier nicht raus, bevor du mir nicht gesagt hast, was gestern Abend geschehen ist. Warum war Omar so wütend? Was hat er Naida angetan?«

Immer noch keine Antwort. Robin sah sich plötzlich als Gefangene ihrer eigenen Rolle. Sie wollte und konnte diese Frau nicht noch weiter quälen, auf der anderen Seite war sie aber schon zu weit gegangen, um jetzt einen Rückzieher zu machen und so zu tun, als wäre gar nichts geschehen. Drohend hob sie die Hand, wie um die junge Frau noch einmal zu schlagen. Dann aber besann sie sich anders, stand auf und riss sie grob in die Höhe. Dabei packte sie sie erneut am Oberarm und drückte mit den Fingern so fest wie möglich zu. Robin wusste aus eigener Erfahrung, wie sehr das schmerzte.

Doch auch diesmal erhielt sie keine Antwort. Die Sklavin krümmte sich, hob schützend die freie Hand vors Gesicht und begann zu weinen. Entsetzt darüber, wie sehr sie sich hatte gehen lassen, ließ Robin los und wich zwei Schritte weit zurück.

Sie hatte die beiden Frauen bislang kaum beachtet. Nie hatte sie ihre Stimmen gehört, und sie hatte nie wirklich auf ihre Münder geachtet; aber nun, als die Sklavin gekrümmt vor ihr stand, die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und lauthals schluchzte, hatte sie die Lippen geöffnet, und Robin erkannte voller Grauen, warum sie niemals auch nur eine einzige Silbe mit ihr gewechselt hatte.

Sie konnte es nicht.

Ihre Zunge war herausgeschnitten.

»Gott im Himmel«, flüsterte Robin. »Das... das wusste ich nicht!« Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie kam sich schäbig vor, gemein und durch und durch niederträchtig, und in diesem Moment hätte sie alles getan, um ihre Grausamkeit wieder rückgängig zu machen.

»Bitte verzeih mir«, sagte sie noch einmal. »Ich wusste nicht, dass... dass du nicht reden kannst. Wer hat dir das angetan?«

Natürlich bekam sie auch auf diese Frage keine Antwort, wie auch? Aber es war auch nicht nötig. Sie kannte die Antwort bereits.

»Omar«, sagte sie. »Dieses Ungeheuer! Aber warum?«

Die Sklavin hatte aufgehört zu schluchzen und richtete sich vorsichtig auf. Sie hielt sich die Hand noch immer schützend vor das Gesicht, als hätte sie Angst, dass Robin sie noch einmal schlagen würde.

Dann sah Robin, was sie mit ihrer ungestümen Kraft angerichtet hatte, mit Händen, die ein Jahr lang täglich ein Schwert geführt hatten. Nie zuvor war sie sich dessen so bewusst geworden wie in diesem Augenblick! Ihre Finger hatten deutlich sichtbare Striemen auf dem schmalen Gesicht der jungen Frau hinterlassen und die Haut an ihrem Arm hatte sich bereits blaurot verfärbt. Diese Prellung würde der Sklavin noch tagelang bei jeder Bewegung Schmerzen bereiten.